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01. März 2007

Der eingebildete Starke

Schwacher Staat, gefährliches Gebahren: Russland forder Europa heraus

Die gute Nachricht: Von „Weimarer Verhältnissen“ kann in Russland keine Rede sein. Die schlechte: Das Land ist schon einen Schritt weiter. Europa und insbesondere Deutschland sind nun in der Pflicht, Putins Großmachtambitionen entgegenzuwirken und dessen energiepolitischen Erpressungsversuchen zu widerstehen.

Warum ist Russland unter Wladimir Putin so anmaßend und nationalistisch geworden? Warum hat es sich dem Autoritarismus zu- und dem Westen abgewandt? Für gewöhnlich sieht man die Gründe für diesen Wandel in der Person Putins: ein Mann mit bewegter Vergangenheit im Dienste der Staatssicherheit, der nun das erklärte Ziel verfolgt, Russland wieder mächtig und einflussreich zu machen. Andere Beobachter weisen darauf hin, dass die Ziele Putins perfekt mit den psychologischen Bedürfnissen der russischen Bevölkerung übereinstimmen, einer Bevölkerung, die in ihrer großen Mehrheit den Präsidenten unterstützt und sich durch den Westen gedemütigt fühlt.

Obwohl all diese Interpretationen richtig sind, erfassen sie lediglich eine Dimension der Realität. Ein multidimensionaler Ansatz würde Russlands derzeitiges Auftreten wohl als ein Resultat des Zusammenbruchs der Sowjetunion werten, mit all seinen Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Identität. Wenn Russlands Verhalten ein Ergebnis solch tiefgehender Entwicklungen ist, so bedeutet dies, dass das Land sich auf einem Pfad befindet, den es weder erst bei Putins Amtsantritt eingeschlagen hat noch nach dessen Amtsende 2008 verlassen wird. Obwohl Russland also autoritär, nationalistisch und anmaßend bleiben wird, wird ein solches Russland es nicht schaffen, eine Hegemonie im postsowjetischen Raum aufzubauen. Im Gegenteil, ein solches Russland wird im gleichen Maße an Stabilität verlieren, wie die antirussischen Tendenzen bei seinen Nachbarn zunehmen. Weil die USA kurz vor einem Irak-Syndrom stehen, das die Regierung auf Jahre hinaus von übermäßigem außenpolitischen Engagement abschrecken wird, lastet die Hauptverantwortung dafür, sich mit den möglicherweise destabilisierenden Konsequenzen des russischen Großmachtgebarens auseinanderzusetzen, auf Europa.

Russland und das Weimarer Deutschland

In den Jahren 1993/94 tauchte in politischen Analysen zum ersten Mal das Bild eines „Weimarer Russlands“ auf. Anlass war das Auftreten Wladimir Schirinowskis, dessen chauvinistische und revanchistische Ansichten auf erschreckend große Resonanz in der russischen Bevölkerung stießen. Schirinowski verschwand schließlich wieder aus der öffentlichen Aufmerksamkeit, weil er und seine Partei sich mit ihrer extremistischen Rhetorik ins Abseits manövrierten und weil sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf Boris Jelzin und seine Versuche, der kommunistischen Herausforderung zu begegnen und den russischen Staat zusammenzuhalten, richtete. Leider lassen die jüngsten Entwicklungen darauf schließen, dass es an der Zeit sein könnte, von einem weitaus beunruhigenderem Phänomen zu sprechen – einem „Post-Weimar-Russland“.

