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01. Mai 2020

Die infizierte Demokratie

Die Pandemie lässt Grenzen zurückkehren, Autokraten frohlocken und bedroht die Freiheit. Ihre Bekämpfung bietet der Weltgemeinschaft aber auch die größte Chance seit 1945.

Die Ausbreitung des Corona-Virus hat nicht nur eine globale Gesundheitskrise ausgelöst, sie befeuert auch eine politische Krise: Es droht eine Pandemie des Autoritarismus, des Nationalismus, des wirtschaftlichen Isolationismus und der ausländischen Einflussnahme; es droht ein Szenario, das die USA und ihre europäischen Verbündeten seit 1945 mit aller Macht abwenden wollten – und das sie mit Bündnissen und der Schaffung internationaler Institutionen stets zu verhindern suchten. Es ist höchste Zeit, dass sich die Demokratien im transatlantischen Raum gegenseitig helfen und die internationale Ordnung gemeinsam gegen die autoritäre Bedrohung verteidigen.

Ihre soziale Offenheit macht westliche Nationen verwundbarer als autokratische Regimes. Nur eingeschränkt können sie das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger kontrollieren. In Diktaturen wie Russland und China unterliegt man in dieser Hinsicht nicht den gleichen rechtlichen Zwängen. Gleichzeitig wittern sowohl die Kommunistische Partei Chinas als auch der Kreml in der Corona-Krise ihre Chance, ihren Einfluss auf Kosten der Demokratie auszuweiten. Und als wäre dies nicht genug, nutzen Machthaber den Deckmantel der Krise, um ihren politischen Einfluss zu konsolidieren – und riskieren dabei die demokratische Integrität der EU.



Wenn sich das Chaos der unmittelbaren Krise erst einmal gelegt hat, werden sich sowohl die USA als auch Europa in einer Weltordnung wiederfinden, die sich durch COVID-19 tiefgreifend verändert hat. Die westlichen Demokratien werden sich mit neuen Kräfteverhältnissen zwischen Staat und Wirtschaft konfrontiert sehen; Regierungen werden neue Befugnisse haben – nicht nur in der Überwachung ihrer Bürger, sondern auch in der Verwaltung des Gesundheitssektors; der Druck auf die etablierten politischen Parteien wird steigen, sowohl von der linken als auch von der rechten Seite; der Migrationsdruck wird zunehmen, da Staaten im Nahen Osten und in Afrika der Epidemie nicht gewachsen sein werden; die politische Einflussnahme aus dem Ausland wird größer werden, insbesondere durch den finanziellen Druck aus Russland und China; und nicht zuletzt werden die Rufe der Bürgerinnen und Bürger nach sozialen Auffangnetzen und dem Wohlfahrtsstaat angesichts der Pandemie lauter werden.



Die Themen Demokratie und Regierungsführung werden in dieser neugeordneten Welt relevanter denn je sein, da die staatlichen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die Krise schon heute Risse und Schwachstellen der demokratischen Ordnung ans Tageslicht befördert haben. In ganz Europa ist bereits zu sehen, wie diese Bruchstellen von China und Russland zum eigenen Vorteil genutzt werden. Gleichzeitig werden die Folgen der Notmaßnahmen, der gesellschaftlichen Kontrolle und der staatlichen Überwachung noch lange nachhallen.



Das Comeback der Grenze

Diejenigen, die von der Überlegenheit demokratischer Regierungsformen überzeugt sind und glauben, dass sie die besten Ergebnisse für Bürgerinnen und Bürger erzielen, müssen sich schon jetzt auf den Kampf der Narrative vorbereiten, der nach der Pandemie entbrennen wird. Schon mitten in der Krise werden vier potenzielle Bedrohungen für die etablierten demokratischen Systeme der Nachkriegszeit offenbar.



Kurzfristig bedeutet das Corona-Virus natürlich eine enorme Belastung für die Freizügigkeit. Die meisten EU-Mitgliedstaaten haben ihre Grenzen faktisch geschlossen und damit eines der Grundprinzipien der europäischen Integration außer Kraft gesetzt. Gleichzeitig nutzt manch ein Staats- oder Regierungschef die Gelegenheit, um seine politische Kontrolle zu festigen und Institutionen zu schwächen, die der Exekutive im Wege stehen. In Ungarn hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das es Premierminister Viktor Orbán erlaubt, per Notverordnung zu regieren. In Serbien und in der Türkei haben die Regierungen die Krise genutzt, um noch härter als ohnehin schon gegen die Presse und die Opposition vorzugehen.



