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01. Febr. 2009

Der Krieg in Gaza

An Meinungen fehlt es im Nahost-Konflikt nicht. Doch sind die auch begründet?

Kein Konflikt beschäftigt Politiker schon so lange, keiner lässt die Emotionen in der Öffentlichkeit so hochkochen, wie die Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern. An mehr oder minder guten Ratschlägen fehlt es selten. An dezidierten Meinungen ebenso wenig. Doch sind sie auch begründet?

» Kriege lösen grundsätzlich keine Probleme «

Falsch. Natürlich lösen Kriege zuweilen auch Probleme. Der Krieg der Alliierten gegen Deutschland beendete das Nazi-Problem in Europa. Die Briten holten sich so ihre Falkland-Inseln zurück. Der von den Arabern als „ehrenvolle Niederlage“ begriffene Yom-Kippur-Krieg machte den Weg frei für den Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten. Und wenn Israel den PLO-Chef Jassir Arafat nicht aus dem Libanon hinausgeschmissen hätte, hätte der sich nicht auf den Osloer Friedensprozess eingelassen – selbst wenn er am Ende seines Lebens wieder zum Terroristen mutierte.

Im Libanon-Krieg von 2006 hat Israel den Fehler gemacht, sich öffentlich zu ambitionierte Ziele zu setzen – und die Zerschlagung der Hisbollah nicht mit der dafür notwendigen Entschlossenheit betrieben zu haben. Aber selbst dieser Krieg hat dem Norden Israels immerhin zweieinhalb Jahre Ruhe beschert. Israel hat im Gaza-Krieg aus dem Libanon-Desaster gelernt, ist professioneller vorgegangen und hat von vornherein realistische Ziele definiert. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass der Krieg sein Ziel erreicht hat: den Raketenbeschuss auf den Süden Israels dauerhaft zu unterbinden. Da in 60 Jahren Konflikt bisher alle daran gescheitert sind, eine Friedenslösung herbeizuführen, muss man sich in Nahost zuweilen damit zufrieden geben, Zwischenziele zu erreichen, um die bestehenden Probleme besser managen zu können. Das zumindest könnte dem Gaza-Krieg gelungen sein. Die Hamas wird ihr Fernziel einer Vernichtung Israels wohl nie aufgeben. Aber auch Fundamentalisten stellen Kosten-Nutzen-Rechnungen an. Und die hat Israel deutlich verändert.

» Israels Antwort war nicht verhältnismäßig «

Verhältnismäßig wozu? Zu den mehr als 10 000 Raketen und Granaten, die seit 2001 gen Israel flogen, mehr als 6500 allein seit Israels Rückzug aus Gaza? Oder zur wohlbegründeten Erwartung, dass die Hamas in kurzer Zeit auch die Metropole Tel Aviv hätte bombardieren können und dies auch getan hätte, weil sie noch jede neue Rakete in ihrem Arsenal auch benutzt hat? Seit dem Libanon-Krieg hat sich in der deutschen Öffentlichkeit die simplizistische Vorstellung durchgesetzt, dass Verhältnismäßigkeit im Krieg eine Art mathematische Operation ist: So viele Opfer gegen so viele Opfer, wenn Israel mit 40 Raketen beschossen wird, darf es nicht mit 80 Luftangriffen antworten. Das ist völkerrechtlich absoluter Humbug. Der weltweit führende Moralphilosoph des gerechten Krieges, Michael Walzer, antwortet diesen Kritikern Israels im linken Dissent-Magazin so: „,Unverhältnismäßige‘“ Gewalt ist für sie einfach Gewalt, die sie nicht mögen, oder es ist Gewalt, ausgeübt von Leuten, die sie nicht mögen.“