Die Lage Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weist frappierende Ähnlichkeiten mit der Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg auf. Beide Länder waren die Produkte des Zusammenbruchs eines Reiches, der einherging mit einem Regierungswechsel und zu einer massiven wirtschaftlichen und politischen Krise führte. Beide Länder fühlten sich gedemütigt, sahen ihre Imperien zerschlagen und arrangierten sich mit verminderter Größe und Machtverlust dadurch, dass sie die Schuld auf ihre Feinde, ehemalige Kolonien und illoyale Minderheiten im eigenen Land schoben. Beide Länder setzten sich für ihre „verlorenen Brüder“ in den Nachbarstaaten ein – der Ausgangspunkt dafür, dass die Minderheitenfrage zur Quelle permanenter politischer Spannungen wurde. Kaum überraschend, dass die Demokratie in beiden Ländern scheiterte, ja geradezu zum Synonym für „Scheitern“ wurde. Beide Länder machten sich fortan eine nationalistische, chauvinistische, revanchistische und neoimperialistische Rhetorik zu eigen und warfen sich bereitwillig charismatischen Herrschern in die Arme, die versprachen, nationale Ehre, Staatsmacht und internationale Anerkennung wieder herzustellen. Beide Herrscher richteten prompt autoritäre Systeme ein, und das unter dem Beifall einer Mehrheit der Bevölkerung.

Glücklicherweise erschöpfen sich hier die Ähnlichkeiten. Im Gegensatz zu Adolf Hitlers Deutschland, das sich dem Imperialismus und Krieg verschrieb, ist eine solche Entwicklung in Wladimir Putins Russland nicht sehr wahrscheinlich. Der russische Staat ist – was immer der Kreml behaupten mag – außerordentlich schwach, seine Wirtschaft funktioniert mehr schlecht als recht. Ähnlich wie Hitlerdeutschland aber legt Putins Russland zum Schrecken seiner Nachbarn ein nationalistisches Gebaren an den Tag und wird damit in absehbarer Zeit antirussische Reaktionen hervorrufen. Schlimmer noch: Die Kombination von Großmachtgebaren und fundamentaler Schwäche wird Russland dazu verleiten, sich zu übernehmen. Die Fragilität des russischen Staates wird hierdurch nur noch verstärkt, die Wirtschaft belastet und das Land destabilisiert. Aus diesem Grund ist Russlands Großmachtgehabe schädlich für seine Nachbarn, für Russland selbst und für Europa.

Zum Scheitern verurteilt

Im Licht von Russlands grundlegenden Schwächen ist Putins Hinwendung zu einer großspurigen Außenpolitik ein Indikator dafür, wie sehr Russland – um es in Anlehnung an Theodore Roosevelt zu sagen – „ein großes Mundwerk, aber wenig dahinter“ hat. Putins Großmachtgebaren mag populär sein, ist aber gleichzeitig sein größter Fehler. Viele Russen sind zornig über den Verlust des Sowjetreichs. Sie fühlen sich durch den Abstieg zu einem „Dritte-Welt-Land mit Atombombe“ gedemütigt. Putin hat erfolgreich auf die nationalistische Karte gesetzt und eine Vielzahl von Symbolen wiederbelebt, die der russischen oder der UdSSR-Vergangenheit entstammen. Im In- wie im Ausland präsentiert er sich als „starker Mann“. Außerdem hat er energisch im Sinne der nationalen Sicherheit und der Verteidigung des Staates gehandelt, besonders in Tschetschenien, wo der Krieg zu einem unnachgiebigen Kampf bis zum bitteren Ende geworden ist. Kein Wunder, dass Putins Popularität noch immer extrem hoch ist.

Unglücklicherweise ist die Kombination von anhaltender Staatsschwäche und wachsender Dreistigkeit in der Außenpolitik geradezu ein Patentrezept dafür, wie man den Bogen überspannt und in sein Verderben rennt. Je mehr Russland die Großmacht spielt, die es nicht sein kann, desto größer wird die Lücke, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, und desto wahrscheinlicher wird der Zusammenbruch des Systems. Schwache Staaten, die einen offensiven außenpolitischen Kurs einschlagen, sind zum Scheitern verurteilt. Schwache autoritäre Staaten, deren Herrscher die neoimperialistische Karte als Mittel ausspielen, um ihre eigene Legitimität zu erhalten, sind besonders anfällig für außenpolitische Fehltritte. Sie neigen dazu, ihre Nachbarschaft zu destabilisieren und dabei eine Gegenreaktion zu provozieren. Sobald sie damit offenkundig – und unvermeidlich – gescheitert sind, erleiden sie selbst die Konsequenzen. Ihre Führungsriege ist diskreditiert, ihre Ressourcen sind überstrapaziert, ihr Staatsapparat zerfällt weiterhin und oppositionelle Tendenzen nehmen zu.