Politische und zivilgesellschaftliche Führungsfiguren werden dort eingreifen müssen, wo demokratische Prozesse umgangen werden und wo autoritäre Politiker versuchen, den Ausnahmezustand für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen.



Nicht zuletzt deshalb ist es besonders wichtig, dass Europäer und Amerikaner ihre demokratischen Institutionen stärken. Sowohl die EU als auch die europäischen Nationalstaaten beherbergen ein großes Netzwerk solcher Organisationen – und die USA ebenso. Nur wenn sie zusammenarbeiten, könnte die tatsächliche Lehre aus der Krise am Ende eine prodemokratische sein: dass bürgernahe Regierungen, die mit den Menschen, denen sie dienen, kommunizieren und auf deren Bedürfnisse reagieren, nicht nur die besten Krisenmanager sind, sondern auch für das langfristige Wohl des Gesundheits- und des Wirtschaftssektors unerlässlich. Eine koordinierte Reaktion könnte auch neues Vertrauen zwischen Regierungen und Bürgern schaffen, politische Führungskräfte in der Krisenbewältigung unterstützen und lokale zivilgesellschaftliche Initiativen stärken.



Da verschiedene Staaten in der transatlantischen Gemeinschaft gerade mehr Kontrolle über ihre Wirtschaft übernehmen, müssen wir uns zudem auf eine Debatte über die „industrielle Selbstversorgung“ einstellen, wenn wir in der Mainstreampolitik und im staatlichen Handeln Fortschritte erzielen wollen. Nur wenige Länder werden in Zukunft darauf erpicht sein, dass ihre pharmazeutischen Versorgungsketten am Tropf von China oder anderen ausländischen Ökonomien hängen. Die Frage ist, ob dies lediglich zu einer leichten Neujustierung der globalisierten Welt führen wird oder ob konkrete Forderungen nach einer Art nationaler Selbstversorgung aufkommen werden. Sollte Letzteres der Fall sein, dann droht uns sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten eine Rückkehr zum Isolationismus und zur politischen Introspektion der 1930er Jahre. Auch dies würde uns eine der wichtigsten Errungenschaften der Nachkriegszeit kosten: den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr.



Die Versuchung der Autarkie

Nicht die schwerfälligen bürokratischen Behörden, sondern die privaten Konzerne auf beiden Seiten des Atlantiks werden innovative medizinische Lösungen für die Menschen auf den Weg bringen. In diesem Sinne erwarten die Bürgerinnen und Bürger vielleicht zu viel von ihren überforderten Regierungen. Und sind die kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht mehr in der Lage, die nationalen Wirtschaften aus der Rezession zu führen – also Mitarbeiter wieder einzustellen und ihre Produktion wieder hochzufahren –, dann werden auch Finanzspritzen vom Staat nicht mehr helfen können. Zudem wird es keiner Nation gelingen, aus eigener Kraft einen innovativen Weg aus der Krise zu finden. Institutionalisierte und multilaterale Formen der Zusammenarbeit werden bei der Erarbeitung grenzübergreifender Lösungen für die Pandemiefolgen von zentraler Bedeutung sein. Wirtschaftliche und politische Mauern zu errichten würde nur für mehr strategischen Spielraum für China und Russland sorgen und ihnen neue Einflusssphären – nicht zuletzt in Ost- und Südeuropa – eröffnen.



Es ist inzwischen medizinisch belegt, dass Menschen je nach Alter sehr unterschiedlich von COVID-19 betroffen sind: Während ältere Menschen besonders anfällig für das Virus sind und im Verlauf der Erkrankung oft an schon bestehenden Grunderkrankungen sterben, weisen jüngere Menschen eine viel höhere Überlebensrate auf. Für Gesellschaften wie jene in Südeuropa, insbesondere für Spanien und Italien, stellt dies eine eklatante Schicksalswende dar, waren dort doch zuletzt noch die Millennials und die Generation Z die sozial und wirtschaftlich am meisten gefährdeten Alterskohorten. Nun sind es die Alten, die vor der existenziellen Krise stehen und sich durch eine Jugend bedroht fühlen, die ihren Lebensstil nicht ändern will. Dies könnte nachhaltige Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Generationen haben und zu politischen Spannungen führen.



