Denkmalschänder und Hintermänner
Russen und Esten ringen um ihre Vergangenheit
Blut und Tränen gegen Estland: Moskaus Edelfedern auf den Barrikaden
Seit Wochen fiebern Russlands Medien. Staatsfernsehen und Massenzeitungen, aber auch analytische Zeitschriften und Wochenblätter lodern in glühender Empörung gegen den kleinen Nachbarn Estland: Ende April ließ die estnische Regierung ein sowjetisches Kriegerdenkmal im Stadtzentrum der Hauptstadt Tallinn, den so genannten „Bronzesoldaten“, demontieren. Danach kam es zu Ausschreitungen zwischen der Polizei und meist russischsprachigen Demonstranten. Und seitdem verspritzen die edelsten Federn der Moskauer Journaille Blut und Tränen gegen die Esten. Obwohl diese den Bronzesoldaten inzwischen mit militärischen Ehren auf einem Soldatenfriedhof in Tallinn wieder aufgestellt haben.
„Aufstand der Russen“ betitelt Witalij Tretjakow, Chefredakteur der Moskowskije Nowosti, seinen Beitrag (4. Mai 2007) zur Verlegung des „Bronzesoldaten“, die er als „verlorene Schlacht“ bezeichnet. Einerseits habe es Russlands Beamten an „Ehre“ gefehlt, um rechtzeitig eine klare Position gegenüber der „schmutzigen“ Operation der estnischen Denkmalschänder zu formulieren. Andererseits stehe hinter den Esten eine unheilige Koalition aus USA, NATO und EU. „Eine Koalition, die Estland im Kampf gegen ein Denkmal unterstützt hat, das Soldaten ehrt, die im Krieg gegen Hitler gefallen sind.“ Eine „profaschistische“ und „antirussische Koalition“, folgert er. „Es scheint, als seien heute Russland und das Weltjudentum die letzten antifaschistischen Kräfte. Alle übrigen ergeben sich willig der Gnade des vor über 60 Jahren überwundenen Hitlerismus und vor allem der Gnade derer, deren Väter und Großväter mit diesem Hitlerismus kollaboriert haben. Sowohl bei der Vernichtung der Juden als auch im Kampf gegen Russland.“ Danach widmet sich Tretjakow den längst wieder abgeflauten Straßenunruhen in Tallinn und anderen estnischen Städten. Er bezeichnet sie – weit näher an den Realitäten – als „spontanen politischen Aufstand der Jugend gegen das ethnokratische Regime“ in Estland.
Um aus der verlorenen Schlacht doch noch einen gewonnenen Krieg zu machen, bläst Tretjakow zum großen ethnischen Feldzug. Russland, so fordert er, müsse die russische Nation endlich offiziell zur geteilten Nation erklären. Und die Verpflichtung auf sich nehmen, „mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Rechte der Russen (zumindest die Gleichberechtigung mit anderen Völkern) sicher zu stellen, die in den Ländern auf dem ehemaligen Territorium der Sowjetunion leben. Dann erhält Russland die juristischen, politischen und moralischen Grundlagen für alle notwendigen Maßnahmen.“
Tretjakow legt sich keine Rechenschaft darüber ab, dass solche Rhetorik an die „Heim ins Reich“-Argumente erinnert, die im Hitler-Deutschland vor 1939 zu hören waren. Und Tretjakow verzichtet darauf zu konkretisieren, wie die „notwendigen Maßnahmen“ aussehen könnten, um die Rechte ethnischer Russen nicht nur im Baltikum, sondern auch auf der Krim, in Kasachstan oder Transkaukasien durchzusetzen. Stattdessen endet er wieder in Klage: Über die russischen Botschafter in den postsowjetischen Ländern, ihre Unentschlossenheit und Trägheit. „Ich weiß, wen ich konkret meine. Aber weiß man das auch im Kreml?“ Wenn es um Kritik am Kreml geht, dann stellen auch Moskaus bissigste Chefredakteure nur noch zaghafte Fragen. Der Artikel „Echo eines vergangenen Krieges“ von Olga Wlasowa in der Wirtschaftszeitschrift Expert (7.