Das würde nicht nur Russland destabilisieren, sondern möglicherweise auch viele der fragilen Nachbarstaaten. Und deren Destabilisierung könnte wiederum zu weiteren Desintegrationsprozessen in Russland führen. Zudem werden sich Russlands Nachbarn veranlasst fühlen, tatsächlichen oder vermeintlichen Angriffen auf ihre Souveränität zu widerstehen und eine antirussische Rhetorik und Politik zu betreiben. Die meisten dieser Staaten pflegen seit 1991 nicht nur gute Beziehungen zu Russland, sondern auch zum Westen und zu anderen Staaten. Alle nichtrussischen Staaten stoßen sich an Gazproms monopolistischen Absichten und suchen nach Energiealternativen. Kasachstan hofiert den Westen und China. Die Ukraine bleibt sogar unter der vermeintlich prorussischen Regierung Janukowitsch den guten Beziehungen zu Europa und den USA und der Mitgliedschaft in der WTO treu. Am erstaunlichsten ist wohl, dass Gazproms aggressives Verhalten sogar Alexander Lukaschenko, den leidenschaftlich pro-russischen Präsidenten Weißrusslands, in einen passionierten Verteidiger der weißrussischen Souveränität und einen Kritiker des Kremls verwandelt hat.

Russland und Europa

Russlands Großmachtgehabe könnte für Europa zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen. Die USA stehen kurz vor einer strategischen Niederlage im Irak, und wie schon nach dem Vietnam-Debakel wird eine Konsequenz die Vermeidung jeglicher weiterer außenpolitischen Einmischung in entfernte und für die amerikanischen Wähler uninteressante Regionen sein. Obwohl sich die USA weiterhin um Russland und seine Nachbarn kümmern werden – das US-Bedürfnis nach Energie und die amerikanischen Terrorismusängste sorgen schon dafür –, wird der postsowjetische Raum wahrscheinlich mehr und mehr zu Europas „Hinterhof“.

Wie sollte Europa auf die drohende, von einem „Post-Weimar-Russland“ verursachte Instabilität reagieren? Zuallererst sollte Europa Russland in seinem Großmachtgehabe nicht bestärken. Zweitens sollte es versuchen, die Sicherheit von Russlands immer nervöser werdenden Nachbarstaaten zu erhöhen. Keines dieser Ziele erfordert den Einsatz von „harter“ militärischer Schlagkraft; beide erfordern den klugen Gebrauch von Diplomatie und die Fähigkeit, andere davon zu überzeugen, die eigenen Ziele zu teilen – die so genannte Soft Power. Leider scheint Europa für diese Aufgabe schlichtweg unvorbereitet zu sein. Russlands Großmachtgehabe nicht zu ermutigen, sollte eigentlich eine einfache Aufgabe sein, da sie nur erfordert, bestimmte Dinge nicht zu sagen und bestimmte Dinge nicht zu tun. Und doch sind die Staatsoberhäupter Europas nicht einmal dieser bescheidenen Herausforderung gerecht geworden. Es gab keinen nachvollziehbaren Grund für Gerhard Schröder, Putin auf dem Höhepunkt der ukrainischen „orangenen“ Revolution im Jahre 2004, als die Bedrohung einer russischen Intervention allzu real schien, einen „lupenreinen Demokraten“ zu nennen. Tatsächlich könnte Schröders Aussage als stillschweigende Billigung von Russlands Großmachtgehabe gewertet werden: Wenn Putins ungeschickte Antwort auf die demokratische Bewegung in der Ukraine nicht ausschließt, dass er ein wahrer Demokrat ist, dann ist jegliches russische Eingreifen in die inneren Angelegenheiten seiner Nachbarn legitim. Noch bedauerlicher war die Entscheidung Frankreichs im vergangenen Herbst, Putin das Großkreuz der Ehrenlegion zu verleihen. Diese Geste wusch nicht nur indirekt die kriminelle Organisation rein, der Putin entstammt, den KGB, sie implizierte auch, dass Putins Großmachtinteressen im nahen Ausland nicht in Konflikt mit Frankreichs Interessen stünden.

