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01. Mai 2006

Der kranke Mann Europas

Diagnose und Therapie der deutschen Krankheit

Die deutsche Krankheit besteht in der strukturellen Arbeitslosigkeit der wenig qualifizierten
Menschen. Die staatlichen Lohnersatzleistungen haben dazu geführt, dass gerade diese Personengruppe
kaum noch Arbeit findet. Nur wenn hier, aber auch auf anderen Gebieten die notwendigen
Reformen entschlossen und sachgerecht durchgesetzt werden, so Hans-Werner Sinn,
der Präsident des Münchner ifo Instituts, besteht die Aussicht, dass Deutschland wegkommen
kann vom Platz des Schlusslichts unter den OECD-Ländern.

Was ist nur geschehen? Mut und Fortune scheinen Deutschland
verlassen zu haben. Die Wirtschaft stagniert, die
Hiobsbotschaften häufen sich. Monat für Monat gibt es
neue Pleitenrekorde, viele Unternehmen stecken in einer
schweren Krise, die Arbeitslosigkeit nimmt immer bedrohlichere
Ausmaße an, und dennoch drängen die Armen der Welt
in unser Land. Ein europäischer Nachbar nach dem anderen

ziehtbeim Pro-Kopf-Einkommen an uns vorbei. Deutschland ist
der kranke Mann Europas, ist nur noch Schlusslicht beim
Wachstum, außerstande, mit seinen Nachbarn mitzuhalten.
War da nicht einmal ein Wirtschaftswunder? Das muss lange her
sein. Wunder gibt es heute anderswo.

Der Tanz auf dem Vulkan aber geht weiter. Beim Tourismus
bleiben die Deutschen Weltmeister, und ihre Kreuzfahrtschiffe
durchpflügen die Ozeane trotziger denn je. Das
Rentensystem wird verteidigt, obwohl Kinder, die es finanzieren
könnten, fehlen. Die jungen Leute haben den Kinderwagen
gegen den Zweitwagen eingetauscht. Verliebt sein und vom
Glück träumen will jeder, doch Kinder kommen in den
Träumen immer seltener vor. Die Rente kommt vom Staat, und
der Strom kommt aus der Steckdose.

Die Regierung beginnt nun zaghaft mit ersten Reformen des
Sozialsystems, aber sie wird aus den eigenen Reihen gebremst,
weil die meisten Bürger die Notwendigkeit drastischer
sozialer Reformen nicht sehen. Eine Regierung kann sich immer
nur so weit vorwagen, wie die Wähler es verstehen. Sie
kann nicht darüber hinwegsehen, dass etwa 40 Prozent der
Wähler ihr hauptsächliches Einkommen als
Sozialleistung der einen oder anderen Form vom Staat bekommen
und dass die Steuerzahler in der Minderheit sind. Sie kann
soziale Einschnitte nur wagen, wenn sie den Bürgern klar
machen kann, dass sonst das ganze Gemeinwesen absackt und dass
selbst die scheinbar vom Sozialstaat begünstigten Personen
zu den Verlierern gehören werden.

Hier soll versucht werden, zu dieser Einsicht beizutragen
und klarzumachen, warum die Reformen noch sehr viel weiter
gehen müssen als das, was bislang angedacht ist, wenn
Deutschlands Volkswirtschaft eine Zukunft haben soll.

Das zentrale Problem der deutschen Volkswirtschaft ist die
Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit bedeutet nicht nur einen
Verlust an Sozialprodukt, sondern ist ein sozialer Sprengsatz,
der, wenn er erst einmal gezündet wird, größten
Schaden anrichten kann.

Die heutige Arbeitslosigkeit hat sich im Laufe der letzten
30 Jahre allmählich aufgebaut. Sie zeugt von einem
schleichenden Strukturproblem, nicht von einer plötzlichen
Krise. Im Jahr 1970 hatte Deutschland nur 150 000 Arbeitslose.
Im Jahr 2003 gab es 4,4 Millionen, und in diesem Jahr werden es
4,5 Millionen sein. Das sind nur die offiziellen Zahlen.
Rechnet man die Frührentner und die stille Reserve der
Arbeitswilligen hinzu, die sich aus Frust schon gar nicht mehr
arbeitslos melden, kommt man in erweiterter Definition auf gut
und gerne 7,4 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Viel
Arbeitslosigkeit wurde in der Vergangenheit in
Frühverrentungsmodellen, ABM-Maßnahmen und sonst wo
versteckt, aber vom Verstecken der Arbeitslosigkeit wird die
Volkswirtschaft nicht gesunden.

