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01. Mai 2004

Demographisch bedingter Verteilungsstress

Ein zentrales Bevölkerungsproblem der Zukunft

Auf Grund des globalen Rückgangs der Geburtenzahlen und steigender Lebenserwartung zerfällt
weltweit die Grundlage sozialer Sicherungssysteme. Der dadurch entstehende Verteilungsstress
entfacht Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen, Ländern und Regionen, so Professor Herwig
Birg von der Universität Bielefeld. Kann Deutschland ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher
Dynamik und demographischer Stabilität finden oder drohen Entvölkerung und der unaufhaltbare
wirtschaftliche Kollaps?

In 20 Jahren wird die Geißel Krebs nach
Einschätzung des weltweit größten
Pharmakonzerns Pfizer besiegt sein. Hunderttausende werden dann
erst Jahre später sterben als heutzutage. So wichtig und
erfreulich dies aus menschlicher Sicht ist, die ganze Bedeutung
der Entwicklung erschließt sich erst aus der
überindividuellen Perspektive: Die Lebensspanne des
Menschen wächst ständig, ob eine biologische Grenze
existiert, ist aus wissenschaftlicher Sicht heute
unbekannt.

Im 20. Jahrhundert hat sich die Lebenserwartung in
Deutschland bei den Männern von 41 auf 75 und bei den
Frauen von 44 auf 81 Jahre erhöht. Dies sind
Durchschnittswerte – die Lebenserwartung der
jüngeren Jahrgänge liegt in der Regel deutlich
über dem Durchschnitt: Von den heute 20- bis
25-jährigen Frauen wird wahrscheinlich jede zweite oder
dritte ein Alter von 95 bis über 100 erreichen. Jeder
zweite Bundesbürger ist heute über 40, im Jahr 2050
über 50 Jahre alt. Der Anstieg dieses so genannten
Medianalters beruht nicht, wie man meinen könnte, in
erster Linie auf dem Anstieg der Lebenserwartung, sondern in
noch stärkerem Maße auf den zahlenmäßig
kleiner werdenden Geburtsjahrgängen infolge niedriger
Geburtenraten.

In Deutschland war der prozentuale Rückgang der
Geburtenzahl pro Frau im 20. Jahrhundert etwa gleich groß
wie der Anstieg der Lebenserwartung (minus 72% versus plus
83%), die Geburtenzahl pro Frau nahm von 5 auf rund 1,4 ab.
Deutschland ist das erste Land der Welt, in dem die
jährliche Zahl der Sterbefälle ständig über
der Zahl der Geborenen liegt. Trotz einer millionenfach
eingewanderten Bevölkerung mit
Geburtenüberschüssen ist die Geburtenbilanz seit 1969
(frühere DDR) bzw. 1972 (frühere BRD) permanent im
Minus, und das Defizit wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wachsen:
Da die vor 30 Jahren nicht Geborenen heute als potenzielle
Eltern fehlen, könnte jetzt die beste Familienpolitik
mangels Adressaten das Blatt nicht wenden. Wir sind mitten in
einem neuen Geburtenrückgang, der ab 2030 wiederum zu
einem Eltern- bzw. Geburtenrückgang führt. Das
Geburtendefizit wird sich nach der mittleren Variante der
Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamts wegen permanent
sinkender Geburtenzahlen und steigender Sterbefälle von
2000 bis 2050 von jährlich 72000 auf 576000
verachtfachen.

Unter den Prognosevarianten für unterschiedliche
Annahmen über die künftigen Geburten-, Sterbe- und
Migrationsraten ist eine für die Politik besonders
bedeutsam: Selbst wenn die jetzige Geburtenzahl pro Frau von
1,4 bis beispielsweise 2030 wieder auf die von der
Bevölkerung als ideal betrachtete Zahl von zwei Kindern
pro Frau zunähme und gleichzeitig 150000 junge Menschen
pro Jahr netto einwanderten, bliebe die Geburtenbilanz bis zur
Jahrhundertmitte dauernd im Minus.

Der prozentuale Rückgang der Geburtenraten war in den
letzten 50 Jahren in den Entwicklungsländern
größer als in den Industrieländern (minus 50
versus minus 44 Prozent). Der Altenquotient – die Zahl
der über 65-Jährigen in Prozent der 15- bis
64-Jährigen – und das Durchschnittsalter sind und
bleiben in den Entwicklungsländern zwar wesentlich
niedriger als in den Industrieländern, aber ihr
prozentualer Anstieg ist in den Entwicklungsländern wegen
des steileren Rückgangs der Geburtenrate und der
prozentual stärkeren Zunahme der Lebenserwartung
höher als in den Industrieländern. Das Niveau des
Altenquotienten wird bis zur Jahrhundertmitte in den
Industrieländern um das Doppelte, in den
Entwicklungsländern fast um das Dreifache steigen. Die
demographische Alterung ist also nicht auf die
Industrieländer beschränkt, sie betrifft die
Weltbevölkerung als Ganzes.