Die Verbesserung der Sicherheitslage von Russlands nervösen Nachbarn kann auf militärischem, ökonomischem und/oder diplomatischem Wege erfolgen. Natürlich ist Europa nicht in der Position, diesen Staaten ihre Sicherheit militärisch garantieren zu können; das ist für Europa auch nicht nötig, da Russland ohnehin keine wirkliche Bedrohung darstellt. EU-Institutionen und europäische Investoren fördern die Wirtschaft dieser Staaten, aber Unterstützung und Investitionen wirken sich nicht auf die Wahrnehmung von Bedrohung aus. Die einzige Art und Weise, mit der Europa wirklich auf die Sorgen der Anrainerstaaten Russlands eingehen kann, ist natürlich eine wie auch immer geartete Aussicht auf Mitgliedschaft in der EU. Diese Form der Soft Power hat schon in den sich transformierenden zentral- und osteuropäischen Staaten funktioniert, und sie hat dort, was fast noch wichtiger ist, viele  der Ängste vor Russland gelindert.

Aber die berühmte sanfte Macht der EU kann nur unter drei Bedingungen etwas ausrichten. Erstens muss der Akteur, der Soft Power ausübt, tatsächlich die Ziele verfolgen, die zu verfolgen er vorgibt. Die derzeitige Krise der EU in den Beziehungen zur Türkei zeigt, dass zwar die Türkei der EU beitreten möchte, die EU aber sich nicht sicher ist, ob sie den Beitritt der Türkei überhaupt möchte. Zweitens muss der Akteur, der Soft Power anwendet, tatsächlich wollen, dass andere Länder seine Ziele teilen. Die Unfähigkeit der EU, mit den europäischen Sehnsüchten der Ukraine umzugehen, zeigt, dass Brüssel möglicherweise sogar erleichtert wäre, wenn die Ukraine ihre Ambitionen aufgeben würde. Und drittens darf die sanfte Macht, die auf ein Land ausgeübt wird, nicht anfällig für dessen Hard Power sein.

Wie die Beziehungen der EU mit Russland zeigen, hat gutes Zureden wenig Wirkung auf Moskau gezeigt, das eine Politik der starken Hand und der energiepolitischen Erpressung verfolgt. Das Verhalten der EU in diesem und in anderen Fällen zieht, und das nicht zu Unrecht, den Vorwurf der Arglistigkeit nach sich. Solche Anschuldigungen sollten besonders besorgniserregend für Brüssel sein, weil jegliche Form der Soft Power, ebenso wie der Hard Power, nur dann Wirkung zeigen kann, wenn ihre Anwendung glaubwürdig ist. Ebenso wie Russlands Getöse seine eigentliche Schwäche verdecken soll, so könnte auch das europäische Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten hohl klingen, wenn die EU diese nicht auch tatsächlich verfolgt und verlangt, dass sie von anderen eingehalten werden. Die europäischen Beteuerungen hinsichtlich der europäischen Werte klingen besonders verwunderlich angesichts des ökonomisch motivierten und geopolitisch nachvollziehbaren Bedürfnisses nach stabilen und garantierten Energielieferungen aus Russland. Die gute Neuigkeit ist, dass keine dieser Reaktionen – die Ermutigung Russlands zu seinem aggressiven Auftreten und das Ignorieren der Sicherheitsbedürfnisse der nichtrussischen Staaten – die notwendige Folge einer Orientierung an europäischen Werten oder europäischen geopolitischen Interessen ist. Im Gegenteil, sie widersprechen geradezu den europäischen Werten und unterstützen russische Großmachttendenzen, die mit der Zeit Russland, die Anrainerstaaten und möglicherweise einen großen Teil Westeuropas destabilisieren werden.