Die Zunahme der Arbeitslosigkeit ist offenbar kein
Konjunkturproblem. Selbst wenn wir in nächster Zeit einen
Superboom mit einer hohen Auslastung des Produktionspotenzials
bekämen, hätten wir nach offizieller Rechnung immer
noch etwa vier Millionen Arbeitslose in Deutschland.

Das Schlusslicht

Wer nicht arbeitet, erzeugt kein Sozialprodukt und verdient
kein Geld. Die Volkswirtschaft wächst nicht mehr, und die
Nachfrage nach den Produkten des Unternehmenssektors bleibt
gering.

Die deutsche Volkswirtschaft ist seit 1995 real nur noch um
10% gewachsen. Das ist der niedrigste Wert unter allen
europäischen Staaten. Im Durchschnitt wuchs die Wirtschaft
der Europäischen Union in der gleichen Zeitspanne um 18%.
Frankreich wuchs mit fast demselben Tempo, nämlich mit
19%, und Großbritannien wuchs gar um 22%. Deutschland ist
das Schlusslicht unter allen europäischen
Ländern.

Der neue SPD-Parteivorsitzende Franz Müntefering hat
Deutschlands Schlusslichtposition mit der Bemerkung bestritten,
dass die deutsche Wachstumsrate deshalb so niedrig sei, weil
wir bereits da seien, wo die anderen erst noch hinwollen.
Europa sei in einem Konvergenzprozess begriffen, bei dem die
armen Länder schneller wüchsen als die reichen. Da
wir reich sind, sei es verständlich, dass die anderen,
noch im Aufholprozess befindlichen Länder schneller
wachsen als wir. Das ist eine schöne Theorie. Aber nicht
alle schönen Theorien stimmen. Als Margaret Thatcher 1979
gewählt wurde, war Großbritanniens
Pro-Kopf-Einkommen nur halb so groß wie das deutsche. In
den achtziger Jahren krempelte sie das Land um, und in den
neunziger Jahren kam dann der Aufschwung. Die Arbeitslosigkeit
ging zurück, und das Wirtschaftswachstum beschleunigte
sich so dramatisch, dass das Land im Jahr 2000 sogar
Deutschland überholte.

Nun könnte man denken, dies läge einfach daran,
dass die neuen Bundesländer mit ihrer nur geringen
Produktivität unseren Durchschnitt rechnerisch nach unten
ziehen. Aber auch das stimmt nicht. Großbritannien hat
sogar Westdeutschland überholt. Andere Länder sind
noch nicht ganz so weit, doch den deutschen Durchschnitt
übertreffen viele. So knallten im Jahr 2002 die Sektkorken
im Elysée-Palast, als klar wurde, dass man Deutschland
in diesem Jahr noch überholen würde. Frankreich hat
zwar auch seine Probleme, aber es wächst schneller als
unser Land und wird sich in den kommenden Jahren immer weiter
von uns entfernen.

Auch eine Reihe kleinerer Länder hat uns in den letzten
Jahren überholt. Dazu gehören zum Beispiel Finnland,
die Niederlande, Österreich und vor allem Irland, der
europäische Shootingstar, vor 30 Jahren noch das Armenhaus
Europas. Besonders muss uns irritieren, dass die
Österreicher nun an uns vorbeigezogen sind, denn lange
hatten wir uns angewöhnt, auf die Nachbarn im Süden,
die mit ihrem Austro-Sozialismus ganz offenkundig nicht
zurechtkamen, herabzuschauen. Nun haben die Österreicher
ihren ideologischen Ballast abgeschüttelt und schauen von
ihren hohen Bergen mitleidsvoll auf uns herab.