Nach den Berechnungen der Abteilung für
Bevölkerungsfragen der UN sinkt die Geburtenrate der
Weltbevölkerung seit Jahrzehnten, sie wird das für
die langfristige Konstanz erforderliche Niveau (2,1
Lebendgeborene pro Frau) in den Jahren 2030 bis 2035
unterschreiten. Vierzig Jahre später, ab etwa 2070,
beginnt die neue Phase der Weltbevölkerungsschrumpfung.
Bis dahin wird die Weltbevölkerung noch von circa 6,4 auf
rund 9 Milliarden wachsen. Zahlen für runde Zwischenjahre
wie 2050 oder 2070 suggerieren, dass es sich um einen
Übergang von einem alten Gleichgewicht zu einem neuen
handelt. Diese Vorstellung führt jedoch in die Irre.
Gerade dann, wenn sich an der niedrigen Geburtenrate z.B. in
Deutschland nichts ändert, führt der demographische
Prozess nicht zu einem neuen Gleichgewicht auf niedrigerem
Niveau, sondern zu einer dauernden Schrumpfung, die sich so
lange fortsetzt, wie die Bevölkerung ihre demographisch
relevanten Verhaltensweisen beibehält.

Die international vergleichende Analyse zeigt, dass die
Abnahme der Geburtenrate um so größer und die
Alterung der Gesellschaft um so stärker sind, je
höher das wirtschaftliche Entwicklungsniveau eines Landes
ist („demographisch-ökonomisches Paradoxon“).
Der wirtschaftliche Wohlstand wurde in den
Industrieländern mit demographischer Instabilität
erkauft, die jetzt die Wachstumsrate des Sozialprodukts um
mindestens einen Prozentpunkt verringert. In Deutschland, wo
die demographische Alterung neben Japan und Italien am
stärksten ist, gewinnt die Erkenntnis an Boden, dass sich
der demographisch bedingte Anstieg der Versorgungslasten pro
Kopf eines 15- bis 65-Jährigen auf mehr als das Doppelte
nicht wegreformieren, sondern nur anders verteilen
lässt.

Da jeder fehlende Beitragszahler auch ein fehlender
Steuerzahler ist, nimmt die Fähigkeit des Staates ab, die
Defizite der sozialen Sicherungssysteme durch steuerfinanzierte
Zuschüsse auszugleichen. Die demographische Alterung und
Bevölkerungsschrumpfung schafft nicht nur Probleme,
sondern reduziert gleichzeitig die Möglichkeiten zu ihrer
Lösung – ein sich selbst verstärkender
Prozess.

Demographische Alterung

(von 1950 bis 2000 mit Vorausberechnungen bis
2050 im internationalen Vergleich)

Anteil der über 65-jährigen in %
der 15–64-jährigen

 

1950

2000

2010

2020

2030

2040

2050

USA

12,8

18,7

19,2

24,9

31,3

32,1

32,2

Japan

8,2

25,3

35,0

47,1

52,7

64,9

72,3

Deutschland

14,5

24,0

30,6

34,2

44,3

48,5

49,4

Italien

12,7

26,8

31,1

36,7

46,9

62,6

65,4

China

7,3

10,0

11,3

16,9

23,9

35,2

37,5

Welt

8,6

11,1

11,6

14,4

18,2

22,0

24,8

- Industriel.

12,2

21,2

23,5

29,5

36,7

41,5

44,4

- Entwicklungsl.

6,7

8,2

9,0

11,5

14,9

19,0

22,0

Quelle: Herwig Birg, Universität Bielefeld.

Berechnet nach Daten aus: UN, World Population Prospects,
New York 2003.

