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01. Dez. 2006

Denken in alternativen Zukünften

Szenarien, inderdisziplinär erarbeitet, können aussagekräftige Modelle liefern

Wissenschaft, Wirtschaft und Politik
müssen sich den komplexen Phänomenen, die mit den gewaltigen gesellschaftlichen
und staatlichen Umbrüchen unserer Zeit einhergehen, analytisch stellen. Eine
Methode, das zu tun, ist die interdisziplinäre Szenarien-Technik. Mit ihrer
Hilfe lässt sich die Pluralität möglicher Zukünfte „neu denken“.

Der Economist formulierte 1930 folgenden wunderbaren Gedankengang: „Die vordringlichste Schwierigkeit unserer Generation … ist es, dass unsere Leistungen auf der ökonomischen Ebene unseren Fortschritt auf der politischen Ebene in einem solchen Maße überholt haben, dass unsere Ökonomie und unsere Politik ständig und weit auseinander fallen. Auf der ökonomischen Ebene ist die Welt inzwischen zu einer einzigen, alles umfassenden Einheit des Handelns geworden. Auf der politischen Ebene ist sie nicht nur noch immer in … Nationalstaaten aufgeteilt, sondern die nationalen Einheiten sind stetig kleiner geworden, und das Nationalbewusstsein ist noch angewachsen.“1

Nun wurde durch die Gründung unterschiedlicher internationaler politischer Institutionen dieser Zustand nach dem Zweiten Weltkrieg relativiert. Die Politik operiert verstärkt in vielfältigen internationalen Kontexten und bezieht unterschiedliche Standpunkte und Anschauungen in ihre jeweiligen Überlegungen ein. Gerade unter diesen Bedingungen scheint es mehr als ambivalent, die Entwicklung der eigenen Herangehensweise als „Sachzwang“ und als alternativlos zu beschreiben. Solche Aussagen provozieren vermehrte Unsicherheit. Auf der einen Seite wird ein „Denken in Varianten und Alternativen“ notwendig, auf der anderen Seite wird das eigene politische Handeln als scheinbar alternativlos beschrieben. Eine paradoxe Situation, die noch dadurch verstärkt wird, dass die Leistungen auf der „ökonomischen Ebene“ im Angesicht der Herausforderungen, die sich aus dem Klimawandel und den ökologischen Problemstellungen ergeben, selbst auf dem Prüfstand der Nachhaltigkeit stehen.

Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen: Was kann in der gegenwärtigen Zeit als gesichert gelten? Was sollte neu durchdacht und gelernt werden? Sind die überkommenen Bilder, theoretischen Konstrukte und Begriffe überhaupt hinreichend, um diese Veränderungen zu beschreiben? Sind die Wissenschaften nicht im viel stärkeren Maße gefordert, diese theoretische Arbeit über die „Hoheit der Begriffe“ zu verstärken? Es gilt also der Gedanke von Joseph Beuys, dass „vor der Frage: Was können wir tun? ... der Frage nachgegangen werden (muss): Wie müssen wir denken?“.

Entfaltung komplexer Phänomenwelten

Sich diesen Fragen zu nähern bedeutet, die Umfelder des eigenen Gegenstands und Handelns zu bestimmen. Große politische Institutionen haben dabei sicherlich andere Schwerpunkte in den Blick zu nehmen als wirtschaftliche Organisationen. Trotzdem müssen sich beide den neuen komplexen Phänomenen analytisch stellen und ihre jeweiligen Schlussfolgerungen ziehen.