Das alles ist ziemlich blamabel und gesellt sich zu anderen
Hiobsbotschaften. Im Jahr 2002 haben wir mit 3,6%
Neuverschuldung die Maastricht-Latte gerissen und uns zum
Gespött der Länder Europas gemacht. 2003 ging das und
2004 geht das so weiter. Die finanziellen Zugeständnisse
im EU-Haushalt, die wir den stabileren Ländern Europas
werden anbieten müssen, um die vorgesehene Vertragsstrafe
von etwa 15 Milliarden Euro zu vermeiden, werden nicht kleiner
sein als die Strafe selbst. Die lange erstrebte Verringerung
der deutschen Nettozahlungen können wir in den Wind
schreiben.

Die Zahl der Wirtschaftspleiten hat in den letzten Jahren
mit beängstigender Geschwindigkeit zugenommen. Wir haben
heute allein schon in Westdeutschland drei Mal so viele
Konkurse wie vor zehn Jahren und fünf Mal so viele wie vor
25 Jahren. Die Zahl der Konkurse im Mittelstand wächst
derzeit trotz der besser werdenden Konjunkturdaten noch
exponentiell an. Die großen deutschen Banken wurden davon
empfindlich getroffen, weil sie erhebliche Teile ihrer Kredite
abschreiben mussten. Eine drastische Herabstufung durch die
internationalen Rating-Agenturen war die bittere Folge. Die
besten Adressen befinden sich heute nicht mehr in
Deutschland.

Die neuen Bundesländer machen auch keine Freude. Seit
1997 wachsen sie langsamer als die alten. Die Lücke
zwischen Ost und West wird prozentual größer statt
kleiner. Es kann keine Rede davon sein, dass
zusammenwächst, was zusammengehört. Von einem sich
selbst tragenden Aufschwung keine Spur.

Zwar wächst die Industrie nach dem Kahlschlag durch die
Treuhandanstalt prozentual schneller als im Westen, aber was da
wächst, ist ein winziges Pflänzlein. Der Anteil der
Industriebeschäftigten an allen privat Beschäftigten
liegt in den neuen Ländern bei nur 15%, was weniger als
die Hälfte des Wertes für die alten Länder ist.
Die neuen Länder liegen noch nicht einmal auf dem Niveau
des italienischen Mezzogiorno, wo 19% gemessen werden.

Die neuen Länder sind in Wahrheit eine
deindustrialisierte Zone, die am Tropf des Westens hängt.
Pro Jahr fließen schätzungsweise immer noch 85
Milliarden Euro über die öffentlichen Kassen in die
neuen Länder, sei es in Form von Arbeitslosengeldern und
Renten, sei es über den Länderfinanzausgleich oder
durch Ausgaben des Bundes, die den neuen Ländern zu Gute
kommen. Der Verbrauch an Gütern und Leistungen durch den
Staat, die Investoren und die privaten Haushalte
übersteigt die eigene Erzeugung um etwa 45%.

Das hat es in ähnlicher Größenordnung noch
nie irgendwo in der Geschichte der Menschheit gegeben. Jeder
dritte Euro, der in den neuen Ländern ausgegeben wird,
kommt aus dem Westen. Von ihm sind 75 Cent geschenkt und 25
Cent geliehen. Das ist eine Entwicklung, die nicht mehr als
nachhaltig bezeichnet werden kann, um ein neudeutsches Wort zu
verwenden.

Bislang haben wir die Kosten der neuen Länder fast
vollständig durch eine Zunahme der Staatsverschuldung
gedeckt. So betrugen die Kosten der Transfers in die neuen
Länder von der Wiedervereinigung bis zum Ende des letzten
Jahres circa 850 Milliarden Euro, und die Staatsschuld wuchs in
der gleichen Zeit um etwa 770 Milliarden Euro. Der Fortsetzung
dieser Politik ist aber wegen des europäischen
Stabilitäts- und Wachstumspakts ein Riegel
vorgeschoben.

Seit dem Jahr 2002 liegt die erlaubte Nettoneuverschuldung
unter den laufenden Zinsen für die aufgeblähte
Staatsschuld. Die Zinslasten betrugen in diesem Jahr 68
Milliarden Euro, die tatsächliche Neuverschuldung lag bei
76 Milliarden Euro, doch erlaubt war nur eine Neuverschuldung
in Höhe von 63 Milliarden.