In den Entwicklungsländern, die über keine
Arbeitslosen-, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung
verfügen, erfüllt die Familie die Aufgaben der
sozialen Sicherung. Mit der Erosion der Familie durch die
Abnahme der Geburtenrate verlieren sie ihren wichtigsten
Stabilitätsanker. Sie exportieren die Instabilität in
Form von Flüchtlings- und Migrationsströmen, ohne
dass sich dadurch die Altersstruktur der Zielländer auf
eine relevante Weise verändert. Wollte man beispielsweise
den Altenquotienten Deutschlands durch die Einwanderung junger
Menschen konstant halten, müssten bis 2050 netto 188
Millionen Menschen einwandern.1

In Deutschland steht die Politik vor der doppelten
Herausforderung, durch eine Anpassungspolitik die Auswirkungen
der demographischen Entwicklung so erträglich wie
möglich zu gestalten und gleichzeitig den
Entwicklungsprozess durch eine Ursachenpolitik langfristig zur
demographischen Stabilität zurück zu führen. Mit
der seit drei Jahrzehnten praktizierten Strategie, die durch
Tod ausscheidenden Generationen im gleichen oder sogar noch
stärkeren Maße durch Einwanderungen zu ersetzen wie
durch Geburten im Inland, lässt sich keine
gesellschaftlich nachhaltige Entwicklung erreichen. Auch
Einwanderer müssen zuerst geboren und ausgebildet werden,
um in Deutschland oder in den USA Probleme lösen zu
können – vorausgesetzt, sie finden
Arbeitsplätze. Wie will man rechtfertigen, dass ein Land
im Wettbewerb um die Besten die Früchte der Erziehung und
Ausbildung von Menschen erntet und die Mühen und Kosten
der Erziehung und Ausbildung anderen überlässt?

Verteilungsstress

Das Hauptproblem der demographischen Entwicklung ist die
neue Qualität des Verteilungsproblems mit einem dramatisch
zunehmenden Verteilungsstress zwischen den sozialen Gruppen.
Selbst wenn sich in Deutschland die Produktivität und das
Pro-Kopf-Einkommen der Erwerbstätigen bis 2050 noch einmal
verdoppeln, kann das Volkseinkommen wegen der bis dahin um 14
bis 16 Millionen schrumpfenden Zahl der 20- bis
60-Jährigen nur um ein Drittel zunehmen. Dieser
mäßig wachsende Kuchen muss zwischen vier
großen Interessengruppen verteilt werden, wobei allein
die stark wachsende Zahl der 60-Jährigen und Älteren
etwa 40 Prozent des Volkseinkommens beanspruchen wird, wenn das
Verhältnis der Durchschnittsrente zum
Durchschnittseinkommen nicht noch weiter gesenkt wird.

(zum Vergrößern hier klicken)

Der demographisch bedingte Verteilungsstress ist das
Kernproblem mit fünf Konfliktlinien:

1.Es gilt den Interessengegensatz zwischen den alten und
jungen Generationen bei der Verteilung der steigenden
Versorgungslasten durch Reformen so zu regeln, dass die von der
Verfassung garantierten Grundlagen des sozialen Rechtsstaats
erhalten bleiben.

2.Der demographische Interessenkonflikt zwischen den alten
und neuen Bundesländern muss bewältigt werden. Die
Ost-West-Wanderungen (und die Zuwanderungen aus dem Ausland)
führen mittelfristig noch zu einem
Bevölkerungswachstum einiger wirtschaftlich
prosperierender Regionen im Westen auf Kosten der
demographischen Substanz der neuen Bundesländer.

3.Konflikte entstehen auch durch
die wachsende Population der Zugewanderten bei gleichzeitig
schrumpfender autochthoner Bevölkerung, wobei die
Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei den unter
40-Jährigen in vielen Großstädten in etwa zehn
Jahren die neue Mehrheit bilden wird.

4.Ein weiteres Problem liegt in dem Auseinanderdriften der
Gesellschaft in zwei Populationen: die mit und die ohne
Nachkommen. Die beiden Parallelgesellschaften leben nach den
Regeln der gleichen Verfassung, aber die Verfassung passt nicht
auf beide, sie setzt voraus, dass beide neben dem finanziellen
auch den viel wichtigeren „generativen Beitrag“ zur
sozialen Sicherung (Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur
Pflegeversicherung) in Form der Erziehung von künftigen
Beitragszahlern leisten. Da bei den Deutschen ein Drittel der
nach 1965 geborenen Jahrgänge zeitlebens kinderlos bleibt
und nur den finanziellen Beitrag entrichtet (bei den
Akademikerinnen ist der Prozentsatz höher), hat die
Spaltung der Gesellschaft auch eine verfassungsrechtliche
Dimension.

