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01. Juni 2005

Zukunft denken und gestalten

Vom Weg abkommen oder auf der Strecke bleiben

Zukunftsplanung und -gestaltung sollten als diskursiver Prozess organisiert werden. Dabei geht es nicht um altes oder neues Denken, sondern erstens um die Abkehr von Schlagwortgefechten und die gedankliche Vertiefung der Diskurse, zweitens die Akzeptanz von Alternativen sowie drittens den Mut zu sozialutopischen Ideen.

„We eat change for breakfast!“, „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.“1 „Flexibilität!“. In der Flut von Botschaften, die täglich über uns hereinbricht, steckt der immer gleiche appellative Kern: Veränderung! Das Neue ist besser als das Alte. In dieser allgemeinen Fortschrittsstimmung hat schon die Frage „Was soll warum anders werden?“ einen geradezu aufwieglerischen Beigeschmack, und das Bekenntnis, dass beispielsweise eine Strategie auf alten Ideen basiert, käme deren politischem Todesurteil gleich. Also: Ein neues Denken ist gefragt.

Gleichzeitig wird die reale gesellschaftliche Lebenswelt mitnichten täglich umgedreht. Im Gegenteil: Unsere institutionellen Routinen und unsere Sichten auf die Welt erweisen sich als durchaus beharrlich. Somit trifft die Formel „rasender Stillstand“ von Paul Virilio nach wie vor gut die gesellschaftliche Befindlichkeit.2 Was könnte dieses Umfeld bedeuten für die Art und Weise, wie über Zukunft gedacht bzw. wie Zukunft gestaltet wird?

Vom neuen Denken

Mit der Frage „Was ist das neue Denken?“ wird es uns nicht anders gehen als den Blinden, die gebeten werden, einen Elefanten zu beschreiben.3 Je nachdem, welche Stellen die tastenden Hände berühren und wie sich die einzelnen Versuchspersonen artikulieren können, fällt das Ergebnis aus: Der Blinde, der ein Bein des Elefanten fühlt, ist davon überzeugt, dass es sich um einen Baum handele, die Person, die das Ohr fühlt, erkennt darin den Fächer, und der Schwanz führt zur Vermutung, es handele sich beim Elefanten um ein Seil. An diesem Beispiel wird deutlich, wie trügerisch Wahrnehmungen sein können, die einzelne Phänomene beschreiben, ohne den Kern der Sache zu treffen.

Wenn das Bild vom Elefanten auf unsere Thematik übertragen wird, lassen sich typische Denkfallen aufzeigen, die dazu führen, dass Entscheidungen meist alles andere als „rational durchdacht“ sind.4 So überfordert die Masse der verfügbaren Daten selbst bei einfachen Problemen das menschliche Bewusstsein – es trifft notwendigerweise eine Auswahl. Diese Auswahl ist allerdings oft nicht durch die Sachlage bestimmt, sondern durch Wahrnehmungsstrukturen: z.B. überschätzen wir bestätigende und erwünschte Informationen und bevorzugen anschauliche Informationen. Somit halten wir leicht persönliche Glaubenssätze über die Welt fälschlicherweise für deren Realität und bestätigen auf diese Weise permanent unsere Vorurteile.

Beispiel Osteuropa:5 Wohl kaum eine Region ist so intensiv der Bewertung westlicher Kommentatoren unterworfen wie Osteuropa – mit seinem Zentrum Russland. Dabei scheinen Formeln wie „mangelnde Demokratiefähigkeit“, „Autoritarismus“ und „fehlende Bürgertugenden“ die vorherrschenden (Vor)Urteile permanent zu bekräftigen. Jedoch ist zu fragen: Treffen diese äußerlichen Normensetzungen die Realität? Oder verdrängen sie eher die Neugier bzw. weiterführende systemische Fragen? Welches Gesellschaftsmodell entwickelt sich in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion? Ist diese Entwicklung mit dem gängigen westlichen Begriffsapparat bzw. den normativen Vorstellungen von Gesellschaft überhaupt sinnvoll zu beschreiben?