Da sind erstens die gewaltigen Umbrüche im innergesellschaftlichen und staatlichen Rahmen seit 1989 zu benennen, die mit Umbrüchen in der internationalen Welt in Wechselwirkungen treten und mit dem allgemeinen Begriff der „Globalisierung“ kaum ausreichend zu beschreiben sind. Der Begriff „Globalisierung“ im Singular verdeckt sogar die Konflikte in diesen Umbrüchen. Die angelsächsische Strategie von Globalisierung, wie sie sich seit dem Ende der achtziger Jahre herausgebildet hat, befindet sich schon längst in Auseinandersetzung mit industriepolitischen Strategien der Globalisierung, wie sie von vielen neuen globalen Staatsakteuren (China, Russland, Saudi-Arabien etc.) betrieben werden, und zunehmend auch mit Strategien der Renationalisierung (Venezuela, Bolivien). Welche Ergebnisse werden diese Konflikte bringen? Haben wir es hier wirklich mit einem Wettkampf zwischen verschiedenen Gesellschaften zu tun, bei dem es am Ende nur einen Sieger geben kann? Oder versperrt diese Perspektive nicht eher die Möglichkeiten, ein „Denken in Alternativen“ real voranzutreiben?

Es sind zweitens die Dynamiken in den Rohstoff- und Energiemärkten zu berücksichtigen, die in der europäischen Öffentlichkeit mit Sorge beobachtet werden; sie können eine substanzielle Wirkung auf die westliche Lebensweise und westliche Volkswirtschaften haben. Es besteht die Sorge, dass die gewohnten Spielregeln für den Zugang zu den Energieressourcen durch die Produzentenländer so verändert werden, dass die Stabilität auf der Seite der Konsumenten nicht in ausreichendem Maße gegeben ist. Zugleich verstärkt sich die Gewissheit, dass die Art der Nutzung fossiler Brennstoffe die klimatischen und ökologischen Probleme verschärft.

Zu prüfen wäre, welche Veränderungen in den Märkten eintreten können, wenn Unternehmen mit starker staatlicher Unterstützung und bester Finanzausstattung aus den Produzentenländern Osteuropas, Zentralasiens oder des Nahen Ostens zukünftig direkt auf die europäischen Konsumenten zugehen. Wechselseitige Vorwürfe helfen nicht weiter. Sind die weltweiten Rohstoff- und Energiemärkte wirklich in einem Zustand, der den Erfordernissen entspricht und nachfolgenden Generationen neue Möglichkeiten erschließt? Welche neuen internationalen Regulierungen werden sich herausbilden?

Drittens ist auf sicherheitspolitische Risiken und Konflikte in unterschied-lichen Regionen zu verweisen, deren potenzielle Rückwirkungen auf die relativ stabilen Gesellschaften im „Westen“ mehr als offensichtlich sind. Gefährdungen der Funktionsfähigkeit von Infrastrukturen und logistischen Ketten durch Terrorakte und Kriege gehören heute schon zum Alltag vieler Gesellschaften in der Welt. Wird diese sicherheitspolitische Entwicklung sich auf Dauer festsetzen oder werden gesellschaftliche Modernisierungsstrategien sie wieder eingrenzen?

Viertens sind auch die technologischen Umbrüche im IT-Sektor, der Gen- und Medizintechnik, der Nano- und Energietechnologie in die Betrachtung einzubeziehen, die unsere Alltagswelt radikal verändern und längst dazu führen, dass unsere Welt wahrhaftig zum Dorf geworden ist. Heute werden die Produkte für die Welt von Morgen entworfen. Ihr Erfolg oder Misserfolg hängt davon ab, wie Menschen morgen leben, ob und wie sie arbeiten, wie Politik, Gesellschaft und Technik sich entwickeln werden.

Die Wachstumsprinzipien unseres Wirtschaftens sollten fünftens ebenfalls überdacht werden. Ein Wirtschaften nach dem Slogan des „überall“ und „zu jeder Zeit“, das sich aus den überkommenen technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen herausbildete, stößt sich schon längst an den klimatischen Möglichkeiten und ökologischen Erfordernissen des Planeten. Werden uns Technik und Technologie helfen, Wege aus der Sackgasse zu finden, um neue Pfade der Entwicklung einzuleiten?

