Der irrelevante Kontinent
Warum die Amerikaner wenig von den Europäern halten - und was Europa dagegen tun kann
Die Bush-Regierung hat ihre Verachtung für die traditionellen Alliierten sehr weit getrieben. Diese Politik hat sich als kontraproduktiv erwiesen. Amerika, das sich lange Zeit das Engagement seiner Alliierten wünschte, hat letztlich die zurückgewiesen, deren Hilfe es bedarf. Aber es wäre seitens der Europäer gleichermaßen unehrlich und kontraproduktiv, sich lediglich auf die Rolle des unschuldigen und ohnmächtigen Zuschauers zurückzuziehen.
Es ist unbestreitbar: Was auch immer Amerika macht, hat Einfluss auf Europa, während das Gegenteil nicht der Fall ist. Die Europäer diskutieren ein Jahr lang ohne Unterlass die Wahlen auf der anderen Seite des Atlantiks, die Amerikaner ignorieren einfach die wechselhaften Ereignisse in der Europäischen Union. Keiner der Kandidaten – weder für das Repräsentantenhaus, noch für den Senat, noch für das Präsidentenamt – der vergangenen Wahl am 2. November hat zum Beispiel auch nur ein einziges Mal die Europäische Union erwähnt. Sicherlich resultiert dies zum Teil aus Ignoranz und Provinzialismus. Aber als Erklärung kann es nicht ausreichen. Die EU ist ein Nichtthema, sie ist in den Augen der Amerikaner „irrelevant“. Ist die Blindheit der Amerikaner der einzige Grund dafür? Oder sind nicht vielleicht auch die Europäer dafür verantwortlich?
Man kann das geringe Gewicht, das Europa in der politischen Sphäre der Vereinigten Staaten besitzt, einfach nur beklagen. Aber sollte man sich nicht eher fragen, warum es so weit gekommen ist? Gewiss, die Antworten sind schnell bei der Hand: die Geringschätzung der Regierung Bush gegenüber Alliierten und internationalen Organisationen, die unilaterale Tendenz, der Nationalismus, die Arroganz – das alles ist wahr, und es hat die Zusammenarbeit nicht erleichtert. Aber Europa irrt, wenn es sich für einen unschuldigen Beobachter hält, der allein von den Entscheidungen des Riesen abhängt.
Wann hat Europa zum letzten Mal die Initiative in einer wichtigen außenpolitischen Frage ergriffen? Warum wartet es immer, bis Amerika sagt, wo es lang geht, den Weg frei macht und den Europäern das Rückgrat stärkt? Das ist vielleicht nicht das Bild, das Europa von sich selbst hat. Aber es ist immer hilfreich, wenn man einmal zu verstehen versucht, wie man vom anderen wahrgenommen wird und warum sich der andere ein solches Bild von einem macht. Welcher Politiker, sei es der Rechten oder der Linken, sei es in Frankreich oder in Deutschland, hat das Problem je auf diese Weise zur Sprache gebracht? Natürlich hilft ihnen dabei auch niemand, weder die Medien noch die Intellektuellen, die Amerika weitgehend einstimmig verurteilen. Das gilt für Frankreich noch mehr als für andere europäische Länder, denn Frankreich hat verordnet, dass Zweifel an der eigenen Politik und Selbstkritik überflüssig sind. Die französischen Medien sind eintönig, weil sie die immer gleichen Botschaften der Selbstgewissheit wiederholen müssen.
Aber man muss auch sagen, dass sich in Deutschland in jüngster Zeit etwas verändert hat. Es gibt zwar noch zahlreiche Atlantiker in diesem Land, und sie werden auch nicht wie in Frankreich ausgegrenzt. Aber Deutschland versucht nun verstärkt, sich aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu lösen, wie Kanzler Schröder wiederholt erklärt hat. Man bewundert sogar ein wenig die französische Kühnheit. Joschka Fischer sagte mir kürzlich: „Frankreich ist das einzige Land in Europa, das eine Strategie hat.“ Man kann allerdings fragen, ob ein Handlungsmuster, das sich aufs Reagieren beschränkt, schon eine Strategie zu nennen ist. Deutschland bewundert eindeutig die Fähigkeit Frankreichs, klar seinen Weg zu gehen – selbst wenn dieser Weg nirgendwohin führt und nicht von Erfolg gekrönt ist.
Deutschland hat offensichtlich Gefallen daran gefunden, eine internationale Rolle zu spielen. Aber man merkt auch, dass es diese Rolle nicht mehr gewohnt ist. Wie kann man denn einen Sitz im UN-Sicherheitsrat wollen und gleichzeitig alles dafür tun, das Missfallen der Vereinigten Staaten zu erregen? Warum hat man sich dann nicht nur dem Krieg im Irak verweigert? Warum hat man auch noch versucht, enge Beziehungen mit China oder Russland zu knüpfen und so Amerika zwangsläufig misstrauisch zu machen? Und wie kann Amerika auf ein Europa, dessen deutsch-französischer Motor stottert, als verlässlichen Verbündeten zählen?