Wie auch immer: Zukunftsfähiges Denken und Gestalten hat nichts mit „altem“ oder „neuem“ Denken zu tun. Diese Art von Unterscheidungen hängt ohnehin immer von der Perspektive ab, aus der heraus sie vorgenommen werden. Dabei spielen die jeweiligen Interessen und Opportunitätskosten der involvierten Personen bzw. Institutionen eine Rolle. Die Künstlerin Barbara Kruger bringt dies auf den Punkt: „It’s a small world – but not if you have to clean it.“6

Es geht um etwas anderes, und damit kommen wir zu unserer ersten These: Heute steht einer Vielfalt von Denkansätzen ein Mangel an Fähigkeiten und Möglichkeiten – manchmal auch an Willen – gegenüber, andere Ideen und Standpunkte in die eigenen Überlegungen einzubeziehen.

Ein aktuelles Beispiel sind die in der Öffentlichkeit zum Thema Globalisierung geführten Meinungskämpfe. Im Januar 2005 kamen erneut die derzeit prominentesten multilateralen Instanzen zum Thema Globalisierung zusammen, das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos und das Weltsozialforum (WSF) in Porto Alegre. Die beiden Foren unterscheiden sich grundsätzlich durch das, was sie unter „Welt“ verstehen, bzw. darunter, wie sie zu gestalten ist. Kritiker werfen dem WEF vor, die Welt zum Vorteil der dominanten wirtschaftlichen Akteure strukturieren zu wollen. Im Gegenzug zeigt sich die Kritik am WSF z.B. in der Bezeichnung der Teilnehmer als Globalisierungsgegner, die mit ihrem sozial-utopischen Ansatz einer „Globalisierung von unten“ an der Wirklichkeit vorbei argumentierten.

Die Existenz der unterschiedlichen Sichten ist nicht problematisch. Im Gegenteil, sie bietet eine Chance zu deren Weiterentwicklung, denn gerade weil wir alle in einem Boot sitzen, wäre es fatal, wenn wir alle auf derselben Seite dieses Bootes säßen. Problematisch ist jedoch, dass diese Chance heute kaum genutzt wird. Das Spannungsfeld Globalisierung hat vielmehr zu einer extremen Politisierung und Polarisierung geführt, bis hin zur Kriminalisierung ihrer Gegner wie ihrer Befürworter. Im Ergebnis kommen wir deshalb oft über medial inszenierte Auseinandersetzungen nicht hinaus, und die möglichen Hintergründe respektive Zusammenhänge der zunehmend international vernetzten politischen und wirtschaftlichen Strukturen bleiben im Dunkeln. Diesem vordergründigen Konfliktszenario beugt sich auch immer öfter das politische Entscheiden und Handeln. Ein Tatbestand, der angesichts des folgenreichen Charakters des komplexen Themas Globalisierung völlig unangemessen ist. Offensichtlich hält unsere Art des politischen Denkens nicht Schritt mit den immer komplexer werdenden Prozessen, die wir selbst angestoßen haben. Je mehr wir davon wissen, desto weniger scheinen wir weiter zu wissen, und die schon oft ausgerufene Orientierungskrise ist zu einem Dauerzustand geworden.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob wir Theorien zur Verfügung haben, die uns helfen, Phänomene wie z.B. „Globalisierung“ oder „Fundamentalismus“ besser zu verstehen?

Sinn und Bedeutung

Es fehlt an sinnstiftenden Erzählungen, die einerseits Ansätze zum Verständnis der Phänomenvielfalt liefern, und die gleichzeitig Raum für Interpretationen schaffen. Die Arbeit an sinnstiftenden Erzählungen beinhaltet erstens den Umgang mit unbekannten Phänomenen (Erscheinungsvielfalt) und zweitens deren theoretische Durchdringung, um ihnen einen Namen zu geben (Reflexion). Das bedeutet, dass wir uns mehr um die Begriffe kümmern müssen, die wir benutzen.

So wie es nötig ist, die Dominanz der Phänomene über Theorien zu brechen, ist es vor dem Hintergrund der heutigen Schlagwortkultur auch notwendig, mehr Gewicht auf die Diskussion der verwendeten Begriffe zu legen, statt mit immer neuen Begriffen und Wortspielen kurzfristige Scheinveränderungen zu inszenieren. Dies tut insbesondere auch in der Zunft der Zukunftsforscher Not, wo sich Trendbüros und -gurus, Zukunftsexperten und Prognosefachleute tummeln, die oft zwar medienwirksam formulieren und Effekte erzielen können, dabei jedoch seriöseren, meist leiser daherkommenden Lesarten im Umgang mit Zukünften eher schaden. Diese Notwendigkeit der ständigen Begriffsreflexion gilt insbesondere für fundamentale Begriffe, die für die Zukunftsgestaltung unserer Gesellschaften und Institutionen von hoher Bedeutung sind.

