Buchkritik

02. März 2018

Der Geist von Gezi

Auf der Suche nach Alternativen zu Erdogan: Vier Neuerscheinungen

Seit dem Referendum vom April 2017 und dem Votum für ein Präsidialsystem scheint es in der Türkei niemanden mehr zu geben, der Recep Tayyip Erdogan auf seinem Weg Richtung Ein-Mann-Staat stoppen kann. Doch trotz Ausnahmezustand, Medienzensur und Unterdrückung gibt es vorsichtige Anzeichen, dass mit Erdogans Gegnern noch zu rechnen ist.

Am 29. Januar 1986 empfängt Baha Güngör einen Besucher, den er nicht eingeladen hatte. Der deutsch-türkische Journalist arbeitet als Korrespondent für verschiedene deutsche Medien in Istanbul. An jenem Wintertag hat er, wie er später rückblickend schreibt, „völlig unerwartet die Wahl zwischen der Mitarbeit für den türkischen Geheimdienst MIT (Millî Istihbarat Teçkilatı) als ,Informant‘ oder dem Risiko, irgendwann ,die Überlegenheit des türkischen Staates‘ zu spüren zu bekommen“.

Der Besucher versucht mit kaum verhohlenen Drohungen, Güngör zur Mitarbeit zu bewegen. Vergeblich. Doch schon der Anwerbeversuch zieht eine ganze Reihe von beruflichen Verwicklungen nach sich. Als besonders schmerzhaft empfindet der Journalist die Erfahrung, einige Jahre später „denunziert“ zu werden – ein Kollege verbreitet das Gerücht, Güngör sei ein MIT-Spitzel. Die Behauptung wird später zurückgezogen, Schaden richtet sie dennoch an.

„Atatürks wütende Enkel“, das Buch, aus dem diese Episode stammt, ist kein historisch-politisches Lehrwerk. Wie Güngör in seiner Einleitung schreibt, ist es ein auf jahrzehntelanger Beobachtung fußender Versuch, dem Leser nahezubringen, wie die Türkei tickt. Der Autor ist in Istanbul geboren und in Aachen aufgewachsen; nach seiner Zeit als Türkei-Korrespondent war er Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle. Für sein Buch schöpft er aus einem reichen Fundus an Erlebnissen und Anekdoten, manche davon amüsant, andere bedrückend. Der Einstieg mit der Schlapphut-Episode zeigt zweierlei: Zum einen, dass journalistisches Arbeiten in der Türkei immer schon ein Balanceakt war. Der Korridor des Erlaubten ist schmal.

Zudem ist der Geheimdienst MIT ein gutes Beispiel für die Widersprüchlichkeit der türkischen Demokratie. Als die EU Ende der neunziger Jahre die Türkei als Beitrittskandidatin akzeptierte, war es ausgerechnet der MIT, der „offen die Richtlinien der Politik für eine neue Türkei im Einklang mit den Kopenhagener Kriterien“ mitbestimmte, schreibt Güngör. Sicherheitsorgane wie Militär und Geheimdienst, die als Hüter der Demokratie auftreten und zugleich gegen demokratische Prinzipien verstoßen – ein Widerspruch, wie er für die Türkei typisch ist.

Güngör gehört selbst zu den „wütenden Enkeln Atatürks“, auf die sein Buchtitel anspielt. Den immer stärker autoritären Kurs der religiös-konservativen AKP-Regierung (Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) lehnt er ab, doch auch die kemalistisch-säkularen Eliten sieht er kritisch: Diese hätten Fehler über Fehler gemacht und mit ihrer „seit vielen Jahrzehnten schwelenden Ignoranz“ und ihrem Glauben an die eigene Unersetzlichkeit den Aufstieg des politischen Islam erst ermöglicht. Seine lebendig geschriebene Analyse konzentriert sich weitgehend auf die achtziger und neunziger Jahre, in denen er die Wurzel für viele Übel verortet, die das Land heute plagen. Turgut Özal, Premierminister 1983-1989 und Staats­präsident 1989-1993, sieht er als Wegbereiter des Islamismus.