Darüber hinaus zeigen Studien, die das International Republican Institute in Europa durchgeführt hat, dass die jüngeren Generationen – selbst in fortschrittlichen Demokratien – immer seltener daran glauben, dass die Demokratie die bestmögliche Regierungsform ist. Es ist klar, dass wir eine transatlantische Antwort auf die Sorgen der jüngeren Generationen finden müssen, die nicht nur durch die jüngste Pandemie, sondern auch durch den Druck der Finanzkrise von 2008 nachhaltig geprägt worden sind. Die Jugend hat einen völlig anderen Bezugsrahmen zur Realität als jene, die im Kalten Krieg kämpften und 1989 als die krönende Errungenschaft der Neuzeit betrachteten.

Als ob aber der akute innenpolitische Druck auf die demokratischen Systeme nicht schon Herausforderung genug wäre, wird sich die transatlantische Gemeinschaft nach der Corona-Pandemie auch gegen die aggressive Einflussnahme autoritärer Regimes wehren müssen.



Die drei südlichen europäischen Halbinseln sind vor diesem Hintergrund die wirtschaftlich verwundbarsten Zonen – und auch die Gebiete, die bisher am stärksten von der Pandemie betroffen sind. In Italien und Spanien hat der hohe Grad sozialer Kontakte im öffentlichen Raum zur raschen Ausbreitung des Virus beigetragen. Seit Beginn der Ausgangssperren haben viele Bürgerinnen und Bürger in der Region zudem die Meinung geäußert, Verbündete und vermeintliche Freunde wie die EU und die Vereinigten Staaten hätten sie im Stich gelassen. Dabei war die gegenseitige Unterstützung westlicher Verbündeter qualitativ tatsächlich weitaus besser als die mitunter mangelhafte medizinische Hilfsversorgung, die aus China und Russland angeboten wurde.



Die chinesische und die russische Propaganda haben sofort reagiert und Imagekampagnen eingeleitet, die nicht zuletzt europäischen Regierungen schaden sollen. Die Kommunistische Partei Chinas versucht dabei mit allen Mitteln, Verwirrung über die Herkunft des Virus zu schüren (und behauptet gar, die USA oder Italien seien das Epizentrum des Corona-Ausbruchs gewesen). Gleichzeitig versucht Peking, seinen Ruf mit der Lieferung von Masken und medizinischer Ausrüstung unter anderem nach Italien und Serbien aufzupolieren. Politiker aus diesen Ländern haben die KPCh bereits für ihre Großzügigkeit gelobt – und in Serbien brachte zuletzt sogar Präsident Aleksandar Vučić seine Dankbarkeit zum Ausdruck. Russland hat derweil Armeesanitäter und Ausrüstung nach Italien und Griechenland geschickt, um die Krise dort zu bekämpfen, gleichzeitig jedoch die Corona-Fälle im eigenen Land ignoriert. Der Subtext dieser Bemühungen lautet: „Wir sitzen alle in einem Boot.“ Auf lange Sicht soll das die EU wohl dazu bewegen, die Ukraine-Sanktionen gegen Moskau aufzuheben.



Propaganda wertet Demokratien ab

Ebenfalls Teil der Propaganda aus Peking und Moskau sind die Verherrlichung ihrer Regime und die Abwertung demokratischer Traditionen. In China stehen dabei vor allem die Heldentaten von Präsident Xi Jinping und der KPCh im Mittelpunkt. Das Narrativ: Im Gegensatz zu den untauglichen Regierungen der westlichen Demokratien hätten die chinesischen Behörden alles Menschenmögliche getan, um das Virus aufzuhalten. Dabei waren es gerade Chinas Unterdrückung medizinischer und medialer Berichterstattung über das Virus und die Abstrafung besorgter Lokalbeamter zu Beginn der Krise, die es der Krankheit erlaubten, sich zu einer globalen Pandemie zu entwickeln.



Der Kreml verhielt sich so, als hätte COVID-19 Russland nie erreicht, und schickte die ohnehin knappen medizinischen Versorgungsgüter lieber ins Ausland. Tatsächlich schien das Land nach dem Ausbruch des Corona-Virus mehr Ressourcen für den Informationskrieg gegen den Westen aufzuwenden als für den Schutz der russischen Bevölkerung.



Doch das Blatt scheint sich langsam zu wenden. Zum einen kamen bald immer mehr Berichte über gegenseitige europäische Hilfsleistungen und die amerikanische Krisenhilfe ans Tageslicht. Und zum anderen wird immer deutlicher, dass die „Unterstützung“ Chinas nicht kostenlos ist, sondern von chinesischen Diplomaten als Druckmittel für politische und wirtschaftliche Deals genutzt wird. Nichtsdestotrotz waren der chinesische und der russische Einfluss schon vor der Krise ein großes Problem – und es gibt allen Grund zu der Annahme, dass er es auch danach sein wird.