Beispiel Wirtschaft: In der einschlägigen Literatur steht der Begriff Wirtschaft z.B. für den rationalen Umgang mit knappen Gütern, d.h. mit Gütern, bei denen der Bedarf deren Vorrat bzw. Vorhandensein übersteigt. Doch was bedeutet das konkret? Handeln Menschen rational? Worin zeigt sich ein „rationaler Umgang mit knappen Ressourcen“? Welche Güter werden von wem als „knapp“ angesehen? Mittlerweile wird z.B. über die Knappheit frischer Luft diskutiert, die lange Zeit vermeintlich im Überfluss vorhanden war. Ist umgekehrt die Metapher „knappes Gut“ angemessen, um die Situation in vielen modernen Konsumgütermärkten (Marktsättigung, Produktionsüberkapazitäten) in den hoch entwickelten Industriegesellschaften zu beschreiben?

Wohl kaum. Vielmehr hat bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung das „Denken in Wachstumsraten“ eine derartige Bedeutung erlangt, dass es nicht mehr hinterfragt wird. Gleichzeitig nimmt die Dynamik des Wirtschaftswachstums in den hoch industrialisierten Ländern seit Mitte des 20. Jahrhunderts stetig ab. Dies verwundert nicht, da ein langfristiges Wachstum mit konstanten Wachstumsraten einem exponentiellen Wachstum der absoluten Größen entspricht, was in einem endlichen Ressourcensystem (Erde) nicht möglich ist. In diesem Kontext ist es fatal, die Lösung sozialer, ökologischer, arbeitsmarkt- und verteilungsbedingter Probleme auf eine Zukunft mit (wieder) höheren Wachstumsraten zu vertagen.7

Die Beispiele zeigen, dass die Begriffsarbeit alles andere als eine theoretische Spielerei ist. Vielmehr hat der Philosoph Alfred N. Whitehead Recht, wenn er sagt: „Eine Kultur, die ihre vorherrschenden Begriffe nicht in Frage stellen kann, ist nach einer äußerst begrenzten Periode des Fortschritts zu Sterilität verdammt.“8 Wenn unsere Begriffe in einer Art ewiger Gültigkeit „kristallisieren“, ist das letztlich ein Zeugnis dafür, dass auch unsere Gedanken kristallisiert sind. Diese statischen, geschichtslosen Begriffe und Gedanken entsprechen nicht der Dynamik des gesellschaftlichen Lebens. Deshalb ist die Begriffsarbeit in der Tat zukunftsweisend, denn unsere Sprache bestimmt, was wir erkennen und denken können.

Welche Konsequenzen können wir aus diesen Überlegungen ziehen? Wir suchen im Folgenden nach Antworten in drei Dimensionen zukunftsfähigen Denkens und Handelns: Erstens unsere Zukunftsvorstellungen; zweitens die Bedeutung von Sozialutopien sowie drittens die nötige Rückkehr des Menschen als verantwortlicher und gestaltender Akteur.

Zukunftsvorstellungen

Zukunftsvorstellungen sind ein Ausdruck sozialer Wirklichkeiten und deshalb immer geprägt von gegenwärtigen Vorstellungen; wir erfahren aus ihnen nichts über zukünftige Realitäten. So wie ein Unternehmen, die Politik, die Gesellschaft usw. die Vorstellungen sind, die wir gemäß kollektiver Definition von ihnen haben, sind Zukunftsvorstellungen die Zukunft – heute!9 Insofern entsteht Zukunft aus der Qualität unserer heutigen Gedanken und Handlungen – unserer Weltsicht und der darin eingebetteten Ziele.

Somit ist unser Suchfeld bezüglich künftiger Entwicklungen nicht beliebig offen. Es ist – oft unbemerkt – vielmehr stark geprägt durch die tief liegenden Paradigmen der Gegenwartskultur bzw. des Zeitgeists. So verwundert nicht, dass viele Vorstellungen über unsere künftige Gesellschaft in Ermangelung alternativer Konzepte vor allem in ökonomischen Kategorien wurzeln.10 Es geht um internationale Wettbewerbsfähigkeit und Standortinvestitionen, der Wert von Unternehmen wird in Aktienkursen ausgedrückt, und Menschen werden als Humankapital vermessen. Insgesamt verweist die Kategorie „Fortschritt“ heute im Wesentlichen auf technische und ökonomische Aspekte. Wir leben unter einem technologisch-ökonomischen Fortschrittsparadigma.