An vielen Stellen verliert der Autor sich in historischen Details, deren Relevanz für die Gegenwart nicht immer einleuchtet, und er vollzieht mitunter schwer nachvollziehbare Sprünge in der Chronologie. Dem politischen Aufstieg Erdogans widmet er sich erst ab Seite 175 (von 235), um dann noch einmal auf das deutsch-türkische Verhältnis in den sechziger und siebziger Jahren zurückzuschwenken. Unbefriedigend ist, dass Güngör den Konflikt zwischen Erdogans AKP und der ­Gülen-Bewegung in wenigen ­Zeilen abhandelt; auch der gescheiterte Putschversuch vom Juli 2016 nimmt kaum Raum ein, obwohl es sich um eines der folgenschwersten Ereignisse der jüngeren türkischen Geschichte handelt.

Schrumpfende Freiräume

Haznain Kazim und Inga Rogg nehmen die Gegenwart stärker und systematischer in den Blick. Ihre Bücher sind insofern vergleichbar, als sie ähnliche Schwerpunkte setzen: Beide blicken in die Vergangenheit zurück, um das Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei und den Aufstieg des politischen Islam zu beleuchten; beide gehen thematisch vor, ohne die Chronologie der Ereignisse außer Acht zu lassen; beide mischen analytische Passagen mit Reportage-Elementen.

Kazims Zeit als Korrespondent für Spiegel Online von 2013 bis 2016 bildet den Rahmen seines Buches. Als der in Oldenburg geborene Journalist mit pakistanisch-indischen Wurzeln 2013 in die Türkei zieht, zeichnen sich die kommenden Entwicklungen zwar schon ab; es ist das Jahr der Gezi-Proteste, auf die Erdog˘an – damals Ministerpräsident – mit aller Härte reagiert. Doch verglichen mit Pakistan, wo Kazim zuvor gearbeitet hatte, erscheint ihm die Türkei als relativ liberal. Ein Eindruck, der nicht lange vorhält, denn in den folgenden Jahren werden die politischen und gesellschaftlichen Freiräume immer kleiner.

„Krisenstaat Türkei“ beschreibt den Niedergang eines Landes, das vor nicht allzu langer Zeit noch als Modell galt: für die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam, für die Verbindung von Orient und Okzident. Die vergangenen Jahre aber lesen sich wie eine Aneinanderreihung von Krisen: Der Krieg zwischen der Armee und der kurdischen PKK im Südosten geht in immer neue Runden, die Wirtschaft leidet unter politischer Instabilität und verheerenden Terror­anschlägen. Außenpolitisch liegt die Türkei im Streit mit den USA, mit etlichen arabischen Nachbarn, mit Teilen Europas. Wie es zu dieser Ballung von Problemen kommen konnte, ist eine der Fragen, denen Kazim in seinem Buch nachgeht.

Sein Blick auf die Zukunft des Landes ist zutiefst pessimistisch. Nicht nur, weil es Erdog˘an gelungen sei, seine Macht zu zementieren – die letzte wichtige Etappe in diesem Prozess sei das Verfassungsreferendum im April vergangenen Jahres gewesen, bei dem eine knappe Mehrheit der Wähler für die Einführung eines Präsidialsystems stimmte. Sondern auch, weil es derzeit kaum Kräfte gebe, die diese Entwicklung in Richtung Ein-Mann-Staat stoppen könnten.

Isoliertes, gespaltenes Land

Auch Inga Rogg, NZZ-Korrespondentin in Bagdad und Istanbul, schreitet in ihrem sehr lesenswerten Buch die Stationen der türkischen Autokratisierung ab. Ihr Fazit: Zweifelsohne gehe es Erdogan um die Absicherung seiner Macht, doch sei das System weitaus instabiler, als es den Anschein habe. Nach ihrer Darstellung brodelt es in Erdogans „neuer Türkei“, die heute „nicht größer und stärker“ sei, wie es der Präsident seinen Anhängern predige, „sondern isolierter und gespaltener denn je“. Die Autorin fürchtet, dass es zum Crash kommen könnte, weil Hass und Wut zwischen den politischen Lagern wüchsen. Schon während der Gezi-Proteste 2013 seien fanatische Erdogan-Anhänger mit Messern auf Gegner losgegangen – ein Gewaltpotenzial, das leicht außer Kontrolle geraten könne.

Inga Rogg schlägt einen großen Bogen: von Atatürks Türkei, die keineswegs so demokratisch war, wie die Verehrer des Staatsgründers gerne glauben machen möchten, bis in die Zukunft, in die sie ein bisschen hoffnungsvoller blickt als Haznain Kazim. Die Regierung habe zwar den Gezi-Aufstand 2013 niedergeschlagen, doch dessen Geist sei noch da. Das hätten die vielen Nein-Initiativen gezeigt, die während der Referendumskampagne 2017 entstanden seien, und auch der Protestmarsch von Kemal Kılıçdarog˘lu, Chef der Republikanischen Volkspartei (CHP), von Ankara nach Istanbul im Sommer 2017 sei ein starkes Signal gewesen, dass mit Erdog˘ans Gegnern weiterhin zu rechnen sei.