Da die Wechselwirkungen und treibenden Kräfte zwischen diesen fünf großen Themenfeldern im eigentlichen Interesse der analytischen Arbeit liegen, stellt sich die Frage, auf welche Weise man sich diesen Komplexitäten und langfristigen Wirkungen nähert. Deutlich ist, dass einzelne Wissenschaftler oder auch Fachdisziplinen kaum dazu in der Lage sind, umfassende Bilder von möglichen Zukünften zu entwickeln. Kann dabei die systematische Betrachtung von Zukünften, und in diesem Zusammenhang die Szenario-Technik, helfen?

Zukunftsforschung in Organisationen

Visionen von Zukunft beziehungsweise von möglichen künftigen Tendenzen gehören zum Bestand kollektiver Vorstellungen in den Gesellschaften. Sie dienen der Orientierung, bilden die Basis für das Engagement von Individuen wie von Organisationen – ob pro oder kontra – und sind Teil von Entscheidungsprozessen. Zukunftsforschung steht wie ihre nichtwissenschaftlichen Vorläufer vor dem Problem, dass gewonnene Aussagen häufig danach beurteilt werden, ob sie wahr oder falsch seien. Wenn zugleich unterstellt wird, dass Prognosen Realität beschreiben, sind die Grundlagen für eine selbst erfüllende Prophezeiung gelegt. Dagegen sei betont, dass Zukunftsforschung ein Teil der Zukunftsgestaltung ist. Es gibt keine Trennung zwischen dem Subjekt „Forscher“ und dem Objekt „Zukunft“.

Zukunftsforschung in Organisationen ist einerseits Teil der öffentlich breit gefächerten Debatten und muss andererseits spezifische interne Fragen beantworten. Einer ihrer Erfolgsfaktoren besteht darin, sich abzeichnende neue Spielregeln und Optionen schon dann zu identifizieren, wenn noch nach den alten – allen Teilnehmern bekannten – Regeln „gespielt“ wird.

Ein derartiger Ansatz ist insbesondere darauf gerichtet, Chancen und Risiken möglicher Produkt- und Prozessinnovationen zu beurteilen. Es handelt sich also um ein Orientierungssystem, um Perspektiven, Hindernisse und Gestaltungsareale in der Topographie der Möglichkeiten zu erkennen. An den oben benannten fünf Themenfeldern wird deutlich, dass Zukunftsforschung sich mit wichtigen Grundlagen unserer gesellschaftlichen und industriepolitischen Entwicklungen befasst, um potenziell neue Entwicklungspfade rechtzeitig zu erkennen und zu durchdenken.

Damit ist ein in erkenntnistheoretischer wie inhaltlicher Hinsicht komplizierter Prozess verbunden, an dessen Ende nicht ein neuer singulärer Zukunftszustand beschrieben, sondern ein Raum sinnhafter Optionen entwickelt wird. Die umfeldbezogene Zukunftsforschung sucht nicht anzugeben, wie Realitäten aussehen sollten, sondern wie sie werden könnten. Erst auf dieser Basis ist die Umsetzung von Strategien der Zukunftsgestaltung möglich. Damit unterscheidet sie sich auch deutlich von der modischen Trendforschung. Deren Gegenstand ist die Beschreibung aktuell relevanter Trends, insbesondere solcher, die in Zeiten des Luxuskonsums gerade als aktuell gelten.

Kontext der Szenario-Methode

Die Erfolgsgeschichte der Szenario-Methode in wirtschaftlichen Organisationen beginnt mit einem Mythos am Anfang der siebziger Jahre, obwohl sie als Methode schon sehr viel länger im militärischen Sektor und in Unternehmen angewandt wurde. Die Szenario Unit von Shell hatte ein Szenario eines drastisch steigenden Ölpreises entwickelt, das der damaligen allgemeinen Erwartung stabiler Ölpreise entgegenstand. Als dann kurze Zeit später der erste Ölpreisschock einsetzte, war Shell das einzige Unternehmen, das mit bereits vorliegenden Strategien reagieren konnte, während andere Unternehmen mit erheblichen Markteinbrüchen zu kämpfen hatten. Eine deutlich bessere Positionierung von Shell war die Folge.