– 13. Mai 2007) bemüht sich zumindest stilistisch um mehr Zurückhaltung. „Um die Logik der Esten zu verstehen“, erklärt Wlasowa, „muss man die estnische Version der Geschichte des 20. Jahrhunderts kennenlernen“. Dazu zitiert sie estnische Politiker und Publizisten, unter anderem einen anonym bleibenden Journalisten, der die Vorliebe seiner Landsleute für die Nazideutschen gegenüber den Sowjetrussen mit ihrem Rassedenken erklärt: „Obwohl die Deutschen auch Unterdrücker waren, stehen sie auf der hierarchischen Treppe der Nationen höher als die Esten, deshalb waren diese bereit, sich der höheren deutschen Ordnung zu unterwerfen. Die Russen aber standen für sie niedriger, waren Barbaren.“
Laut Wlasowa sind die Esten Rassisten, aber pragmatisch. Der estnische Ministerpräsident Andrus Ansip habe den Denkmalsturz auch betrieben, um Russland zu provozieren und mit einem äußeren Feindbild von der drohenden Wirtschaftskrise abzulenken, wie die Autorin von einem – wieder anonym bleibenden – estnischen Parlamentarier erfährt. Weiter beklagt sich auch Wlasowa über die Diskriminierung der Russen in Estland – sie verweist als Beleg sogar auf einen Bericht von Human Rights Watch, eine der Menschenrechtsorganisationen, die die Moskauer Medien, wenn es um ihre Arbeit in Russland geht, mit penetranter Vorliebe als Handlanger des Westens beschimpfen. Hinter all dem sieht auch Wlasowa wie Tretjakow ein allgemeines „europäisches Phänomen“: „die Umbewertung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs“. Ziel sei es, Russland aus dem Rang einer Siegermacht über den Faschismus zu einem der Länder zu degradieren, die Verbrechen begangen hätten, ja fast Hitlers Verbündete gewesen seien.
Und Wlasowa ärgert sich, dass der estnische Expremier Mart Laar angesichts des Hitler-Stalin-Paktes von Russland eine Entschuldigung fordere. Russland habe längst bereut, und zwar schockartig, „in so expressiver Form, dass man sie voll und ganz mit dem Schuldgefühl vergleichen kann, das mehrere Generationen der Deutschen hatten“.
Ein ziemlich missglückter Vergleich: Die halbherzige russische Geschichtsdiskussion der Perestrojka wurde abgebrochen, bevor sich die Stalinschen Verbrechen gerade an nichtrussischen Völkern auch nur ansatzweise im Bewusstsein der Russen festsetzen konnten. Stattdessen werden Stalin und seine Taten seit Jahren schleichend heroisiert. Wlasowa aber unterstellt dem Westen heimtückische psychologische Kriegsführung gegen die russische Seele. Für den Westen sei „ein aussterbendes Russland, das den Glauben an sich selbst verloren und sich in die eigene Vergangenheit verbissen hat, ein bequemerer Partner“. Dahinter steckten „bestimmte europäische Eliten“, die, wie die estnischen Vorfälle zeigten, jetzt Ernst machen wollten. Um deren Machenschaften zu stoppen, fordert Wlasowa, müsse Russland die sowjetische Geschichtsschreibung auf europäischer Ebene durchsetzen: „Die Geschichte des Krieges und des Sieges, die unantastbaren Ergebnisse nicht nur in Form der Grenzen, sondern auch von Symbolen wie Denkmälern und Kriegsgräbern“, die die Sowjetdiktatur vererbt hat, sollen also im wahrsten Sinne des Wortes zementiert werden.
Wie Tretjakow demonstriert auch Wlasowa das aktuelle Geschichtsbild der russischen Elite: von sowjetischen Propagandafilmen geprägte Selbstgerechtigkeit. Dass die Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 mit den deutschen Aggressoren gemeinsame Sache gegen Polen machte, sich in Absprache mit Nazideutschland 1940 auch Estland einverleibte, wird von der Masse der russischen Medien heute schlichtweg ignoriert.
