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28. Febr. 2014

„Der Hybrid ist das Modell der Zukunft“

Es gibt keinen „reinen“ islamischen Staat – er braucht Elemente der Moderne

Die Errichtung eines „islamischen Staates“ ist eine der zentralen Forderungen des politischen Islam. Nur haben es dessen Denker versäumt, tiefer über fundamentale Fragen wie Religion und Staat oder die Rechte des Individuums nachzudenken. Will der politische Islam Probleme der modernen Welt lösen, muss er aber Anleihen bei der westlichen Moderne nehmen.

IP: Der Iran ist das bislang einzige islamische Land, in dem es eine islamische ­Revolution gab. Warum aber sahen auch Islamisten eher die Türkei als Vorbild?

Shaul Bakash: Der Großteil der arabischen Welt ist sunnitisch, der Iran hingegen schiitisch, es gibt eine lange Tradition persisch-arabischer Rivalität und das iranisch-schiitische Modell passt nicht zum sunnitischen. Im Iran wird die Rolle des Klerus als rechtmäßige Erben des Propheten festgeschrieben. Dieses Konzept hat in der arabischen Welt nie große Resonanz gefunden.

IP: Ist der Iran nicht eigentlich ein Hybrid? Neben – oder unter – den vom Klerus besetzten Institutionen gibt es ja das „republikanische System“ mit Parlament, Präsidentenamt und einer Gesellschaft, die immer wieder für Überraschungen sorgt.

Bakash: Das ist richtig und ganz offensichtlich gibt es gar kein eindeutiges Modell eines islamischen Staates. Natürlich ist der Iran in vielerlei Hinsicht „islamisch“. Es gibt den Obersten Führer, der von Geistlichen gewählt wird, und einen Rat, der darüber bestimmt, welche Gesetze im Einklang mit den Gesetzen des Islam sind. Aber es enthält viele Elemente, die eigentlich zur westlich geprägten politischen Moderne gehören. Als die Revolutionäre an die Macht kamen, behielten sie einige der politischen Strukturen der Schahzeit wie die Ministerien, Planungsorganisationen oder das Bankensystem.

IP: Die islamische Revolution war also eine genuine Gegenantwort auf die westliche Moderne, aber sie hat Elemente genau dieser Moderne in ihr angeblich ganz „eigenes“ Staatsmodell integriert?

Bakash: Nicht nur einige, sondern sehr viele. Islamische Denker neigen dazu, beim Thema „islamischer Staat“ auf einige der fundamentalen islamischen Gesetze zu rekurrieren wie Strafen für bestimmte Vergehen, ein Verbot von Alkohol oder die Frage der Stellung der Frauen in der Gesellschaft. Das hat aber nichts mit einem breiteren theoretischen Fundament für eine islamische politische Ordnung zu tun. Es ist den Revolutionären nicht gelungen, ihre anfäng­lichen Auffassungen einer „Geltung des islamischen Rechts“ durchzusetzen.

IP: Woran sehen Sie das?

Bakash: Die Frauen im Iran sind heute sehr viel freier als während der unmittelbaren Jahre nach der Revolution. Alkohol ist zwar verboten, das scheint aber die meisten nicht zu stören. Sogar in diesen ganz grundsätzlichen Bereichen hat man Kompromisse mit der Moderne und einer Bevölkerung machen müssen, in der es Religiöse wie Säkulare gibt, die sehr jung ist und die in weiten Teilen gerne einen Lebensstil wie die Mittelschicht westlicher Länder haben möchte.

IP: Liegt das an mangelnder Durchsetzungsfähigkeit oder ist die Integration moderner Elemente unausweichlich?

Bakash: Das wirkliche Versagen in der heutigen islamischen Welt und vor allem unter den Denkern des politischen Islam liegt doch darin: Es gibt kein grundlegendes und ernsthaftes Nachdenken über die Frage, wie eine islamische Ordnung in einer modernen Welt genau aussehen soll. Dabei muss man sich gar nicht fragen, ob sich ein islamischer Staat an die Moderne anpassen soll. Das dürfen wir als gegeben hinnehmen. Es fehlt an Antworten auf die Frage, wie ein Staat genau aussehen soll, der eine politische Regierung und Religion vereint.