Konfrontiert mit der Notwendigkeit langfristiger Investitionsentscheidungen in einem sich zunehmend schneller wandelnden Marktumfeld, hat sich die Szenario-Methode seither immer mehr als ein wichtiges Standardinstrument für strategische Planungen etabliert. Bei diesem Ansatz geht es im Kern um die Darstellung möglicher zukünftiger Entwicklungen entlang eines strukturierten Kommunikationsprozesses, der treibende Kräfte und daraus abzuleitende Konsequenzen für unterschiedliche Frage- bzw. Problemstellungen verdeutlicht. Die Methode bewährt sich besonders dort, wo quantitative Prognosemethoden versagen. Sie ist vor allem sinnvoll, wenn es um die Analyse von komplexen Themenstellungen und deren realistische Entwicklungsmöglichkeiten in vergleichsweise ferner Zukunft geht. Sie unterstützt Entscheidungsfindungen, die unter relativ großer Unsicherheit stattfinden müssen.

Der Einsatz der Szenario-Technik ist immer dann sinnvoll, wenn unser Denken nicht mit der Komplexität einer Fragestellung Schritt hält und es darum geht, die Zukunft gemeinsam besser verstehen zu wollen. Sie hilft also dabei, unterschiedliche Optionen deutlich zu machen. Zukunft ist nichts, dem man unausweichlich ausgesetzt ist. Die Öffnung der Sinne für unterschiedliche Möglichkeitsräume hilft dabei zu erkennen, dass trotz aller Schwierigkeiten reale Alternativen bestehen und entwickelt werden können.

Damit tritt ein wichtiges Element der Szenario-Technik, die wünschbare Zukunft, hervor. Die Unterscheidung von normativen Dimensionen – „was wollen wir“ – und pragmatischen Dimensionen – „was müssen wir“ – ist ein wichtiger Prozessbestandteil im Rahmen des Denkens in Alternativen und wird bekanntlich sowohl im politischen als auch im organisationalen Kontext häufig unterschätzt. Die normative Dimension bringt die eigene Positionierung in der jeweiligen Szenariowelt in den Blick und zwingt dazu, Veränderungsnotwendigkeiten zu bestimmen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen.

Szenario-Technik kann helfen, mögliche Zukünfte aufzuspüren, Optionsräume aufzubauen und Handlungsfähigkeiten zu erweitern. Bei ihrer Anwendung kommt insbesondere der kommunikationsseitige Aspekt der Methode zum Tragen. Alltagskonversationen reichen nicht aus, um zu konsistenten, gemeinsam getragenen Zukunftsbildern zu gelangen. Die systematische Gruppenarbeit ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Das gemeinsame Aufdecken der Hintergründe und Tiefenstrukturen einer Fragestellung führt im Verlauf eines Szenarioprozesses zu einer kollektiv getragenen Sicht auf das Ganze, in dem das Thema verwurzelt ist. Oft kommt es dabei zu einem kollektiven kognitiven Sprung in der Gruppe, der sich aus den individuellen Wechseln und Erweiterungen der einzelnen Perspektiven ableitet. Die persönlichen Interessen werden in einem solchen Prozess in eine gemeinsam zu konzipierende Zukunft transzendiert. Praktische Folgen solcher Prozesse sind dann bessere Kommunikationen zwischen den Teammitgliedern und mehr Mut bei der Arbeit an „heiklen“ Themenstellungen.