Ein angegriffener Staat darf sich mit den Mitteln wehren, die nötig sind, um die Bedrohung für das eigene Territorium und die eigenen Bürger auszuschalten. Er muss dabei versuchen, Schaden von Zivilisten abzuwenden. Das versuchte Israel wohl auch. Allerdings wird der Schutz von Zivilisten durch mehrere Faktoren erschwert: Die Hamas kämpfte, wie sie selbst zugibt, in der Mitte von Wohngebieten, wo sie Waffenlager und Kommandozentralen eingerichtetet hat. Sie nimmt die Bevölkerung als Schutzschild.  Zudem hat  die Hamas im dicht besiedelten Gazastreifen keinerlei Schutzvorkehrungen für palästinensische Zivilisten getroffen. Ganz im Gegenteil scheint sie es darauf anzulegen, dass die Bilder getöteter Zivilisten den militärischen Handlungsspielraum der Israelis eingrenzen. Israels Dilemma ist also, dass die Schläge nicht hart genug sind, um den auch während der Militäraktion unverändert andauernden Raketenhagel auf israelische Bürger zu unterbinden, aber zu hart, um von weiten Teilen der öffentlichen Meinung im Westen noch akzeptiert zu werden. Wer Israel aber mit dem Argument der Verhältnismäßigkeit das Recht abspricht, militärisch effektiv gegen Angriffe auf sein Territorium vorzugehen, der belohnt Akteure, die von vornherein außerhalb der Grenzen des Kriegsvölkerrechts agieren, und bestraft Staaten, die gewillt sind, sich an die Regeln des ius in bellum zu halten. Das Völkerrecht würde so mutieren von einem Recht, das Staaten schützen soll, zu einem Recht, dass illegale Kombattanten schützt, wenn diese nur ruchlos genug sind, eine ganze Bevölkerung zur Geisel ihres Kampfes zu machen.

Gerade den Europäern muss man in dieser Frage ein kurzes Gedächtnis vorwerfen. Im Kosovo-Krieg kamen laut einem Bericht von Human Rights Watch etwa 500 Zivilisten (andere Schätzungen liegen weit höher) um und „nur“ 169 Soldaten der exjugoslawischen Armee, die als Ziel viel leichter zu identifizieren war als die nicht in Uniform kämpfende Hamas, die auch über keine von Zivileinrichtungen separierten Militäreinrichtungen verfügt. Um einen Kämpfer zu treffen, tötete die NATO also etwa drei Zivilisten. Nach allen bisher vorliegenden Daten über das Verhältnis von der Zahl der Ziviltoten zur Zahl der getöteten Hamas-Kämpfer war die israelische Militäraktion in Gaza weit präziser bei der Vermeidung ziviler Opfer als der NATO-Krieg im Kosovo. Aber Krieg ist immer furchtbar und grausam. Das ist der Grund, warum die Hamas ihn nie hätte beginnen sollen.

» Der Krieg der Bilder ist für Israel nicht zu gewinnen «

Stimmt, aber woran liegt das eigentlich? Auch daran, dass die Bilder von leidenden Zivilisten von denen, die sie verbreiten, oft nicht ausreichend mit Kontext versehen werden. Am deutlichsten betreibt das zum Beispiel die BBC, die stets davon redet, der Krieg habe am 27. Dezember mit der israelischen Selbstverteidigung begonnen – als habe es vorher nicht massenhaften Raketenbeschuss der Hamas auf Israel gegeben und als habe die Hamas die von Israel vorgeschlagene Verlängerung des Waffenstillstands nicht verweigert. Herfried Münkler, Politologe und Experte für asymmetrische Kriege, schrieb schon über den Libanon-Krieg: „Im Kern lief die Bebilderung des Konflikts auf die Gegenüberstellung martialischer Soldaten und ,unschuldiger Zivilisten‘ hinaus.“ Bilder von Hisbollah-Kämpfern suchte man vergebens. Das ist auch jetzt wieder der Fall, weil die Hamas von Hisbollah gelernt hat und Journalisten mit dem Leben bedroht, die ihre Kämpfer in Aktion filmen oder fotografieren wollen.