Wir sind heute schon die zukünftigen Generationen, die
beim Schuldenthema immer beschworen werden. Wir müssen die
kreditfinanzierten Sozialleistungen bezahlen, die die
sozialliberale Koalition in den siebziger Jahren unter das Volk
gebracht hat, und zusätzlich müssen wir für die
kreditfinanzierten Sozialtransfers im Zuge der deutschen
Vereinigung aufkommen. Eine weitere Lastenverschiebung in die
Zukunft ist nicht mehr möglich. Die Zeche muss von nun an
immer gleich beim Verzehr bezahlt werden.

Man denke nur an Pisa. Deutschland belegt bei den Sprach-
und Mathematiktests der 15-Jährigen unter allen
OECD-Ländern nicht einmal einen Mittelplatz. Weit
abgeschlagen blamiert sich das Land der Dichter und Denker auch
in einem Bereich, der früher einmal seine Domäne war
und in dem ein gut Teil seines Selbstverständnisses
begründet ist.

Zu allem gesellen sich die demographischen Probleme. Die
Deutschen haben kaum noch Kinder; 100 deutsche Frauen bringen
nur noch 135 Kinder zur Welt. 100 französische Frauen
bringen demgegenüber 190 Kinder zur Welt. Etwa 40% der
deutschen Akademikerinnen haben überhaupt keine Kinder
mehr.

Die Deutschen altern deswegen schneller als fast alle
anderen Völker. In 30 Jahren werden wir doppelt so viele
Alte relativ zu den Jungen haben wie heute. Unser Land
vergreist. Die Innovationskraft lässt nach, die
Unternehmer sterben aus, und die Rentenversicherung kommt in
die Krise. Wenn wir den Beitragssatz und den prozentualen
Bundeszuschuss konstant halten, fällt das Rentenniveau bis
zum Jahr 2035 auf etwa die Hälfte des heutigen Wertes. Die
meisten Renten werden dann unter der Sozialhilfe liegen. Auch
durch eine Erhöhung des Rentenalters wird man daran nicht
allzu viel ändern können. Altersarmut und Notstand
sind programmiert.

Basar-Ökonomie

Die akute Gefährdung der Volkswirtschaft unseres Landes
wird manchmal mit dem Hinweis auf die im letzten Jahr recht
hohen deutschen Exportwerte in der internationalen
Zahlungsbilanzstatistik heruntergespielt. Aber die Statistiken
täuschen, denn sie nehmen keine Rücksicht darauf,
welcher Anteil der Exporterlöse auf eine
Wertschöpfung in Deutschland zurückzuführen ist.
Der von Deutschland exportierte Audi, dessen Motor aus Ungarn
kommt, wird zu 100% dem deutschen Export zugerechnet.

Dies führt zu einem wichtigen Thema, dem so genannten
Outsourcing der Produktion nach Osteuropa, also der Verlagerung
arbeitsintensiver Teile der Vorproduktkette. Diese Verlagerung
wird durch die extrem niedrigen Löhne in diesen
Ländern induziert, die in den neuen EU-Ländern Polen,
der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn in der
Größenordnung von einem Sechstel der unsrigen liegen
und in Rumänien und Bulgarien gar nur ein Siebzehntel
ausmachen.

Was Asien für die deutsche Großindustrie war, als
sie den deutschen Lohnkosten auswich, ist Osteuropa für
den Mittelstand. Die geographischen und kulturellen
Abstände zu uns sind klein genug, um das Engagement im
Osten zu überschaubaren Rüstkosten wagen zu
können. Wer in dem immer schärfer werdenden
Wettbewerb auf den Weltmärkten überleben will, muss
heute die arbeitsintensiven Teile der Vorproduktkette in
Niedriglohnländer verlagern, und das tun die deutschen
Firmen in zunehmendem Maße.

In Deutschland wird zwar noch die Endmontage der
Industrieprodukte durchgeführt, aber der Anteil der
Wertschöpfung, der in unserem Lande anfällt, also der
Anteil der Löhne und Kapitaleinkommen am Wert der
Fertigwaren, der auf Deutschland entfällt, wird immer
kleiner. Deutschland entwickelt sich allmählich in die
Richtung einer Basar-Ökonomie, die die Weltmärkte mit
den Waren bedient, die wir in unserem osteuropäischen
Hinterland produzieren lassen.