In Deutschland gibt es wenigstens eine Debatte über die amerikanische Politik und die transatlantischen Beziehungen. In Frankreich hingegen gibt es viele Meinungen und kaum Analysen, die Debatte ist völlig losgelöst von einer tiefer gehenden Auseinandersetzung mit den Problemen. Die öffentliche Diskussion wird dominiert von dem, was Tocqueville „ein wenig emphatisch“ als den „französischen Geist“ bezeichnete. Verstehen heißt bekanntlich nicht verzeihen, es heißt vielmehr aufklären. Welchen Erkenntniswert bringt es, sich unhinterfragt nur die eigene Meinung bestätigen zu lassen? Marc Bloch, einer der freiesten französischen Geister des 20. Jahrhunderts, sprach von der „Faulheit zu wissen“, die Frankreich in der Vergangenheit so geschadet habe. Unglücklicherweise hat sich diese Faulheit nun weiter auf dem europäischen Kontinent ausgebreitet.
Die Regierung Bush folgt wie alle Regierungen vor ihr den Grundregeln der internationalen Politik, die nichts zu tun haben mit Höflichkeit oder Freundschaft. Sie versteht drei Dinge: Nützlichkeit, Effizienz und Macht. Die Vereinigten Staaten nehmen Europa als Verbündeten wahr, aber als einen Verbündeten, der Amerika nicht unterstützen will. Das ist Europas gutes Recht, aber dann sollte man sich nicht gleichzeitig unfähig zeigen, selbst einmal die Initiative außerhalb Europas zu ergreifen. Natürlich liegen die Dinge niemals so einfach, aber man muss diese Wahrnehmung in den Vereinigten Staaten verstehen.
Was bedeutet das? Europa ist für die USA zu einem beinahe isolationistischen Gebilde geworden. In den Vereinigten Staaten sieht man, dass die Europäer aus ihrem Kontinent ein Reich des Wohlstands und des Friedens gemacht haben. Das ist eine in der Geschichte völlig neue Situation, beispiellos auf der Welt. In den Augen Washingtons ist damit jedoch ebenfalls die Unfähigkeit der Europäer verbunden, notfalls auch ohne die Initiative der Vereinigten Staaten aus militärischen oder humanitären Gründen zu intervenieren. Diese Unfähigkeit ist wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, dass Europa in Washington an Einfluss verloren hat. Zumindest ist diese Wahrnehmung weit verbreitet, und sie bezieht sich längst nicht nur auf den Widerstand der europäischen Gesellschaften gegen den Krieg im Irak.
Der Widerstand gegen den Irak-Krieg hat lediglich schärfer hervortreten lassen, was das Kernproblem in den europäisch-amerikanischen Beziehungen ist. Für die Amerikaner ist die Situation ziemlich klar: Die Europäer sind „unnütz“. Sie zögern immer wieder zu handeln. Und sie stellen sich in immer schärferer Weise den Vereinigten Staaten entgegen. Es handelt sich nicht mehr um verschiedene Meinungen unter Verbündeten, sondern zunehmend um offenen Widerstand. Wie die Haltung Deutschlands oder Frankreichs während der Krise und des Krieges im Irak zeigte, zögert man nicht mehr, sich unter die Feinde Amerikas einzureihen. Das gilt besonders für Frankreich. Ob diese Haltung allerdings effizient ist, steht auf einem anderen Blatt. Die militärischen Fähigkeiten der Europäer sind begrenzt. Vor allem ist ihre Risikobereitschaft so gering, dass man kaum erwarten kann, sie würden irgendwann die Initiative ergreifen, sofern sie nicht selbst direkt betroffen sind.
Muss man es erneut betonen? Diese Sichtweise ist vereinfachend, aber so sieht es nun einmal die politische Klasse in den USA, und das wird sich auch bei einem Regierungswechsel nicht ändern. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben die amerikanische Politik in dieser Hinsicht nur noch bestärkt. Sie mussten erleben, dass die Europäer sogar auf dem Balkan – einem Teil Europas – die Initiative der Amerikaner nötig hatten. Was haben die Europäer getan, um den Völkermord in Ruanda zu verhindern? Haben sie versucht, die UN rechtzeitig dazu zu bringen, etwa eine Million Leben in diesem Land zu retten? Was haben sie für Darfur getan? Die Amerikaner hören immer nur dann in ohrenbetäubender Lautstärke die Stimme Europas, wenn es darum geht, die Vereinigten Staaten und Israel zu kritisieren.
In Amerika kommt es nicht gut an, dass viele europäische Staaten ausschließlich auf den israelisch-palästinensischen Konflikt fokussiert sind und darüber das viele andere Unrecht in der Welt (Darfur, Tschetschenien, Tibet usw.) mehr oder weniger vernachlässigen. Das erweckt den Eindruck der Einseitigkeit. Es zweifelt doch niemand daran, dass der israelisch-palästinensische Konflikt gelöst werden muss. Aber Europa hätte in anderen Zusammenhängen intervenieren können, wo es notwendig und möglich gewesen wäre. So hätte man die Vereinigten Staaten ergänzt und entlastet.