Medien sind ein wichtiger Teil der Kriegsstrategie der Hamas. Die hat keine Luftabwehr, rechnet aber damit, dass die Empörung, die die Bilder weltweit verursachen, sie davor schützt, von Israels Armee gänzlich besiegt zu werden. Auch Israels Armee weiß, dass sie den Krieg der Bilder nicht gewinnen kann. Obwohl es, anders als im Libanon, im begrenzten Gaza-Streifen durchaus denkbar wäre, die Hamas vernichtend zu schlagen und von der Macht zu vertreiben, ist sich Israel der Grenzen bewusst, die dem Staat durch die veröffentlichte Meinung gesetzt sind. Die Medien tragen also mit dazu bei, dass die Hamas nicht fürchten muss, für die eigenen Angriffe in letzter Konsequenz zur Rechenschaft gezogen zu werden.

» Israel hätte Gaza nicht blockieren dürfen «

Im Prinzip, ja. Aber für die Blockade Gazas gilt abgewandelt das, was Churchill über die Demokratie gesagt hat: Sie ist die schlechteste aller Lösungen, abgesehen von all den anderen Alternativen. Hamas’ Position nach der Machtübernahme von 2007  war: Die Grenzen sollen offen sein, wir behalten uns aber vor, weiter gegen den jüdischen Staat zu kämpfen. Will heißen: Gaza und Hamas sollen in den Genuss freien Waren und vielleicht auch Personenverkehrs kommen, und die Israelis müssen eben hinnehmen, wenn das gleichzeitig bedeutet, dass Hamas Selbstmordattentäter nach Israel schickt und israelische Grenzpolizisten der Gefahr ausgesetzt sind, von den Militanten angegriffen zu werden. Eine offensichtlich absurde Position. Zumal die Hamas selbst in Zeiten gelockerten Grenzregimes Raketen auf Israel abschießen ließ.

Nach ihrem Wahlsieg war die Hamas von der internationalen Gemeinschaft vor eine klare Wahl gestellt worden: Wenn sie als Partner in einem Friedensprozess anerkannt werden will und die Wohltaten einstreichen möchte, die damit einhergehen, dann muss sie ihrer Vernichtungsideologie abschwören und den Minimalkonsens der Osloer Verträge anerkennen, die ja Grundlage für die Existenz einer Autonomiebehörde sind. Das hat die Hamas abgelehnt, um ideologisch „rein“ zu bleiben. Man kann aber nicht beides haben: den Kuchen essen und ihn behalten. Es ist also die Schuld der Hamas, wenn die Grenzen geschlossen bleiben – übrigens auch nach Ägypten, weil die Hamas es ablehnt, dass der Grenzübergang von der Fatah und einer EU-Beobachtertruppe kontrolliert wird.

Es gibt keinen Grund, die Hamas für ihre unbeugsame Haltung zu belohnen. Natürlich leiden die Palästinenser unter der gegenwärtigen Situation. Aber warum sollte sich eine israelische Regierung mehr um das Wohlergehen der Menschen in Gaza sorgen als deren eigene Führung – und dafür auch noch die eigenen Bürger in Gefahr bringen?

» Der Krieg stärkt nur die Radikalen in der Region «

Falsch. Selten in letzter Zeit haben die Radikalen in der Region so schwach ausgesehen wie in diesem Krieg. Der Iran, inzwischen wichtigster Sponsor der Hamas, hat tatenlos zugesehen, wie sein Klient, den er in den letzten Jahren trainiert und mit moderneren Waffen ausgerüstet hat, von den Israelis zerlegt wurde. Auch Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah hat sehr laut gebrüllt, aber nicht mehr getan, als palästinensischen Extremisten zu erlauben, ein paar gesichtswahrende Raketen nach Nordisrael zu schicken. Die Extremisten in der Region prahlten seit dem Libanon-Krieg, Israel sei nur noch ein Papiertiger und die verweichlichte israelische Demokratie sei dem Untergang geweiht. Das hat Israel eindrücklich widerlegt.