Kazim wendet ein: Es gebe Alternativen zu Erdogan, doch nicht immer seien diese auch „die bessere Alternative“. Am ehesten komme die CHP infrage; die traditionsreiche Partei habe aber Schwierigkeiten, über ihre Kernanhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) sei schlicht rechtsextrem.

Inzwischen gibt es noch eine weitere Partei, die der AKP Stimmen abjagen könnte, die Iyi Parti („Gute Partei“) der aus der MHP ausgetretenen nationalistischen Politikerin Meral Aks˛ener. Doch ob diese Partei mit ihren stramm nationalkonservativen Positionen als demokratischer Hoffnungsträger taugt, ist fraglich.

Der anhaltende Ausnahmezustand schränkt die Arbeit der Oppositionsparteien ein. Vor allem die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) kämpft mit existenziellen Problemen – ihre Parteispitze, etliche nationale Abgeordnete und Hunderte Lokalpolitiker sitzen im Gefängnis. Auch Teile der Zivilgesellschaft und unabhängige Medien sind von Terrorparagrafen umstellt, die ihre Arbeit kriminalisieren.

Vom Journalisten zum Aktivisten

Einer der im Ausland bekanntesten Medienvertreter ist der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar, der seit anderthalb Jahren im Berliner Exil lebt. Drei Monate saß der Journalist in Untersuchungshaft, weil seine Zeitung über mutmaßliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdiensts an syrische Extremisten berichtet hatte; später wurden er und sein Büroleiter Erdem Gül zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Nach dem Putschversuch entschied sich Dündar, im Ausland zu bleiben; er fürchtete, in der Türkei keinen fairen Revisionsprozess zu bekommen.

Sein neues Buch „Verräter“ ist ein höchst persönlicher Einblick in sein Leben als Dissident und Exilant. „Ich bin vom Journalisten zum Aktivisten geworden“, schreibt Dündar. „Ich interviewe kaum noch, gebe aber ständig Interviews.“ Der preisgekrönte Autor reflektiert diesen Rollenwechsel und verteidigt ihn gegen seine Kritiker: In den eigenen Reihen werfen ihm manche Eitelkeit vor, im Erdogan-nahen Lager beschimpft man ihn als Vaterlandsverräter.

Sein Buch handelt von der Einsamkeit im Exil, von der Sehnsucht nach der Heimat und von Weggefährten, die sich abwenden – es ist gefährlich geworden, mit dem Dissidenten befreundet zu sein. Dündar beschreibt eine immer größere, immer besser vernetzte Szene oppositioneller Türken, die nach Deutschland kommen und ihre politische Arbeit fortsetzen. Mithilfe des deutschen Investigativ-Mediums Correctiv hat Dündar das Online-Magazin Özgürüz („Wir sind frei“) gegründet, er moderierte eine Folge der ZDF-Kultursendung „Aspekte“, schreibt regelmäßig für DIE ZEIT und eine Kolumne für das Maxim-Gorki-Theater. Dündar ist nicht der einzige türkische Oppositionelle, der sich in Deutschland regelmäßig zu Wort meldet. Aber er ist das prominenteste Beispiel dafür, dass die türkische Zivilgesellschaft noch lange nicht am Ende ist, sondern sich neu organisiert – zur Not eben im Ausland.

Der Stil von „Verräter“ ist gewöhnungsbedürftig. Dündar scheut das Pathos nicht; da ist schon mal von „unruhigen Tauben“ die Rede, die in seinem Herzen flattern. Doch sein Buch steckt auch voller anrührender Szenen. Wenn der Familienrat tagt, Dündar also per Skype mit seiner Frau Dilek, die die Türkei nicht verlassen darf, und seinem Sohn Ege, der in London lebt, telefoniert, um familiäre Angelegenheiten zu besprechen, etwa, ob der altersschwache Hund eingeschläfert werden muss. In diesen Passagen wird greifbar, welchen Preis Dündar und seine Angehörigen für sein Engagement zahlen.

Luisa Seeling ist Redakteurin im außenpolitischen Ressort der Süd­deutschen Zeitung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 138 - 141

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