Sogar im Mittleren Osten hätte Europa kraftvoller zum Friedensprozess beitragen können, wenn es die Aufgabe der Vereinigten Staaten übernommen und die „road map“ in die Praxis umgesetzt hätte. Die USA haben sich in dieser Angelegenheit verantwortungslos verhalten. Nachdem sie gemeinsam mit Russland und den Europäern die Initiative ergriffen hatten, haben sie sich einfach zurückgezogen und ihre Hände in Unschuld gewaschen. Aber was haben die Europäer getan? Sie haben schlicht die Realität ignoriert und weiterhin ihre theoretischen Diskurse verbreitet, statt sich der Sache anzunehmen und so ihrer mangelnden Legitimität abzuhelfen. Die Europäer sind scheinbar nicht in der Lage, zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts etwas Entscheidendes beizusteuern. Amerika wurde wieder einmal darin bestätigt, dass die Europäer nichts ausrichten können – ihnen fehlt die Effizienz, und sie sind unfähig, selbst wenn sie einmal die tragende Rolle spielen könnten, die Initiative zu ergreifen.
Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht in Europa sind die Amerikaner nicht feindlich zur Europäischen Union eingestellt. Das wäre noch ziemlich schmeichelhaft für die Europäer. In Wirklichkeit ist die Situation viel schlimmer. Amerika betrachtet die EU nicht als Feind – Amerika misst Europa überhaupt keine Bedeutung bei, aus den dargelegten Gründen. Hinzu kommt, dass Amerikas ausgeprägter Sinn für Realismus es ihm unmöglich macht, an die Stärke Europas zu glauben. Eine Macht, die aus 25 nach wie vor weitgehend souveränen Staaten zusammengesetzt ist, kann in amerikanischen Augen nicht vereint und effizient agieren. Europa muss darum zeigen, dass es existiert, dass es fähig ist, ein bestimmtes Maß an Verantwortung zu übernehmen, und dass es eine gleichwertige Macht ist, zwar nicht auf dem Niveau der Vereinigten Staaten, aber doch im Besitz einer Stimme, die es im internationalen Konzert zu Gehör bringen kann. Europa könnte so als ein Partner erscheinen, auf den man zählen und den man respektieren kann.
Widerspruch ist mir sicher. Man wird mir entgegen halten, dass die Europäer viel öfter die Initiative ergreifen, als die USA ihnen zubilligen. Man wird die Ukraine und den Irak anführen. Das alles ist richtig. Die Frage ist jedoch, ob diese Initiativen nur die Ausnahme darstellen oder ob sie ein neues Modell sind, dem Europa künftig folgen wird. Natürlich ist es noch zu früh für eine Antwort, aber für den Augenblick haben die Vereinigten Staaten noch keine Schlüsse aus dieser Lage gezogen.
Aber nehmen wir einmal an, Europa wäre wirklich eines Tages imstande, in einigen Regionen die Ordnungsrolle der Vereinigten Staaten zu spielen. Was dann? Wie würde die Supermacht darauf reagieren? Meiner Ansicht nach befindet sich Amerika dann in der paradoxen Situation, etwas nur so lange sehnlich herbeigewünscht zu haben, bis man es bekommt. Denn für die Amerikaner heißt Kooperation, dass die USA trotzdem so handeln, wie sie wollen, ihnen dabei aber Lasten abgenommen werden. Das wird nicht offen eingestanden, aber so sieht die Wirklichkeit in Washington aus.
Wie sehen Europas Chancen aus? Immer wieder stellt man die Frage nach der gemeinsamen Zukunft von Europa und Amerika. Aber eine andere Frage wäre sinnvoller: Was will Europa tun? Warum wartet Europa immer auf Zeichen von den Vereinigten Staaten? Warum unternimmt es nichts, um diese Beziehung zu verbessern? Warum diese Passivität? Warum immer nur eine Politik des Reagierens? Bis jetzt scheint sich die Außenpolitik Europas – besonders die Frankreichs – darauf zu beschränken, (oftmals feindlich) auf die amerikanische Politik zu reagieren. Die Vereinigten Staaten messen Europa keine Bedeutung zu, weil Europa sich selbst nicht genügend Bedeutung zumisst.
Eine Hoffnung bleibt. Die Wiederwahl Bushs könnte einen positiven Effekt auf die Schaffung der Strukturen für eine gemeinsame europäische Politik haben. Es könnte die Gelegenheit sein, der Union in der Außenpolitik endlich eine Stimme zu geben. Sie könnte dann mit einer Kraft sprechen, die jedes einzelne Land für sich allein niemals haben könnte. Europa braucht eine gemeinsame Außenpolitik, der sich alle Mitglieder unterordnen. Es gibt keinen anderen Weg für Europa, um für die Vereinigten Staaten Geltung und Gewicht zu haben und um die atlantische Allianz wieder zu beleben.
Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 64 - 67.