Der Fehler Ariel Scharons war es, beim Verlassen des Gaza-Streifens im Jahr 2005 keine Vereinbarung mit der Palästinensischen Autonomiebehörde getroffen zu haben. So konnte die Hamas Israels Abzug als einen Sieg ihrer Gewalt feiern. Seitdem müssen sich die moderaten Kräfte um Fatah-Präsident Mahmud Abbas immer wieder vorwerfen lassen, ihre Verhandlungsstrategie habe den Palästinensern im Gegensatz zur Terrorstrategie der Hamas nichts eingebracht. Israel hat nun gezeigt, dass Terror nicht funktioniert und dass man dafür einen sehr hohen Preis bezahlt.

Viele Kommentatoren haben in den Kriegswochen immer wieder die „Wut“ der arabischen Straße als Beleg dafür angeführt, dass Israels Vorgehen dem Extremismus Vorschub leiste. Tatsächlich wird die arabische Kritik an der Hamas immer lauter, je näher die Menschen an der Hölle von Gaza leben. So fanden sich erstaunlich viele Bewohner von Gaza, die gegenüber internationalen Journalisten die Hamas für ihre Lage verantwortlich machen. Viele ließen sich sogar mit Klarnamen zitieren, obwohl sie wissen, dass ihnen unter den Bedingungen der „Angstgesellschaft“ von Gaza dafür Repressalien drohen, sie vielleicht gar um Leben und Gesundheit fürchten müssen. Auch in der Westbank blieb die Lage erstaunlich ruhig. Manche Demonstrationen mussten gar aus Mangel an Teilnehmern abgesagt werden. Nach dem Wirtschaftswachstum der letzten Jahre haben die Menschen dort wieder etwas zu verlieren, und Gaza steht ihnen als warnendes Beispiel vor Augen, wohin Extremisten eine ganze Gesellschaft führen können.

Die ungewöhnlich harsche Kritik in Ägypten, Saudi-Arabien und von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas an der Hamas zeigt, dass sich der Nahe Osten längst nicht mehr nach den alten Trennlinien aufteilen lässt – hier die Israelis, dort die anderen. Heute steht ein extremistisches Lager – bestehend aus Iran, Syrien, Hisbollah und Hamas – einem moderaten Lager gegenüber, das weiß, dass der Nahost-Konflikt einvernehmlich gelöst werden muss. Wir erleben also seit geraumer Zeit eine „Umkehrung der Allianzen“, die unterhalb der von Al-Dschasira und anderen arabischen Satellitensendern aufgeputschten Oberfläche stattfindet.

Letztlich stärkt Israels Vorgehen die Friedensformel „Land gegen Frieden“. Weil es den Palästinensern erneut klar macht, dass sie einen eigenen Staat und Wohlstand nur erreichen werden, wenn sie politische Kompromisse eingehen und wenn sie bereit sind, in Frieden mit einem jüdischen Staat als Nachbar zu leben. Dazu kommt: Nur wenn Israels Regierung die Abschreckungsmacht seiner Armee wiederherstellt, kann sie die eigenen Bürger davon überzeugen, noch einmal das Wagnis einer Gebietsaufgabe auch in der West Bank einzugehen. Denn die bisherigen Erfahrungen mit dem, was weltweit als einzige Friedensformel gepriesen wird, sind mehr als ernüchternd. Israel hat sich aus dem Libanon komplett zurückgezogen und auch aus dem Gaza-Streifen. Beide Male haben die Israelis nur erneute Angriffe auf das eigene Territorium geerntet. Die Empirie spricht bisher also eindeutig gegen die Formel „Land gegen Frieden“. Die Grenze zu Gaza mit „overwhelming force“ zu beruhigen, ist die letzte Chance für ein Friedenskonzept, das im israelisch-palästinensischen Konflikt noch keinen Test bestanden hat.

CLEMENS WERGIN hat in Hamburg Islamwissenschaft und Geschichte des Nahen Ostens studiert. Er leitet das Ressort Außenpolitik der Welt-Gruppe.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2009, S.56 - 61.

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