Europas Problem: Deutschland

Warum also handelt Europa so widersinnig und unterminiert seine eigentlichen Interessen? Obwohl die „Erweiterungsmüdigkeit“, ineffektive Institutionen, wirtschaftlicher Niedergang, Globalisierung und viele andere Faktoren einen Teil der Antwort ausmachen, so ist doch der wichtigste Faktor Deutschland. Berlin gibt, wenn es um Russland und seine Nachbarstaaten geht, den Ton in der EU an. Deutschland ist das östlichste Land des „alten Europa“, und seine Interessen sind am unmittelbarsten von Veränderungen in Osteuropa betroffen. Deutschland hat historisch enge Verbindungen nach Osteuropa und Russland und kann von sich behaupten, eine gewisse Erfahrung aufzuweisen. Deutschland verfügt über umfassende wirtschaftliche Beziehungen zur gesamten post-kommunistischen Welt und hat seit der Wiedervereinigung eine führende diplomatische Rolle bei der Lösung von Konflikten in der Region gespielt. Außerdem hat Deutschland auch historisch gesehen und zum Schaden der Nachbarn seine Außenpolitik auf Russland – mal als Freund, mal als Feind – konzentriert. Das 20. Jahrhundert hat drei Fälle erlebt, in denen Deutschland seine Nachbarn den Beziehungen zu einem autoritären Russland geopfert hat. 1922 unterschrieb das Weimarer Deutschland den Vertrag von Rapallo mit der Sowjetunion und bereitete damit den Weg für eine umfassende wirtschaftliche und militärische Kooperation, die dazu beitrug, die flügge werdenden Staaten Zentral- und Osteuropas zu destabilisieren. 1938 führte der Molotow-Ribbentrop-Pakt zur Teilung Polens durch Hitler und Stalin. Die ganzen siebziger und achtziger Jahre hindurch akzeptierte Deutschland im Tausch für die Annäherung an die DDR willentlich die sowjetische Hegemonie in den Satellitenstaaten – und ignorierte offen die polnische SolidarnoćŤ-Bewegung. Der Schröder-Putin-Pipeline-Deal im Jahr 2005 passt genau in dieses Strickmuster. Die geplante Ostsee-Pipeline von Russland nach Deutschland würde Deutschland nützen und gleichzeitig Russlands ohnehin schon beträchtlichen Einfluss auf Polen und die Ukraine noch steigern – Länder, durch die derzeit die meisten Gazprom-Pipelines nach Europa laufen.

In allen vier Fällen haben ausgesprochen unterschiedliche deutsche Regime konsequent das gleiche außenpolitische Ziel verfolgt. Ob instabil und demokratisch wie 1922, mächtig und totalitär wie 1938, stabil und demokratisch wie während des Kalten Krieges oder mächtig und demokratisch wie heute – die deutschen Eliten schmiedeten Allianzen mit Russland auf Kosten ihrer Nachbarn in Ostmitteleuropa, Polen und der Ukraine. Diese Vision der deutschen Interessen ist unverfroren geopolitisch und fußt auf zwei außenpolitischen Prioritäten. Zum einen wird „harten“ Machtinteressen der Vorrang vor Soft Power und vor einer werteorientierten Politik eingeräumt. Zum anderen privilegiert man Staaten, die am besten den eigenen Machtinteressen dienen. Solches Nullsummendenken gibt ausnahmslos kurzzeitigen Gewinnen den Vorrang vor langfristigen Beziehungen.