Der Weg in die Zukunft

Europäer und Amerikaner sollten sich klar machen, dass Peking und Moskau ein strategisches Interesse daran haben, das transatlantische Bündnis zu schwächen, um ihren eigenen Einfluss auszuweiten. Der Kreml will den europäischen Zusammenhalt untergraben und auf Kosten Brüssels eine russische Einflusssphäre im Osten Europas aufbauen. Dabei besteht die Gefahr, dass die unabgestimmte und verspätete Reaktion der atlantischen Verbündeten auf die Pandemie die demokratischen Systeme in den Augen der Öffentlichkeit diskreditiert hat.



Um diesen Herausforderungen zu begegnen, müssen die transatlantischen Demokratien anfangen, über die politische und gesellschaftliche Ordnung nach der Pandemie nachzudenken. Zuerst werden sie dafür sorgen müssen, dass die vorübergehenden Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus auch vorübergehend bleiben. Notstandsbefugnisse, staatliche Überwachung und die Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht zur Norm werden. Es gilt, eine grundlegende Wahrheit zu schützen: dass die Souveränität beim Volk liegt und nicht bei politischen Eliten, die an der Macht kleben.



Des Weiteren müssen demokratische Regierungen der Versuchung widerstehen, ihre Volkswirtschaften aufgrund der Krise voneinander abzukoppeln. Sie dürfen nicht der Fantasie verfallen, dass jeder Staat seine eigene Infrastruktur aufbauen und autark werden kann. Die wirtschaftliche Globalisierung hat zur Entstehung einer weitestgehend bürgerlich geprägten Welt beigetragen, ein Novum in der Geschichte der Menschheit. Zwar werden Staaten nach der Pandemie auf dem internationalen Markt mehr Vorsicht walten lassen. Doch ohne ein offenes internationales Handels- und Investitionsregime werden der Wiederaufbau und die Schaffung von neuem Wohlstand unmöglich sein. Europa und die Vereinigten Staaten könnten sogar in Betracht ziehen, ein wirtschaftliches Äquivalent zur NATO zu gründen, um ihr geistiges Eigentum zu schützen, Lieferketten und Innovationsnetzwerke zu konsolidieren und offene Märkte zu kreieren.



Zu guter Letzt werden die Demokratien in Europa und Amerika ihre Kapazitäten zur Abwehr ausländischer Einflussnahme weiterentwickeln müssen. Ansonsten drohen die demokratischen Institutionen und der demokratische Zusammenhalt von der Propaganda autoritärer Regimes untergraben zu werden. Es gilt dabei nicht nur die Bürgerinnen und Bürger vor russischen und chinesischen Falschnachrichten zu schützen, sondern auch die Informationsblase zu durchstechen, die Zivilgesellschaften in Russland und China den Zugang zu objektiver Berichterstattung verwehrt und sie dazu bringt, die zutiefst antiwestliche Propaganda ihrer Regierungen zu glauben.



Nach dem Zweiten Weltkrieg meisterten Europa und die USA, alte und neue Demokratien die Probleme der Welt und bauten die wohlhabendste und freieste Staatengemeinschaft der Geschichte auf. Die aktuelle Krise könnte eine ähnliche Chance bieten. So wie frühere Feinde ihre unmittelbare Vergangenheit hinter sich ließen, um Europa wieder aufzubauen, müssen auch die transatlantischen Partner der Gegenwart ihre Differenzen begraben. Krisen bieten immer auch die Möglichkeit, sich auf das zu besinnen, was am wichtigsten ist – nach der durch COVID-19 verursachten Gesundheitskrise wird das der Schutz politischer Freiheiten und demokratischer Institutionen sein. Sie ermöglichen es freien Staaten, zusammenzuarbeiten, ihren Bürgern zu dienen und ihnen Sicherheit und Wohlstand zu garantieren.



So wie das Corona-Virus eine tödliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellt, stellt der aggressive Autoritarismus der revanchistischen Großmächte eine tödliche Gefahr für die amerikanische und europäische Position in der Welt dar. Politische Resilienz aufzubauen, um die Demokratie sicher durch die Pandemie zu bringen, wird genauso wichtig sein wie die Entwicklung eines Impfstoffs gegen COVID-19 und die Rettung der öffentlichen Gesundheitssysteme – und des öffentlichen Vertrauens in die Politik.

Jan Surotchak ist Senior Director für Transatlantische Strategie am International Republican Institute (IRI) in Washington, D.C.

Dr. Daniel Twining ist Präsident des IRI.





Übersetzung aus dem Englischen: Kai Schnier

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2020, S. 20-25

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