Der dritte Dämpfer
Mangelnde Solidarität der EU in der Corona-Krise hat Italiens Europabegeisterung erneut einen Schlag versetzt. Wie lässt sich das verloren gegangene Vertrauen wiederherstellen?
Als China am 31. Dezember 2019 die Entdeckung eines neuartigen Corona-Virus bekannt machte, wiegten sich die Europäer in Sicherheit. Wuhan? Weit weg! Es schien, als habe man in Europa die Globalisierung missverstanden: Zwischen Asien und Europa hin und her jetten? Ja! Aber Viren – die würden schon zuhause bleiben.
Zu den Ländern, die am stärksten unter den Folgen dieser Fehleinschätzung zu leiden hatten, zählt in Europa, neben Spanien, Italien. Warum, darüber ist viel diskutiert und geschrieben worden: der frühe Zeitpunkt der Corona-Ausbreitung, die seinerzeit noch mangelnden diagnostischen Kenntnisse, der dezentrale Charakter des Gesundheitssystems, durch den es möglich ist, dass man in Venetien schon konsequent testet und isoliert, während in der Lombardei nicht einmal enge Angehörige von Infizierten getestet werden.
Verheerend wirkten sich vor allem die Einsparungen im Gesundheitssektor während der vergangenen 20 Jahre aus. Öffentliche Krankenhäuser wurden geschlossen, um Privatkliniken Platz zu machen, mit denen die Regionen Kooperationsverträge abschlossen. Diese sind aber nicht dafür ausgerüstet, Intensivpatienten aufzunehmen, oder sie haben schlicht kein Interesse daran: Intensivpatienten sind teuer und wenig lukrativ. Folglich fehlt es an Intensivbetten und Beatmungsgeräten; an Schutzkleidung, Atemmasken und Brillen für Ärzte und Pfleger sowieso.
Als nicht besser vorbereitet erwiesen sich die spanischen Krankenhäuser. Spanien ist nach Italien das EU-Land, in dem sich das Corona-Virus am schnellsten verbreitet und die meisten Todesopfer verursacht hat. Auch das spanische Gesundheitssystem hatte unter massiven Kürzungen zu leiden. Zwischen 2011 und 2018 ließ Mariano Rajoys konservative PP-Regierung zehn Milliarden Euro aus dem Gesundheits- und Bildungsbudget streichen – unter anderem, um die Bedingungen für Kredite aus dem EU-Rettungsschirm zu erfüllen. Bedingungen, die sich auf die Sozialsysteme der „geretteten“ Länder katastrophal auswirkten und im Süden Zweifel nährten, dass die Europäische Union eine echte Gemeinschaft sei.
Diese Zweifel wurden in der Flüchtlingskrise ab 2015 nicht zerstreut. Millionen von Flüchtlingen landeten an Europas Küsten, und nach den Regeln des Dublin-Abkommens war es an den südeuropäischen Ländern, sie aufzunehmen. Dass sich die meisten mittel- und nordeuropäischen Länder einer Änderung des Abkommens verweigerten, belastete das Verhältnis zwischen Nord- und Südeuropäern erneut. Da die meisten Flüchtlinge übers Mittelmeer in Italien ankamen, fühlte man sich hier besonders im Stich gelassen.
Mit Anti-EU-Hetze auf Stimmenfang
All das hat die Einstellung der Italiener zur Europäischen Union grundlegend verändert: Die einst glühenden Pro-Europäer wurden immer euroskeptischer. Das gab den Rechtspopulisten Auftrieb. Mit antieuropäischer und speziell antideutscher Hetze ging Lega-Chef Matteo Salvini auf Stimmenfang. Seine Gesinnungskumpanin Giorgia Meloni, Anführerin der Fratelli d’Italia, einer rechtsnationalen Partei mit starken Wurzeln im neofaschistischen Milieu, schlug in die gleiche Kerbe.