„Streit unter Esten“ nennt Wladimir Solowjow seinen Beitrag in der Wochenzeitschrift Kommersant Wlast (7. Mai 2007) – einer der wenigen russischen Autoren, die ohne Scheuklappen nach den Ursachen und Verantwortlichen für den Medienkrieg um das Denkmal in Tallinn suchen. Solowjow zitiert estnische Politiker nicht, um sie zu diskreditieren, sondern um sie den russischen Lesern verständlich zu machen. Etwa Bildungs- und Forschungsminister Tynis Lukas, der den Bronzesoldaten nicht zu Unrecht als Reviermarke der sowjetischen Sieger interpretiert. „‚Er ist ein Symbol des Sieges, aber nicht für die Esten. Für die Esten ist er ein Symbol der Okkupation, weil der Sieg der Sowjetstreitkräfte von einer Reihe von Verbrechung gegen die lokale Bevölkerung begleitet wurde.‘“ Solowjow nimmt die historischen Erfahrungen der Esten mit der sowjetischen Machtpolitik als Argument für ihre antirussischen Phobien ernst, vor allem vor dem Hintergrund des neuen Großmachtgehabes von Wladimir Putin. Mit dem hätten es ja auch schon die Ukraine, Moldawien oder Georgien zu tun bekommen.
Auch Solowjow verweist auf die Diskriminierung der russischstämmigen Einwohner in Estland, von überteuerten Estnischkursen bis zu fehlenden Aufstiegschancen für Angestellte mit russischem Nachnamen. Laut Solowjow haben zwei Drittel der russischstämmigen Einwohner des Landes die estnische Staatsbürgerschaft noch immer nicht erhalten, Armut und Arbeitslosigkeit treffen vor allem sie. „Die Mehrheit derer, die den Bronzesoldaten verteidigten, wollte damit ihren Protest gegen diese ihrer Meinung nach ungerechte Politik zum Ausdruck bringen.“
Aber im Gegensatz zur Masse seiner russischen Kollegen gesteht Solowjow auch ein, dass viele der Denkmal-Demonstranten schlichtweg Marodeure gewesen seien, die Geschäfte und Kioske geplündert hätten. Und sein Artikel wird nicht nur mit Bildern von plündernden Jugendlichen in Tallinn illustriert, sondern auch mit dem Bild eines Kriegerdenkmals in einer russischen Kleinstadt, von dem nur die Füße übrig geblieben sind, nachdem es 1995 von Metalldieben abgesägt wurde. Ein Hinweis auf die Heuchelei, die sich in das Gezeter der russischen Denkmalshüter mischt.
Als Ergebnis des estnisch-russischen Propagandakriegs prophezeit Solowjow Russland Schwierigkeiten mit der EU, während er der estnischen Regierung konstatiert, sie stehe vor einem innenpolitischen Trümmerhaufen. „Niemand (in Estland) versteht, was die Behörden daran gehindert hat, zivilisierter mit dem Bronzesoldaten umzugehen.“
Solowjow verweist zu Recht darauf, dass auch die estnischen Medien in dem Konflikt um den Bronzesoldaten einseitige Propagandatiraden statt Informationen verbreitet haben, ganz zu schweigen von den offiziellen Stellen. „In den letzten Wochen zeigten sich die estnische wie die russische Staatsmacht von ihrer schlechtesten Seite. Jeder benutzte den Bronzesoldaten für eigennützige Ziele. Recht hat in dieser Geschichte keiner behalten.“ Europa hat allen Grund, sich über das Niveau der politischen Kultur in seinem Mitgliedstaat Estland zu wundern. Aber es hat auch Grund, sich zu fragen, wohin die populistisch-nationalistischen Feindbildparolen, mit denen der Kreml die eigene Öffentlichkeit malträtiert, den großen russischen Nachbarn noch führen werden.
STEFAN SCHOLL, geb. 1962, lebt als freier Autor in Twer, Russland. Zuletzt erschien von ihm „Aus dem macht ihr keinen Menschen mehr“ (2004).
Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 142 - 145.