5. Über eine fünfte Konfliktlinie wird noch wenig
diskutiert. Sie verläuft zwischen den alternden
Industrieländern und einigen ebenfalls alternden, aber
wirtschaftlich dynamischeren Entwicklungsländern, darunter
vor allem die Volksrepublik China. Die kapitalgedeckte
Versorgung im Alter und bei Krankheit ist auch für diese
Länder der einzige Ausweg aus der Versorgungsfalle. Der
Altenquotient Chinas ist heute noch wesentlich niedriger als in
Deutschland, er wird sich jedoch bis 2050 fast vervierfachen
und dann nicht viel niedriger sein als in Deutschland bzw.
sogar höher als in den USA. Die internationale Konkurrenz
um die renditeträchtigen Kapitalanlagen, die auch in
Ländern wie China knapp sind, wird sich verschärfen
und die Kurse der Kapitalanlagen in die Höhe treiben.

(zum Vergrößern hier klicken)

Theorien

In Deutschland muss das öffentliche Nachdenken
über die Ursachen und Konsequenzen der demographischen
Entwicklung besonders hohe, geschichtlich bedingte Hürden
überwinden, bevor eine Diskussion über die Ursachen
als Voraussetzung einer angemessenen Ursachenpolitik
möglich ist. Dazu gehört eine schmerzliche Einsicht:
Als die Nationalsozialisten die Macht ergriffen und die
millionenfache Tötung von Menschen mit der Rassentheorie
begründet wurde, hatte die Wissenschaft den Weg ins
Verhängnis bereits durch zahllose Veröffentlichungen
biologisch-rassistischer Prägung geebnet. Schon seit Mitte
des 19. Jahrhunderts konkurrierten die Geistes- und
Sozialwissenschaften mit den Naturwissenschaften und mit der
Biologie um die Rolle einer Leitwissenschaft der Moderne. Dies
hatte nicht nur in der Bevölkerungswissenschaft und
Demographie fatale Fehlentwicklungen zur Folge. So etablierte
sich in den Sozialwissenschaften ein
gesellschaftlich-soziologisches Konkurrenzprogramm zur Eugenik,
das in aller Offenheit unter den Leitbegriffen
„Eubiotik“, „Sozialbiologie“ und
„Gesellschaftshygiene“ in der schon 1923
erschienenen Ausgabe des „Handwörterbuchs der
Staatswissenschaften“ Ziele propagiert, die später
von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurden.

Die Rassentheorien sind jedoch nichts spezifisch deutsches,
sie waren im 19. und 20. Jahrhundert international weit
verbreitet. In Deutschland galten z.B. die USA in den zwanziger
und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet
der Rassentheorie und-politik als Vorbild, dem nachgeeifert
wurde. Heute ist eine Fehlentwicklung durch rassistische und
ethnische Diskriminierungen zumindest in den
Industrieländern durch verfassungsrechtliche Vorkehrungen
und durch die Rechtsprechung wenig wahrscheinlich. Die Gefahr
droht heute vom Ökonomismus, der neuen Leitideologie des
21. Jahrhunderts, die im Zuge der Globalisierung alle
Länder der Welt erfasst hat. Die Ökonomie entstand
ursprünglich in der griechischen Antike als ein Zweig der
Ethik. Daraus wurde seit dem 18. und 19. Jahrhundert eine
selbständige wissenschaftliche Disziplin von großer
politischer Relevanz. Die entscheidende Frage ist, ob die
Ökonomie in Zukunft in ihrer Beziehung zur Politik eine
dienende oder eine herrschende Rolle ausüben wird.

Die Wissenschaft wird die demographische Entwicklung nicht
mit überzeugenden Theorien erklären können, so
lange ihre Bemühungen sich auf die Analyse der
ökonomischen Auswirkungen konzentrieren und so lange bei
der Ursachenanalyse biologische Interpretationen und Theorien
ohne große Bedenken auf humane Populationen
übertragen werden, wie dies seit der von Thomas Malthus
(1766–1834) geschaffenen Bevölkerungstheorie
üblich ist und wie es heute wieder in der modernen
„Biodemographie“ geschieht. Sowohl in den
ökonomischen als auch in den biologischen
Bevölkerungstheorien spielte der Grundgedanke der
Selektion stets eine entscheidende Rolle: Bei Malthus und
Charles Darwin war es die Selektion der Tüchtigen durch
die „checks“ der Mortalität, bei den
Wirtschaftstheoretikern die Selektion durch den
Auslesemechanismus des Marktes. Es ist von großer
Bedeutung, dass die anthropologischen Grundannahmen der
klassischen politischen Ökonomie und die der klassischen
Bevölkerungstheorie übereinstimmen. Wenn sie nicht
tragfähig sind, hat dies fatale Konsequenzen in beiden
Bereichen.