Beim Ausbruch der Corona-Epidemie zeigte sich dann, dass die Union zwar über Instrumente der Kooperation verfügt, es aber den einzelnen EU-Staaten überlassen bleibt, solidarisch zu handeln oder eben nicht. Die ersten Appelle des italienischen Außenministers Luigi Di Maio, über den europäischen Civil Protection Mechanism Mundschutzmasken nach Italien zu schicken, verhallten ungehört. Im Gegenteil: Kurz darauf untersagte der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn den Export medizinischer Schutzausrüstung.
Andere EU-Länder machten ihre Grenzen für Reisende aus Italien dicht und führten Grenzkontrollen ein, die den Warenverkehr beeinträchtigten und die Lieferung medizinischer Güter erschwerten. „Die Italiener haben sich in dem Moment ziemlich allein gelassen gefühlt“, sagt die Philosophin Cinzia Sciuto. „Man fragte sich, wozu die EU denn überhaupt gut sei.“
Hilfe bekam Italien zuerst aus China, Kuba und Russland, die medizinisches Material und Ärzte schickten. Deutschland war etwas später dran. Es lieferte Schutzmasken und Beatmungsgeräte; Flugzeuge der Bundeswehr transportierten italienische Intensivpatienten in deutsche Krankenhäuser. Beides wurde von den italienischen Pro-Europäern beinah mit Erleichterung aufgenommen – die medizinische Hilfeleistung bot Argumentationshilfe gegen die Rechtspopulisten.
Denn das Vertrauen der Italiener in die Europäische Union hat in der Corona-Krise ein historisches Tief erreicht. Nach jüngsten Umfragen sind 72 Prozent von ihnen der Meinung, dass die EU bei der Bewältigung der Krise Italien gar nicht geholfen habe. Bezeichneten sich vor der Corona-Krise 64 Prozent der Italiener als glühende Europäer, tun es heute nur noch 49 Prozent. Und nur noch 25 Prozent haben Vertrauen in die Union.
Gäbe es jetzt Wahlen, würden die Lega und die Fratelli d’Italia 27 Prozent respektive 12,7 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Zusammen mit Berlusconis Forza Italia käme ein Bündnis der Rechtspopulisten auf 46,2 Prozent. Eine solche Regierung würde Italien aus der Eurozone hinausführen, womöglich auch aus der EU. Fraglich ist, ob die Union einen Italexit überleben würde.
Hinzu kommt, dass Italien sich seit einem Jahrzehnt in einer fast permanenten Rezession befindet. Seine Staatsschulden lagen schon vor Beginn der Corona-Krise bei 130 Prozent der Wirtschaftsleistung. Der Lockdown seiner Industriezentren im Norden hat die Produktion einbrechen lassen. Man rechnet mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts bis Juni um 10 Prozent. Seine Schulden zu bedienen, könnte für das Land bei einer sich verschärfenden Rezession unmöglich werden. Der Ökonom Ashoka Mody warnt, dass Italiens Krise auf den Finanzmärkten eine Kettenreaktion und eine Reihe von Pleiten auslösen würde.
Letztlich wird sich die Zukunft der EU an der Fähigkeit ihrer Mitglieder entscheiden, die ökonomischen Auswirkungen der Corona-Epidemie gemeinsam zu bewältigen. Handeln die Staaten nicht prompt und resolut, könnten die Folgen irreparabel sein, warnte der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi in der Financial Times. Es gelte zu verhindern, dass sich die Rezession zu einer Depression auswachse. Und der italienische Ökonom Emilio Carnevali erklärte, die EU müsse nun beweisen, dass sie nicht nur nicht stört, sondern einen Mehrwert hat. „Dass es für alle besser ist, in der Union zu sein als draußen. Wenn nicht jetzt, wann dann?“
Nach zähen Verhandlungen einigten sich die Finanzminister und Regierungschefs der EU auf ein 500 Milliarden starkes Hilfspaket. Ein europäisches Kurzarbeitergeldprogramm, ein Garantiefonds bei der Europäischen Investitionsbank für Unternehmenskredite und Kreditlinien beim Europäischen Stabilitätsmechanismus sollen die EU aus der Corona-Krise hinausführen. Doch derartige Kredite sind für Länder wie das hochverschuldete Italien eine vergiftete Handreichung. Sie würden den italienischen Schuldenberg und die Zinsaufschläge auf italienische Staatsanleihen wachsen lassen. Wäre das Land dann noch in der Lage, seine Schulden zu bedienen? Wackelt Italien, kommen die nächstschwächeren Staaten unter Beschuss der Spekulanten.