Darstellung der Szenario-Methode

Die grundlegende Logik der Szenario-Technik lässt sich am besten mit dem Szenario-Trichter darstellen (siehe Abbildung 1). Mit zunehmender Entfernung von der Gegenwart erweitert sich die Menge plausibler Zukünfte stetig, bis sich Entwicklungen an der Schnittfläche des Trichters in unterschiedlichen Szenarien beschreiben lassen. Sie geben eine Antwort auf die Frage: „Was wäre wenn?“. Auch bei der Gestaltung von solchen Prozessen gibt es eine breite Palette von Möglichkeiten: Von einfachen Papier- und Bleistiftformen bis hin zu hochkomplexen, computergestützten Prozessen ist alles möglich. Trotz aller Vielfalt ist der Kern des Prozesses relativ gleich. Es muss eine Arbeitsgruppe mit zehn bis zwölf Teilnehmern gebildet werden, die sowohl im Plenum als auch in kleineren Gruppen ergebnisfähig ist. Schon die Zusammensetzung spielt eine wichtige Rolle. Sie sollte vieldisziplinär sein. In Organisationen treffen Fachvertreter der unterschiedlichen Bereiche mit wissenschaftlichen Spezialisten verschiedener Fachdisziplinen zusammen. In jedem Falle sollte in der Gruppenzusammensetzung darauf geachtet werden, dass unterschiedliche Perspektiven am Tisch vorhanden sind.

Zunächst wird im Team eine Fragestellung festgelegt, deren zukünftige Entwicklung von gemeinsamem Interesse ist. Man einigt sich auf einen zeitlichen Horizont, der exploriert werden soll. Ausgangspunkt der Gruppenarbeit ist eine gründliche Analyse der Gegenwart, die zu einem Verständnis der gegebenen Wirkungszusammenhänge eines Problems führt. Grundlage dieser analytischen Arbeit bilden so genannte Einflussfaktoren (Deskriptoren), für die jeweils alternative Entwicklungsannahmen getroffen werden. Sie sollten eine möglichst große Spreizung in ihren Ausprägungen beinhalten, um die unterschiedlichen Richtungen relativ eindeutig beschreiben zu können. Basis dieser Trennschärfe sind eine klare, eindeutige Definition des Deskriptors und eine entsprechend ausführliche Beschreibung der jeweiligen Ausprägung. Diese sollten von der gesamten Gruppe diskutiert und verabschiedet werden.

An diesem Punkt des Szenarios sind viel Aufmerksamkeit und Gründlichkeit notwendig, um eventuelle Fehler bei der Interpretation zu minimieren. Man mag sich nur vor Augen führen, dass ein Deskriptor in einem Szenario zur Außenpolitik beispielsweise „nationale Interessen“ oder „außenpolitisches Gemeinwohl“2 benannt wird. Der Interpretationskontext würde jeweils sehr unterschiedlich ausfallen. In der Folge käme es dann notwendigerweise zu andersartigen Bewertungen. Nach der Definition der Deskriptoren werden Eintrittswahrscheinlichkeiten für die jeweilige Richtung angenommen. Die Deskriptoren werden miteinander in Beziehung gesetzt und in die Zukunft projiziert. Dabei wird die Frage gestellt, inwieweit das Eintreten eines Einflussfaktors die angenommene Eintrittswahrscheinlichkeit eines anderen Faktors beeinflusst und verändert. Diese Veränderungen werden in einer Cross-Impact--Matrix festgehalten und bewertet. Hier erweist sich, ob die Faktoren hinreichend klar bestimmt wurden. Falls Unklarheiten auftreten, sollten die Faktoren-beschreibungen nochmals geprüft und, wenn notwendig, geändert werden. Bei Abschluss dieses Methodenschritts ergeben sich stimmige Zukunftsbilder: Szenarien, also Beschreibungen möglicher zukünftiger Situationen, die aus zueinander passenden Teilbildern zusammengesetzt sind. Im letzten Schritt werden die Implikationen der Szenarien für die Fragestellung ermittelt.