Obwohl Deutschland behauptet, heute nicht mehr in solchen Kategorien zu denken, spricht sein Verhalten eine andere Sprache. Die Unterstützung von Bundeskanzlerin Angela Merkel für den Schröderschen Pipeline-Deal hat eine zutiefst beunruhigende Wiederaufnahme traditioneller deutscher geopolitischer Interessenpolitik signalisiert und für Verunsicherung gesorgt. Erstens zeigte die Merkelsche Zustimmung zu Schröders Deal, dass die deutsche Wendung hin nach Russland keine Schrödersche Verirrung war, sondern für einen Wandel der politischen Kultur in Deutschland steht. Vielleicht als Resultat des Endes des Kalten Krieges scheinen die deutschen Eliten die moralische Autorität, die sie in der Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit und Wiedergutmachung für den Holocaust gewonnen haben, gering zu schätzen. Ein wahrhaft den europäischen Werten verpflichtetes Deutschland würde niemals vergessen, welche verheerenden Auswirkungen seine unheilvolle Rolle im 20. Jahrhundert für die Völker Osteuropas hatte – vor allem für Polen und die Ukraine.

Zweitens droht Merkels Zustimmung zum Pipeline-Deal die Europäische Union zu unterwandern, die schon durch die Ablehnung der Verfassung durch Frankreich und die Niederlande geschwächt ist. Russland ist kein Mitglied der EU und will keines werden; Polen ist in der EU, die Ukraine wünscht sich nichts sehnlicher. Wie kann die europäische Solidarität wachsen, wenn Schröder und Merkel de facto erklären, die Zugehörigkeit dieser Länder bedeute Deutschland weitaus weniger als profitable Beziehungen zu einem autoritären Nichtmitgliedsstaat? Drittens verhindert Schröders und Merkels Geopolitik Reformen in Osteuropa. Berlin muss sich bewusst sein, dass die russisch-ukrainische und die russisch-polnische Freundschaft Grundvoraussetzungen für erfolgreiche innere Reformen in Russland, Polen und der Ukraine sind. Dadurch, dass Deutschland eine russische Hegemonie gegenüber Polen und der Ukraine fördert und indirekt Gazprom dabei unterstützt, die Ukraine zu bedrängen, befördert Berlin Isolation, Anspannung und vielleicht sogar Verzweiflung in Warschau und Kiew. Und isolierte, angespannte und verzweifelte Länder sind von außen anfälliger für Hypernationalismus und weniger geneigt, sich intern zu reformieren.

Ironischerweise werden Deutschlands Interessen durch Schröders und Merkels Ostpolitik am wenigsten bedient. Es ist schwer nachzuvollziehen, wie Deutschland von einem schwächeren Polen, einer eingekreisten Ukraine, einem autoritäreren Russland, einer entmündigten EU und internationalen Zweifeln an seinem Bekenntnis zu den Menschenrechten profitieren will. Deutschland muss sich deshalb entscheiden. Deutschland muss sich entscheiden, ob es sich an den europäischen Werten orientieren und in seinen Beziehungen zu Russland und seinen Nachbarn die langfristigen Ergebnisse von Soft Power zum Maßstab machen will oder ob es lieber seinen kurzfristigen geopolitischen Interessen dienen möchte. Deutschland muss sich entscheiden, ob es vor allem ein Mitglied der Europäischen Union sein will oder eine Macht mit eigenen geopolitischen Ambitionen.

Wird Deutschland tatsächlich Europa den Rücken kehren, indem es Russland zu eben jenem Verhalten ermutigt, das schon in den dreißiger Jahren durch das Post-Weimar-Deutschland begünstigt wurde? Oder will Deutschland sich unwiderruflich Europa zuwenden, indem es versucht, das Post-Weimar-Russland sowie die russischen Anrainer zu beruhigen und vernünftige und faire Beziehungen zwischen Staaten zu fördern, die die Souveränität des anderen respektieren – selbst wenn das bedeutet, höhere Preise für russisches Gas zahlen zu müssen? Die erste Hälfte des Jahres 2007, in der Deutschland den G-8-Vorsitz und die Ratspräsidentschaft der EU innehat, wäre ein ausgezeichneter Zeitpunkt, sich für die zweite Alternative zu entscheiden.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2007, S. 36 - 43.

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