Dies alles erscheint wie eine Naturgewalt, an die man sich anpassen muss, um nicht daran zu Grunde zu gehen. Doch hier wurzelt ein fundamentales Problem der Gegenwart, denn: Wo alles automatisch abläuft, besteht keine Notwendigkeit zur bewussten und verantwortlichen Einflussnahme. Und: Wo alles automatisch abläuft, sind auch keine Ziele nötig, keine Visionen darüber, wohin „wir“ die Welt weiterentwickeln möchten. Wir erinnern an Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, die im Labyrinth nicht weiter weiß und die Katze fragt: „Würdest Du mir bitte sagen, wie ich von hier aus am besten weitergehe?“ Die Antwort der weisen Katze bringt es auf den Punkt: „Das hängt davon ab, wo du hin willst.“

Die Katze kennt die Gefahr des reduktionistischen Wunsches, auf vorgegebenen Pfaden ohne Ziel laufen zu wollen. Sie weiß um die Gefahren, wenn Möglichkeitsräume ignoriert werden, wenn technische, wirtschaftliche und soziale Alternativlosigkeit verkündet wird. Bevor wir aktiv daran gehen, die Zukunft zu gestalten, müssen wir unsere Ziele formulieren. Sie sind nicht nur auf einem Wege zu erreichen. Vielmehr kann es notwendig sein, den scheinbar vorgezeichneten Weg zu verlassen, um neue Wege anzulegen und so neue Optionen zu schaffen.

Die Wege, die wir gehen wollen, müssen Anfang und Ziel haben. Wir müssen dabei freilich aufmerksam sein, denn das Ideale ist der Feind des Besseren. Karl Popper weist darauf hin, dass die größten Katastrophen über die Menschheit oft im Namen des Idealen hereingebrochen sind. Deshalb kann es nicht um Idealvorstellungen, sondern nur um die ernsthafte Suche nach Verbesserung gehen.

Es ist eigenartig, dass wir das, was wir im Technischen oder Materiellen heute als selbstverständlich annehmen, nämlich dass die Grenze zwischen Möglichem und dem bisher Unmöglichen jeden Tag überschritten wird, das wir dies für gesellschaftliche Perspektiven nicht zulassen. Einer Vielzahl an neuen Produktideen, Technologien und Geschäftsmodellen steht ein Mangel an neuen Ideen für unsere Gesellschaften gegenüber. Gesellschaftliche Utopien sind nicht in Mode.11 Mit Norbert Elias lässt sich konstatieren, dass wir, ob Wissenschaftler, Unternehmer oder Politiker, immer mehr dazu verleitet werden, unsere Problemsicht so zuzuschneiden, dass sie zu den vorherrschenden Denkmodellen, Strukturen und Prozessen, kurz den vorherrschenden gesellschaftlichen Erwartungen passt, anstatt umgekehrt an den vorherrschenden Erwartungen zu arbeiten. Oder: unser Denken zu verändern.

Soziale Utopien

Es bedarf des Mutes zur Formulierung von Sozialutopien. Wo könnten Ansätze für soziale Utopien liegen? Der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen stellt hierzu zwei wichtige Fragen:12 Was soll (soziale und wirtschaftliche) Entwicklung bewirken? Unter welchen Voraussetzungen findet erfolgreiche Entwicklung statt? Seine Antwort ist eine gesellschaftliche Vision, die in allgemeiner Form lautet: Entwicklung ist die Ausweitung menschlicher Freiheiten, verstanden als stetiger Aufbau realer Wahlmöglichkeiten. Voraussetzung ist, und das gehört als Kernelement zu dieser utopischen Zukunftsvision, der größten Zahl von Menschen die größtmöglichen Lebenschancen zu eröffnen.