IP: In welchen Bereichen fällt dieses Manko am dringlichsten auf?

Bakash: Natürlich im Bereich des Verhältnisses von Religion und Staat, die Rolle der Geistlichen im Staat, die Frage der Rechte und der Freiheit des Individuums. Man denkt über die Rechte für und die Rolle von Frauen in der Gesellschaft nach, nicht aber über die Rolle und die Rechte von Minderheiten – was mindestens so dringlich wäre. Von größter Bedeutung ist die Frage der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit, zu der sich der politische Islam in weiten Teilen zwar bekennt. Wie es aber eine unabhängige Judikative in einem Staatsgefüge geben soll, das auf einer Gesetzesreligion beruht, ist noch nicht definiert worden.

IP: Für einen der Vordenker des Islamismus, Sayyid Qutb, war die Trennung von Staat und Religion die „Ursünde“ des Westens. Wie kann es eine unabhängige Gerichtsbarkeit und eine echte Demokratie ohne genau diese Trennung von Staat und Religion geben?

Bakash: Wenn man auf einer spezifischen Grundausrichtung des Islam besteht, dann wird man dieses Problem nie lösen können. Auch das ist ja eine Gesetzesreligion, und diese Gesetze sind oft sehr spezifisch.

IP: Aber oft kryptisch und interpretationsbedürftig.

Bakash: Natürlich. Islam und Judentum sind Religionen, die auch Alltagstätigkeiten regeln. Und solange politischer Islam auf der Einhaltung dieser „Basis-Gesetze“ besteht, wird es schwer sein, die tiefgreifenderen Fragen des Verhältnisses von Staat und Individuum oder von Autorität und Souveränität zu stellen: Wie und wodurch regiert Gott, wer ist überhaupt der Souverän, wie drückt sich der Wille des Souveräns aus und welche Formen von Kontrolle und ­Korrektur kann es geben?

IP: Teile des politischen Islam würden eine „elektorale Demokratie“ durchaus befürworten – also Systeme, in denen Wahlen als Mittel der Legitimität und Teilhabe fest etabliert sind.

Bakash: Ja, es gibt gewisse Elemente, die nicht ganz unattraktiv sind. So wie regelmäßige Wahlen, die aber in ihrer Freiheit natürlich eingeschränkt sind, weil der Wächterrat im Iran beispielsweise bestimmt, welche Kandidaten antreten dürfen. Aber das ist kein Element der Islamischen Republik – sondern eines Autokratismus, der schon vor der Revolution existierte. Es gibt einen Willen zur Macht, der jetzt nicht besonders islamisch ist, sondern einfach autokratisch.

IP: Derzeit nähert sich die iranische Regierung den USA an – dabei war der Hass auf den „großen Satan USA“ als „imperialistische Macht“, aber auch als „Zentralmacht der westlichen Moderne“ eine der wesentlichen Säulen der islamischen Revolution. Verlässt Präsident Rohani den „Pfad der Revolution“? Oder handelt es sich um politischen Opportunismus, um in der Atomfrage weiter zu kommen?

Bakash: Beides. Rohani repräsentiert eine Denkschule in der iranischen politischen Elite, die die Isolation des Iran beenden, Auslandsinvestitionen an­locken und die vielen Ursachen der Friktion zwischen dem Iran und dem Westen generell beseitigen will. Aber gleichzeitig verlässt er auch den Pfad der Revolution, weil er den permanenten Ausnahmezustand einer Revolution endlich in eine Periode der Normalisierung der Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft bringen will.
Auch das ist nichts spezifisch Islamisches oder Unislamisches, denn Feindschaft gegen die USA ist kein Gesetz des Islam. Natürlich ist der politische Islam auch als Reaktion auf die kulturelle und politische Dominanz des Westens und auf die Durchsetzung seiner Werte in der islamischen Welt entstanden. Aber in früheren Jahren war der Islam äußerst tolerant und aufnahme­fähig für andere Einflüsse, Lerntraditionen, Erfahrungen oder Praktiken.