Zugegeben, der Begriff der Basar-Ökonomie ist eine
Karikatur, aber er ist eine Karikatur, die der Wirklichkeit
schneller näher kommt, als viele es glauben wollen. Ein
Blick auf die Statistik ist hier nützlich. Sie zeigt, dass
etwa von 1995 an eine umfassende Entkoppelung von
Industrieproduktion und realer Wertschöpfung stattgefunden
hat, während sich beide Werte vorher ziemlich parallel
entwickelten. So stieg die reale Industrieproduktion seit dem
ersten Quartal 1995 bis zum ersten Quartal dieses Jahres um
15%, doch die reale Wertschöpfung in der deutschen
Industrie nahm nur um 5% zu. Offenbar entfiel der
Löwenanteil des industriellen Produktionswachstums, das
unsere Statistiken verzeichnen, auf die Zunahme der
ausländischen Vorleistungen, die von der Industrie
eingekauft wurden. Es passt in dieses Bild, dass die
Industriebeschäftigung im gleichen Zeitraum um 10%
fiel.

Durch das Outsourcing bleiben die deutschen Firmen
wettbewerbsfähig. Sie können ihre Weltmarktpositionen
einigermaßen verteidigen. Was dabei jedoch nicht
wettbewerbsfähig bleibt, sind die deutschen
Arbeitsplätze. Sie werden mit hohem Tempo abgebaut. Die
deutschen Firmen bleiben wettbewerbsfähig, und der
deutsche Export bleibt stark, doch die deutschen Arbeitnehmer
haben ihre Wettbewerbsfähigkeit bereits verloren. 4,5
Millionen Deutsche sind arbeitslos. 4,5 Millionen Deutsche sind
nicht mehr wettbewerbsfähig.

Teurer – und besser?

Ob man wettbewerbsfähig ist, hängt davon ab, wie
gut man ist und wie teuer man ist. Das gilt für eine Firma
genauso wie für einen Menschen, der seine Arbeitskraft
anbietet. Ob wir noch sehr viel besser als unsere Wettbewerber
sind, kann man nach Pisa bezweifeln. Auf jeden Fall sind wir
aber sehr viel teurer. Deutschland hat mit der Ausnahme von
Norwegen heute die höchsten Stundenlohnkosten für
Industriearbeiter auf der ganzen Welt. Selbst die anderen
skandinavischen Länder und die USA haben deutlich
niedrigere Lohnkosten. Und Norwegen kann sich den Verlust der
Wettbewerbsfähigkeit bei der Industrieproduktion leisten,
weil es vom Verkauf seiner Bodenschätze lebt. Das Land
kann für uns kein Maßstab sein.

Wenn es den Euro nicht gegeben hätte, der Deutschland
seines Zinsvorteils gegenüber den anderen Ländern
beraubt hat; wenn es den europäischen Binnenmarkt nicht
gegeben hätte, der uns den Vorteil der Größe
des eigenen Marktes genommen hat; wenn es die Globalisierung
mit der Niedriglohnkonkurrenz aus Fernost nicht gegeben
hätte; wenn der Eiserne Vorhang nicht gefallen wäre,
der uns in Osteuropa unmittelbar vor der eigenen Haustür
eine neue Niedriglohnkonkurrenz beschert hat … ja, wenn
das Wörtchen „wenn“ nicht wäre, dann
hätten wir die höchsten Stundenlohnkosten auf der
Welt vermutlich verteidigen können und wir bräuchten
keine Abstriche an unserem Wohlfahrtsstaat vorzunehmen. Aber
diese Spekulation ist müßig. Die Welt hat sich nun
einmal in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch
verändert, und das müssen wir so hinnehmen, wie es
ist. Da hilft kein Lamentieren, sondern nur ein beherztes
Reagieren.

Wir stehen heute wieder in einer ähnlichen Situation
wie zur Zeit Bismarcks, vor 120 Jahren, als Deutschland die
großen Sozialreformen durchführte, die dann von
vielen Ländern nachgemacht wurden. Deutschland hat den
Sozialstaat weiter entwickelt als andere Länder, und es
spürt seine Rückwirkungen heftiger als sie. Es ist
heute an der Zeit, den Sozialstaat nachzujustieren, um ihn an
die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
anzupassen. Wenn wir beherzt vorgehen, wird unser Gemeinwesen
wieder gesunden. Wenn wir uns aufraffen, die Reformen jetzt
durchzusetzen, wird Wachstum und Wohlstand in dieses Land
zurückkehren.