Szenarien beleuchten die Hauptantriebskräfte in bestimmten Zukunfts-bildern und deren Beziehungen untereinander. Sie beschreiben verschiedene mögliche Entwicklungen als alternative Zukunftswelten. Auf diese Weise stellen sie weniger ein exaktes Wissen über Zukunftsentwicklungen dar als ein Verständnis darüber, welche Möglichkeiten und Grenzen einer Problemlösung vorhanden sind. Szenarien bilden einen Sondenstrahl, der eine dichte Wand von Wolken durchbricht und uns die Möglichkeit gibt, einzelne Zukünfte zu erkennen.

Worin bestehen nun die Stärken der Szenario-Technik?

  • Szenarien leisten durch ihren ganzheitlichen Ansatz einen Beitrag zum besseren Systemverständnis und liefern solide qualitative Entscheidungsgrundlagen.
  • Sie bieten die Möglichkeit, komplexe Sachverhalte und Entwicklungen anschaulich darzustellen und dabei wichtige Einflussfaktoren, Beziehungen und Interventionsmöglichkeiten zu identifizieren.
  • Sie fördern das Denken in Alternativen. Dadurch, dass Zukunftsoptionen in den Blick geraten, werden auch „unwahrscheinliche zukünftige Wirklichkeiten“ in den Prozess eingebunden. Die häufig zu beobachtende Denunziation des „anderen Gedankens“ durch die Überbetonung des „Gegebenen“ wird eingegrenzt.
  • Nichtlineare Entwicklungen können abgebildet werden.
  • Es werden qualitative Informationen und empirische harte Fakten miteinander verbunden.
  • Alternative Zukunftsbilder ermöglichen die Ableitung von konkreten, praktischen Handlungsoptionen.

Fallstricke bei der Anwendung

Jede Methode hat ihre Limitierungen und erfordert das Beachten sehr spezieller Aspekte. Mit einem der Kerngesichtspunkte beschäftigt sich die jüngst erschienene Arbeit von Christian Neuhaus. Darin wird auf die Ambivalenz von Gewissheit und Ungewissheit abgestellt. „Szenarien schaffen Ungewissheit und Gewissheit zugleich. Sie lassen … ( Entscheider) nicht allein mit der Mitteilung, dass die Zukunft ungewiss ist. Sie leisten zugleich Hilfe, diese Ungewissheit strukturiert zu handhaben.“3

Welche weiteren Schwächen sind mit dieser Methode verbunden?

  • Die Methode ist ressourcenaufwendig. Zehn bis zwölf Teilnehmer über mehrere Tage aus dem Arbeitsprozess herauszureißen, ist für alle Teile eine enorme Belastung. Sorgfältige Planung und qualifizierte Moderation sind Möglichkeiten, angemessene Resultate für die Investition von Zeit und Mitteln in einen Szenarioprozess zu bekommen.
  • Der Transfer der Ergebnisse in konkrete Handlungen ist nicht immer einfach. Dafür sollte man sich in einem Transferworkshop nochmals Zeit nehmen.
  • Die Kommunikation des gewonnenen Wissens in andere Kontexte ist nur bedingt möglich, da dieses Wissen sehr eng mit den spezifischen Gruppenerfahrungen zusammenhängt. Präsentationen der Ergebnisse sollten daher mit möglichst kreativen Mitteln erfolgen.
  • Die Methode erfordert ein Einlassen auf einen Prozess mit offenem Ausgang. Die Teilnehmer sollten darauf eingestellt sein, und ihre persönliche Offenheit ist geboten. Hier kommt dem Prozesstempo eine große Bedeutung zu.
  • Mit dieser komplexen Methode werden die Teilnehmer im Prozess gezwungen, anders als gewohnt zu denken. Übersicht und regelmäßige Positions-bestimmungen sind sehr wichtig.
  • Die heterogen zusammengesetzte Gruppe kann ein erhebliches Konfliktpotential aufweisen. Diese Tendenz sollte in der Gruppenarbeit als Quelle zur Inspirationen genutzt werden.