IP: „Reine“ islamische Staatsmodelle gibt es also nicht – vielmehr wäre der „Hy­brid“, der sich nicht als Gegensatz zum Westen sieht, das Modell der Zukunft?

Bakash: Das ist der Kernpunkt. Das hybride Modell und eine gewisse Anpassung sind unausweichlich. Ob wir den Iran betrachten, die Türkei oder – zu einem etwas geringeren Ausmaß – auch Tunesien, so sehen wir dafür auch Beispiele. Dass dieses Modell noch als Abweichung von der „wahren und reinen Lehre des Islam“ gesehen wird, hat mit einer ganz spezifischen und sehr eingeschränkten Interpretation des Islam zu tun. Gäbe es aber Definitionen des Islam und „islamischer Herrschaft“, die auf breiteren Prinzipien basieren würden, sowie Denktraditionen, die sich nicht so sehr mit der Etablierung bestimmter Gesetze, sondern mit der Beantwortung der für die moderne Welt so wichtigen Fragen nach verantwortlicher Regierungsführung beschäftigen würden, dann wäre der „Hybrid“ kein Sondermodell, sondern etwas ganz Normales.

IP: Entspräche das nicht den Ursprüngen in der Spätantike? Schließlich ist die Entstehung des Islam nur im Kontext mit der Entstehung der jüdischen wie christlichen Orthodoxie denkbar.

Bakash: Natürlich – die erfolgreiche Ausbreitung des Islam und sein Aufstieg von einem ganz begrenzten Raum zu einer Weltmacht und Weltzivilisation sind ganz wesentlich von seiner Fähigkeit bestimmt gewesen, andere kulturelle, zivilisatorische und politische Elemente zu „borgen“ und zu integrieren – vom persischen wie vom byzantinischen Imperium ebenso wie vom antiken Griechenland. Es ist ja eine vergleichsweise neue Entwicklung, dass der Islam sich der Außenwelt so verschlossen und dieses „model of exclusivity“ entwickelt hat. Nötig wäre eine Rückkehr zu dieser frühen, sehr offenen Haltung gegenüber der Außenwelt und zu neuen Formen des Lernens und Verstehens.

IP: Ist etwas zu erkennen, das sich in diese Richtung bewegen würde?

Bakash: Es hat seit dem 19. Jahrhundert immer wieder und auch bis heute einzelne Theoretiker und Philosophen gegeben, die über die Auseinandersetzung mit der Moderne, über individuelle Rechte und religiöse Toleranz innerhalb und auch außerhalb der islamischen Welt nachgedacht haben. Wirklich erstaunlich ist, wie lange es dauert, bis diese Ideen auch in einer breiteren Gesellschaft reifen und auf diejenigen wirken, die in diesen Gesellschaften Macht ausüben. Die Autoritäten in den großen Stätten des islamischen Lernens haben es sehr lange versäumt, sich in ihren Curricula mit der Moderne auseinanderzusetzen und damit auch den Klerus an sie heranzuführen. Das wäre eine große Aufgabe, denn man darf den Einfluss keineswegs unterschätzen, den der Klerus in fast allen islamischen Gesellschaften immer noch hat.

IP: Die Frage, die sich ein Westler, der ja gemeinhin zum Aktionismus neigt, nicht verkneifen kann: Kann der Westen etwas zu einer solchen Entwicklung beitragen?

Bakash: Natürlich ist ein Austausch zwischen Wissenschaftlern und Philosophen wichtig. Aber die Veränderungen selbst müssen von innen kommen.
Die Fragen stellte Sylke Tempel

Shaul Bakash ist „Clarence J. Robinson Professor of History“ an der George-Mason-University in Washington D.C. Bakash wurde im Iran geboren, studierte an der Harvard University und promovierte in Oxford. Er war Fellow am Institute for Advanced Studies in Princeton und gilt als einer der renommiertesten Iran-Experten.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2014, S. 22-25

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