Mehr Geld für Bildung

Was muss geschehen? Sicher, wir müssen besser werden.
Eine Bildungsoffensive muss nun endlich kommen. Es geht nicht
an, dass wir anteilig zum Sozialprodukt noch nicht einmal so
viel Geld für die öffentliche Bildung ausgeben wie
die USA und deutlich unter dem OECD-Durchschnitt liegen. Es
geht nicht an, dass wir mit unseren Halbtagsschulen die
Möglichkeit vergeben, wertvolles Humankapital zu bilden,
obwohl die ganze Welt Ganztagsschulen hat. Es geht nicht an,
dass wir die Schüler bereits im Alter von zehn Jahren
sortieren und damit viele Talente übersehen, die in den
unteren Bevölkerungsschichten schlummern. Es geht nicht
an, dass unsere Hochschulen als bürokratische
Einrichtungen, die ihr Geld nur vom Staat bekommen, am
gegenseitigen Wettbewerb gehindert werden.

Hier muss viel passieren, aber so energisch wir die
notwendigen Reformen auch in Angriff nehmen: Bis neu
ausgebildete Schüler- und Studentengenerationen in
nennenswerter Zahl auf den Arbeitsmärkten in Erscheinung
treten, werden mindestens zwei Jahrzehnte vergehen. Bis dahin
wird die deutsche Volkswirtschaft in die Knie gegangen sein,
wenn wir nicht zugleich billiger werden.

Keine „DDR-light“

Billiger zu werden, ist nicht angenehm, denn was die
Arbeitsplätze in Deutschland teuer macht, sind unser
eigener Lohn und das Transfereinkommen, das wir, finanziert aus
den Sozialabgaben, vom Staat erhalten. Aber dennoch müssen
wir uns bewegen.

Billiger können wir werden, wenn die Steuern und
Sozialabgaben fallen. Dazu muss der Sozialstaat
zurückgeschraubt werden. Es ist ein Unding, wenn der Staat
von der Summe aller Bruttoeinkommen, die in Deutschland
verdient werden, bereits mehr als die Hälfte, nämlich
genau 57%, für seine Zwecke absorbiert. Wenn wir auf einer
Skala, die von null bis hundert reicht, null als die reine
Marktwirtschaft und hundert als den reinen Kommunismus
bezeichnen, stehen wir in Deutschland dem Kommunismus offenbar
schon näher als der Marktwirtschaft.
„DDR-light“ hat Arnulf Baring dazu gesagt.

Der Vergleich muss erschrecken, denn er entspricht nicht
unserem Selbstverständnis. Mit dem Kommunismus wollen wir
ja nun wirklich nichts mehr zu tun haben. Aber die Zahl stimmt
nun einmal: 57% sind mehr als die Hälfte. Wenn diese Zahl
nicht zur Staatsräson passt, dann sollte man entweder
ehrlich sein und die Staatsräson ändern, oder man
sollte die Staatsräson behalten und die Zahl ändern,
was im Zweifel der bessere Weg wäre.

Natürlich müssen wir dabei auch andere Ausgaben
des Staates zurücknehmen, vor allem die Subventionen, die
in der Marktwirtschaft eigentlich gar nichts zu suchen haben.
Die Kohlesubventionen sind teurer, als wenn wir die Kumpel
ganzjährig in einem Hotel auf Mallorca unterbringen. Die
Agrarsubventionen haben unsere landwirtschaftlichen Betriebe zu
stinkenden Agrarfabriken gemacht, die die Landschaft
verschandeln. Und mit den steuerlichen
Abschreibungsvergünstigungen für Investitionen in die
Filmindustrie Hollywoods haben wir der deutschen Filmindustrie
das Leben schwerer gemacht. Die Liste des Unsinns lässt
sich beliebig verlängern.