Foresight in Organisationen

Politische und wirtschaftliche Organisationen stehen immer stärker im Spannungsfeld zwischen der Langfristigkeit ihrer Prozess- und Produktketten und zunehmender Kurzfristigkeit sich schnell verändernder Rahmenbedingungen. Daher kommt der Beobachtung organisationaler Umfelder eine große Bedeutung zu. Welche „weichen“ Signale lassen sich aufspüren, die zukünftig als harte Trends eine bedeutende Relevanz für das eigene Denken und Handeln haben? Konnte man sich früher auf die eigenen gesellschaftlichen Veränderungen konzentrieren, da die Rahmenbedingungen relativ stabil erschienen, so ist heute davon auszugehen, dass Ereignisse in anderen Regionen weitab vom eigenen Gestalten eine große Relevanz bekommen.

Aus diesem Grunde ist heute die Szenario-Technik in ein breites Bett unterschiedlicher Methoden eingebettet. Szenario-Technik unterstützt so die zukunftsbezogene strategische Konversation in unterschiedlichen Anwendungsfeldern. Dazu gehören: Umfeldanalysen, Trend- und Marktforschung, Früherkennung und Krisenprävention, Entwicklung von Visionen und Leitbildern, Stimulation von Ideenfindungsprozessen, Strategieentwicklung und -überprüfung, Produktfolgenabschätzung und Risikomanagement.

Bei diesem großen Aufwand, der von Organisationen für das Foresight verwendet wird, bleibt die Grundhaltung aller Zukunftsforschung relativ gleich, im Sinne von Hermann Hesses Parabel: „Ein alter Mann mit Namen Chunglang, das heißt ‚Meister Felsen‘, besaß ein kleines Gut in den Bergen. Eines Tages begab es sich, dass er eins von seinen Pferden verlor. Da kamen die Nachbarn, um ihn zu diesem Unglück ihr Beileid zu bezeigen. Der Alte aber fragte: ‚Woher wollt ihr wissen, dass das ein Unglück ist?‘ Und siehe da: einige Tage darauf kam das Pferd wieder und brachte ein ganzes Rudel Wildpferde mit. Wiederum erschienen die Nachbarn und wollten ihm zu diesem Glücksfall ihre Glückwünsche bringen. Der Alte vom Berge aber versetzte: ‚Woher wollt ihr wissen, dass es ein Glücksfall ist?‘ Seit nun so viele Pferde zur Verfügung standen, begann der Sohn des Alten eine Neigung zum Reiten zu fassen, und eines Tages brach er sich das Bein. Da kamen sie wieder, die Nachbarn, um ihr Beileid zum Ausdruck zu bringen. Und abermals sprach der Alte zu ihnen: ‚Woher wollt ihr wissen, dass dies ein Unglücksfall ist?‘ Im Jahr darauf erschien die Kommission der ‚Langen Latten‘ in den Bergen, um kräftige Männer für den Stiefeldienst des Kaisers und als Sänftenträger zu holen. Den Sohn des Alten, der noch immer seinen Beinschaden hatte, nahmen sie nicht. Chunglang musste lächeln.“4

Trefflicher lässt sich der Kern von Zukunftsforschung kaum formulieren.

1 Economist, 11.10.1930, S. 625. Hier zitiert nach Paul Kennedy: In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 417.
2 Siehe Hanns W. Maull: Nationale Interessen! Aber was sind sie? Auf der Suche nach Orientierungsgrundlagen für die deutsche Außenpolitik, Internationale Politik, Oktober 2006, S. 62–76.
3 Christian Neuhaus: Zukunft im Management. Orientierungen für das Management von Ungewissheit in strategischen Prozessen, Heidelberg 2006, S. 555.
4 Hermann Hesse: Mit der Reife wird man immer jünger, herausgegeben von Volker Michels, Frankfurt a.M. 2003, S. 174–175.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2006, S.14‑22

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