Diese abstrakte Antwort birgt erheblichen Zündstoff, wenn man sie vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der Welt betrachtet. Wir wissen, dass für die meisten Menschen dieser Welt die realen Wahlmöglichkeiten seit langem nicht zu-, sondern im Gegenteil abnehmen, und es ist kein Zufall, dass gerade der Inder Amartya Sen in seinen Überlegungen zur Umgestaltung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme die Ausweitung realer Wahlmöglichkeiten fordert. Indien ist, obwohl nominal die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt, eines der vielen Länder, die einerseits hohe Wachstumsraten aufweisen, in denen gleichzeitig aber die Liste der sich verschärfenden Problemfelder immer länger wird: Armut, Hunger, ungenügende Chancen auf Bildung und Qualifikation, zunehmende sozioökonomische Differenzen, etc.

All das hat unter den Bedingungen der Globalisierung direkt und unmittelbar mit den gesellschaftlichen Entwicklungen in den hoch industrialisierten Staaten zu tun. So verdeutlicht die Tatsache, dass man in Tiruppur, dem „indischen Manchester“,13 an den Schlieren im Fluss die Farben der kommenden Kollektionen in den europäischen Modehochburgen erkennt, die zunehmende Vernetzung der internationalen Wirtschaft mit ihren informellen Wirtschaftsstrukturen und Arbeitsverhältnissen. Spätestens an dieser Stelle müssen wir den Schritt vom Denken zum Handeln tun und fragen, wie wir in den international verwobenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Ideen und Konzepte angemessen umzusetzen vermögen. Es geht um die Frage: Wer ist in der Lage, konsistente Zukunftsvorstellungen zu entwickeln und durchzusetzen? Und wie kommen wir überhaupt zu entsprechenden Zukunftsbildern?

Die Rückkehr des Menschen

Neben dem technischen und ökonomischen Fortschrittsparadigma hat sich nach 50 Jahren Systemtheorie die Erkenntnis systemischer Komplexität allgemein durchgesetzt. Ob internationale Politik, globale Wirtschaft, Weltklima: Alles hängt mit allem zusammen. Das ist ohne Zweifel richtig. Doch während die Zeitdiagnostiker in den Feuilletons unserer Zeitungen von emergenten Phänomenen, autopoietischen Strukturen und Sachzwängen schreiben, wachsen in der Gesellschaft das Bedürfnis nach Transparenz und Orientierung und die Sehnsucht nach konkret handelnden Menschen, an denen Visionen und Verantwortung festzumachen sind. Deshalb ist der Boden fruchtbar für schlichte Formeln wie „der Kampf des Guten gegen das Böse”, die so selbstverständlich daherkommen, als ob wir alle implizit wüssten, was denn das Gute und was das Böse sei. Das Zusammenspiel von systemischer Komplexität und technisch-ökonomischem Reduktionismus hat zwei Gefahrenherde erzeugt. So besteht erstens die Gefahr, dass wir uns bequem einrichten in der allgemeinen Dynamik (was immer heute ist, es ist nicht bedeutend, denn morgen ist es schon anders) und der konstatierten Komplexität (besser nichts tun, denn die Folgen sind nicht kalkulierbar).

Ein zweiter Gesichtspunkt ist noch grundsätzlicher. Der Mensch als selbstbewusst handelndes Wesen, ausgestattet mit mehr oder weniger Entscheidungsfreiheit und Verantwortung, scheint verloren zu gehen. Ob Gentechnologien, Wirtschaftspolitik oder Bildung, die Entscheidungen folgen implizit meist einer „Benchmark-Logik“: „Wir müssen das tun, damit wir im Wettbewerb nicht zurückfallen“,  „Die machen das, wir müssen es auch tun“  etc. Damit folgen die Entscheidungen systemintern vorgegebenen Sachzwängen, und die Menschen werden so zu Erfüllungsgehilfen, die lediglich nach Mitteln suchen, diese systemischen Vorgaben zu erreichen. Was aber bei dieser reduktionistischen Bewertung fehlt, ist der Reichtum menschlicher Möglichkeiten und alternativer Wege – und dies jenseits der oben skizzierten vorherrschenden „Logik“. Es geht darum, eigene, neue und kulturell angemessene Wege zu eröffnen und zu beschreiten, die die „tradierte Wahrheit“ erweitern und neue Wettbewerbsfelder eröffnen: Man muss vom Weg abkommen, um nicht auf der Strecke zu bleiben.

Zukunft denken und – gestalten!