Die deutsche Krankheit

Aber die bloßen Kostensenkungen beim Staat reichen
nicht. Wir müssen den Sozialstaat auch so reformieren,
dass er besser mit der privaten Wirtschaft harmoniert. Selbst
dann, wenn der Sozialstaat vom lieben Gott bezahlt würde
statt durch die Sozialabgaben und Steuern der Bürger,
würde er nämlich Arbeitslosigkeit erzeugen. Der
einfache Grund ist, dass der Sozialstaat sein Geld als
Lohnersatz zur Verfügung stellt. Ob wir an das
Arbeitslosengeld, die Arbeitslosenhilfe, die Sozialhilfe oder
Frühverrentungsmodelle denken – immer fließt
das staatliche Geld genau dann, wenn man nicht arbeitet, und
hört in dem Maße auf zu fließen, wie man es
tut.

Der Sozialstaat gebärdet sich wie ein Konkurrent der
privaten Wirtschaft auf den Arbeitsmärkten, der die
Lohnansprüche hochtreibt, indem er ansprechende
Ersatzeinkommen für das Nichtstun anbietet. Zwischen der
Hochlohnkonkurrenz des Sozialstaates zu Hause und der
Niedriglohnkonkurrenz auf den Absatzmärkten der Welt wird
die deutsche Wirtschaft allmählich zerrieben. Das ist der
eigentliche Grund für die deutsche Misere.

Besonders problematisch ist in dieser Hinsicht die
Sozialhilfe, denn sie zieht eine Lohnuntergrenze in die
Tarifstruktur ein, die alle Tariflöhne, wie die Falten im
Balg einer Ziehharmonika, von unten her hochdrückt, umso
mehr, je niedriger die Qualifikationsstufe ist. Die Sozialhilfe
ist in den 30 Jahren von 1970 bis 2000 um 450% gestiegen,
während der Industriearbeiterlohn, der im internationalen
Vergleich selbst bereits ungewöhnlich rasch zunahm, um
350% stieg. Wegen der Niedriglohnkonkurrenz auf den
Absatzmärkten hätte sich die Lohnskala in dieser Zeit
eigentlich nach unten hin weiter öffnen müssen, um
Arbeitslosigkeit zu vermeiden, doch die Sozialhilfe hat diese
Skala stattdessen immer weiter zusammengestaucht.

Dies ist der Grund dafür, dass sich die
Arbeitslosigkeit unter den gering Qualifizierten konzentriert.
40% der offiziell Arbeitslosen haben keinen Berufsabschluss und
keine höhere Schulbildung, und in einem weiteren Sinne
sind sogar weit über die Hälfte der Arbeitslosen als
gering qualifiziert anzusehen. Wenn man die Arbeit der gering
Qualifizierten durch die Lohnkonkurrenz des Staates
künstlich verteuert, ist die Arbeitslosigkeit
unausweichlich.

Manchmal wird gesagt, die Arbeitslosigkeit der gering
Qualifizierten sei quasi naturgesetzlich, als Folge des
technischen Fortschritts über uns hereingebrochen und
hätte deshalb die einfache Arbeit vernichtet. Diese These
ist falsch, weil sie nicht berücksichtigt, dass die
Rationalisierungsentscheidungen der Unternehmen von der
Lohnhöhe abhängen. Roboter werden nur dann
eingesetzt, wenn sie billiger als die menschliche Arbeit
sind.

Wenn die These vom exogenen technischen Fortschritt richtig
wäre, hätte sich die Arbeitslosigkeit unter den
gering Qualifizierten auch in den anderen entwickelten
Ländern so erhöhen müssen wie in Deutschland.
Das aber ist nicht der Fall. Wir sind, was wenig bekannt ist,
in der OECD-Statistik Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit
unter den gering Qualifizierten. Die Arbeitslosigkeit der
gering Qualifizierten ist die eigentliche Krankheit unseres
Landes, und sie hat ihre Ursache ganz sicherlich im
Lohnersatzsystem des Sozialstaats.

Agenda 2010

Die Agenda 2010 der Bundesregierung ist ein an sich
richtiger Schritt. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ist
die Grundvoraussetzung dafür, dass die Anspruchslöhne
der Arbeitslosen fallen und dass zu niedrigeren Löhnen
wieder mehr Stellen geschaffen werden können.

Das Problem ist jedoch die Regelung, dass die
Niedriglöhne nicht unter das ortsübliche
Vergleichsniveau fallen können. Sie war von den SPD-Linken
in letzter Minute in das Gesetzeswerk eingefügt worden. Zu
den ortsüblichen Vergleichslöhnen hat es schon in der
Vergangenheit nicht genug Stellen gegeben. Daran wird sich in
der Zukunft nichts ändern. Mehr Beschäftigung gibt es
nur, wenn die Löhne fallen. Die Politik will dies
„um den Deibel“ nicht wahrhaben. Dennoch führt
an dieser einfachen Wahrheit kein Weg vorbei.