Warten auf die Solidaritätsgeste
Aus gutem Grund also treten Italiens Premier Giuseppe Conte und andere für eine gemeinsame Schuldenaufnahme der EU-Länder ein. Mal ist von einem Wiederaufbaufonds die Rede, mal von Corona-Bonds, sprich: zeitlich befristeten Eurobonds. Solche gemeinsam von den EU-Staaten emittierten Anleihen könnten die Zinsaufschläge für alle EU-Länder bezahlbar halten und eine Staatspleite Italiens oder Spaniens verhindern. Sie wurden in der Erklärung der Finanzminister zunächst einmal ausgeklammert.
Das entschiedene „Nein“ gerade der deutschen Kanzlerin Angela Merkel zu diesen Corona-Bonds hat in Italien eine Welle der Entrüstung ausgelöst. Denn jenseits der ökonomischen Betrachtung war es das Gegenteil von dem, was man von Deutschland erwartet hätte: irgendeine Form des Entgegenkommens, eine große Solidaritätsgeste. Etwas, das der antideutschen Stimmung entgegenwirken könnte, die sich seit der Eurokrise in Italien breitgemacht hat – befeuert von Rechtspopulisten, aus deren Warte die Union lediglich Deutschlands Instrument ist, mit der man seine wirtschaftliche Überlegenheit konsolidieren und damit eine politische Vormachtstellung in Europa erlangen will.
Die Corona-Krise ist, anders als die Eurokrise, nicht durch schlechtes Haushalten eines Staates ausgelöst worden. Wenn die Europäische Union nicht doch noch einen Weg findet, um die finanzschwächeren Staaten vor dem wirtschaftlichen Armageddon zu retten, das ihnen nach der humanitären Tragödie bevorsteht, dann ist das europäische Projekt tot.
„Wir hätten kein Argument mehr gegen die Rechtspopulisten, die Italien aus der EU hinausführen wollen“, sagt der Ökonom Carnevali. „Das Schreckgespenst einer wirtschaftlichen Katastrophe würde niemanden mehr abschrecken, wenn die Katastrophe schon da ist.“
Selbst wenn die EU nach der Euro- und der Flüchtlingskrise auch diese Bewährungsprobe besteht, kann sie nicht auf der Stelle bleiben. Solange sie nicht über Institutionen verfügt, die im Notfall rasch und unabhängig von der Zustimmung von 27 europäischen Regierungschefs handeln können, bleibt sie gefährdet. Länder wie Italien werden nie aus der Misere herauskommen, wenn man ihnen wie bisher haushaltspolitische Vorgaben macht, die sie zu weiteren Einsparungen zwingen, sie aber ansonsten sich selbst überlässt.
Nur eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik kann die Kluft zwischen Nord- und Südeuropa überbrücken. Und eine gemeinsame Gesundheitsbehörde, die über eigene Mittel verfügt und in der ganzen Union Standards durchsetzt, könnte sich einer Verbreitung von Pandemien wie SARS-CoV-2 wirksamer entgegenstemmen, als es dauerdiskutierende Ministerrunden je vermögen werden.
„Wir befinden uns an einem Scheideweg“, sagt die Philosophin Cinzia Sciuto. „Entweder wir gehen vorwärts oder zurück. Aber wohin zurück? Ein zersplittertes Europa würde ein Satellit Chinas werden.“
Aureliana Sorrento lebt und arbeitet als freie Autorin, u.a. für Deutschlandfunk, WDR, SWR und SRF, in Berlin.
Internationale Politik 3, Mai-Juni 2020, S. 30-33