Was könnten wir als Fazit ziehen? In jedem Fall sollten Zukunftsplanung und -gestaltung als diskursiver Prozess organisiert werden. Dabei geht es nicht um altes oder neues Denken, es geht um ein Denken, in dem drei Elemente zusammenkommen müssen:

  • die Abkehr von Schlagwortgefechten und die gedankliche Erweiterung und Vertiefung der Diskurse,
  • die Akzeptanz von Alternativen statt des Glaubens an Sachzwänge sowie
  • der Mut zu sozialutopischen Ideen, in denen nicht nur Abstraktionen, sondern wesentlich auch Vorstellungen über reale Lebensbedingungen von Menschen einen Platz haben.

Diese Elemente sind nicht immer passfähig zur Marktlogik der aktuellen Zukunftsberatung, wo oft Schnelligkeit, Anpassung an vordefinierte Antworten und Ressourcenknappheit herrschen. Die Kunst liegt darin, unter diesen Rahmenbedingungen Prozesse der strukturierten Kommunikation zu gestalten (z.B. Szenarioprozesse), in denen genau diese Elemente ihren Platz finden. Patentrezepte gibt es dazu nicht. Der Umgang mit Zukunft, sei es in der Politikberatung, in Strategieprozessen in Wirtschaftsunternehmen oder sonstwo ist in hohem Maße spezifisch zu betrachten. Zwei Stichworte, die dabei immer eine Rolle spielen sollten, seien trotzdem kurz benannt:

Gestalten: Es gilt, ein allzu schnelles Sortieren von richtigen und falschen Argumenten zu vermeiden. Statt nach so genannten schnellen Lösungen zu suchen, müssen wir erstens unseren Optionsraum erweitern und zweitens ihn jeweils spezifisch ausgestalten. Ohne diesen zweiten Schritt aber bleibt auch der erste nur Makulatur.

Ungewissheit: Der Begriff Ungewissheit ist heute meist negativ besetzt. In strukturierten Kommunikationsprozessen kann dagegen die Grundlage geschaffen werden, Ungewissheit nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu verstehen, als Chance zur Entscheidung und zur Offenheit für Neues. Und noch eines kommt hinzu: Hier kann wechselseitig gelernt werden, was wiederum Voraussetzung für grenzüberschreitende Problemlösungen ist. Und dies wäre dann wirklich die geforderte Verwandlung der „Zukunftsdebatte in eine Bildungsdebatte zukunftsfähiger Denkformen“.14 Ihr Resultat sollte sein,  Ziele zu erarbeiten, für die jenseits aller Einzel- und Gruppenegoismen eine breite gesellschaftliche Zustimmung zu erzielen ist – der Ausgangspunkt für den „Produktionsprozess Zukunft“.

1 Roman Herzog auf Werbeplakaten im Nachgang zur Berliner „Ruck-Rede“.

2 Paul Virilio: Rasender Stillstand, München 1992.

3 Das Gedicht „The Blind Men and the Elephant“ von John Godfrey Saxe, in: Henry Minzberg u.a.(Hrsg.): Strategy Safari. Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements, Wien 1999.

4 Walter Schönwandt: Denkfallen beim Planen, Braunschweig 1986.

5 Ewald Böhlke, DaimlerChrysler, Forschung „Gesellschaft und Technik“, Berlin: Diskussionsbeitrag.

6 Barbara Kruger 1990.

7 Norbert Reuter: Die Wachstumsoption im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie, UTOPIE kreativ, Heft 136, Februar 2002, S. 131–144.

8 Alfred N. Whitehead: Science and the Modern World, Cambridge 1926, zit. aus: Geoffrey M. Hodgson: How Economics Forgot History, New York 2001.

9 Karl Otto Hondrich: Zukunftsvorstellungen, Universitas, Nr. 67, Stuttgart 2001, S. 405–417.

10 Eckard Minx und Harald Preissler: Ortswechsel – Regeln in informatisierten Gesellschaften, in: Freundesgabe für Prof. Alfred Büllesbach, www.alfred-buellesbach.de/PDF/06_Minx_Preissler.pdf.

11 Anders in den USA, wo der Begriff Utopie auch heute im politischen Alltag gebraucht wird, wobei der ursprünglich amerikanische sozialutopische „American Dream“ heute vielfach auf wirtschaftliche Themen beschränkt ist.

12 Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen, München 2000.

13 Anett Keller: Einer, der dazuverdient, die tageszeitung, 13.2.2003, S. 5.

14 Bernhard von Mutius: Die Verwandlung der Welt. Ein Dialog mit der Zukunft, Stuttgart 2000.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 116 - 123.

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