Die Bundesregierung setzt auf die Veränderung der
Zumutbarkeitsregeln für den weiteren Bezug von
Lohnersatzeinkommen. Arbeitslosengeld und Sozialhilfe werden
gekürzt, wenn man den Abstieg in eine niedrigere Lohnstufe
nicht akzeptiert. Der Manager wird Sachbearbeiter, und der
Sachbearbeiter geht in die Poststelle. Alle Arbeitslosen werden
gezwungen, abzusteigen, aber weil die Löhne in jeder
Hierarchiestufe fixiert sind, wird es nirgends mehr Jobs geben.
Stattdessen findet eine weitere Verdrängung der gering
Qualifizierten statt. Die Arbeitslosigkeit konzentriert sich
noch stärker auf den untersten Stufen der Leiter, als das
ohnehin schon der Fall ist. Ich hoffe, dass dieser Unsinn vom
Bundesrat gekippt wird. Das Modell des Bundesrats ist hier
eindeutig die bessere Alternative. Ein Glück, dass wir ein
föderales System haben, das die Regierungsvorschläge
korrigiert.

Wenngleich der Umbau des Sozialstaats vom Rivalen zum
Partner der privaten Wirtschaft bei weitem die wichtigste
Reform ist, die die deutschen Arbeitnehmer brauchen, um
mittelfristig wieder wettbewerbsfähig zu werden, so ist
die Liste der notwendigen Reformen in unserem Land damit noch
nicht erschöpft. Es gehören dazu weiterhin die
verzögerte Integration von Zuwanderern in das
Sozialsystem, eine Änderung des Tarifrechts, eine
Erhöhung der Arbeitszeit, eine Steuerreform und eine
fundamentale Erneuerung des Rentensystems.

Die Therapie

Deutschlands Wirtschaft bleibt vielleicht
wettbewerbsfähig, weil sie zu einer Basar-Ökonomie
mutiert, die die Waren, die sie in die Welt exportiert, in
ihrem osteuropäischen Hinterland produzieren lassen kann.
Aber die deutschen Arbeitsplätze verlieren ihre
Wettbewerbsfähigkeit; etwa 4,5 Millionen Deutsche sind
heute schon nicht mehr wettbewerbsfähig.

–  Die Arbeitslosigkeit konzentriert sich in
einem Maße bei den gering Qualifizierten, wie es in
keinem anderen entwickelten Land zu beobachten ist. Dies ist
die deutsche Krankheit. Um die Krankheit zu heilen, muss der
Sozialstaat sich vom Rivalen zum Partner der privaten
Wirtschaft entwickeln. Lohnergänzung statt Lohnersatz ist
die Devise für den neuen Sozialstaat. Damit wird die zur
Vermeidung von Arbeitslosigkeit notwendige
Lohnflexibilität geschaffen.

–  Die Kartellmacht der Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände muss beschnitten werden. Die Betriebe
müssen das Recht erhalten, sich durch untertarifliche
Lohnsenkungen vor dem Konkurs zu retten, und zwar auch dann,
wenn die in den Verbänden organisierten Konkurrenten das
nicht gutheißen.

–  Die Rentenversicherung muss aufgestockt
werden, weil sie angesichts der wachsenden Zahl der Alten keine
auskömmliche Renten mehr sichert. Kinderlose müssen
zum Riester-Sparen verpflichtet werden, und Eltern müssen
eine Kinderrente erhalten, die den zu erwartenden Rückgang
des Rentenniveaus auffängt. Dann werden die
natürlichen Anreize, Kinder in die Welt zu setzen, die die
alte Rentenversicherung vertrieben hat, wieder
gestärkt.

Das ist meine Analyse und mein Programm. Es ist das Programm
eines Wissenschaftlers, der keiner Partei angehört und der
auch nicht gewählt werden will, sondern der nur den
Versuch unternommen hat, seine Gedanken und Einschätzungen
zum ökonomischen Zustand seines Vaterlands darzulegen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 25-34

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