Die wichtige Frage, die bisher weder von der biologischen
noch von der ökonomischen Bevölkerungstheorie
gestellt wurde und daher unbeantwortet blieb, lautet: Der
Fortschritt des Entwicklungs- und Zivilisationsprozesses war im
20. Jahrhundert in den hoch entwickelten Ländern mit einer
Abnahme der Geburtenrate bis unter das Bestandserhaltungsniveau
und mit einer Zunahme der alterungsbedingten
Stabilitätsrisiken in Wirtschaft und Gesellschaft
ursächlich verbunden, wobei die weniger entwickelten
Länder der Welt den Industrieländern wie Schiffe in
einem langen Geleitzug auf dem Kurs zu niedrigen Geburtenraten
folgten. Bedeutet dieser Zusammenhang, dass eine
Kursänderung und die Rückkehr zu demographischer und
gesellschaftlicher Stabilität nicht möglich sein
werden, bevor die negativen wirtschaftlichen und sozialen
Auswirkungen dieser Entwicklung ein solches Ausmaß
angenommen haben, dass sich eine Art Bewusstseins- und
Kulturrevolution Bahn bricht, in deren Verlauf sich auch die
demographisch relevanten Verhaltensweisen grundlegend
ändern? Haben die Menschen in den USA auch deshalb eine
wesentlich höhere Geburtenrate von rund zwei Kindern pro
Frau, weil die staatliche Rente dort heute schon nur etwa ein
Drittel des Niveaus z.B. in Deutschland erreicht?

Wie hätte man sich den Weg zurück zu einer
höheren Geburtenrate in Deutschland vorzustellen, falls er
wirklich den Durchgang durch Phasen der sozialen Unsicherheit
und der gesellschaftlichen Instabilität voraussetzen
würde, die die jüngeren in diesem Land nie erlebt
haben und die sie sich wahrscheinlich nicht einmal vorzustellen
vermögen? Die älteren Generationen sind in
Deutschland im 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege und zwei
Diktaturen gegangen, ihnen könnte man die Bewältigung
der demographischen Krise im 21. Jahrhundert durchaus zutrauen,
aber gilt das auch für ihre Nachkommen?

Die westeuropäischen Länder haben in den letzten
50 Jahren in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gewaltige
Fortschritte erzielt. War es Zufall oder Notwendigkeit, dass
dieser Erfolg mit einem Verlust ihrer demographischen
Stabilität und eines großen Teils ihres
Humanvermögens bezahlt wurde? Es ist in Deutschland
üblich geworden, ein Land mit einem wirtschaftlichen
Großbetrieb zu vergleichen, wie dies z.B. der
frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt tat, der sich gerne
als „Aufsichtsratsvorsitzenden der Aktiengesellschaft
Bundesrepublik Deutschland“ bezeichnete. Die tiefe
Wahrheit dieses Vergleichs wird nun allmählich deutlich:
Es kommt darauf an, den drohenden, demographisch bedingten
Konkurs der Deutschland AG abzuwenden. Diese Art von
Herausforderung ist neu: Nach Carl von Clausewitz ist der
geordnete Rückzug bei einer militärischen Niederlage
eine viel schwierigere Operation als ein Erfolg durch das
Erringen eines Sieges.

Die Bevölkerungsschrumpfung ist keine harmlose Spielart
des Wachstums, gleichsam nur in eine andere Richtung nach unten
statt nach oben, wie die Ausdrücke
„Nullwachstum“ oder „Minuswachstum“
suggerieren. Sie führt z.B. auf dem Immobiliensektor
bereits heute zu Leerständen, zu Preisrückgängen
und zur Kapitalvernichtung, die niemand als
„Minus-Wachstum des Kapitals“ bezeichnet. Die
öffentlichen Infrastruktureinrichtungen werden durch die
sinkende Auslastung teurer, ohne dass sich ihre hohen Fixkosten
verringern. Schlimmer als die wirtschaftlichen sind jedoch die
mentalen Folgen der Schrumpfung. Wie soll man z.B. den jungen
Menschen in den viel zu groß gewordenen
Schulgebäuden erklären, dass ein Klassenzug nach dem
anderen aufgelöst und ein Flur nach dem anderen
stillgelegt werden muss? Wie sollen die jungen Menschen ein
Zukunftsvertrauen gewinnen, wenn sich Dörfer, Städte
und ganze Landstriche wie die neuen Bundesländer
flächendeckend entleeren, ohne dass ein Ende absehbar ist?
In Deutschland könnten eine lähmende Tristesse und
der Phantomschmerz für das Verlorene zur Grundstimmung der
Menschen werden. Mit den wahrscheinlich auch in Zukunft
steigenden Prokopfeinkommen wird sich daran nichts Wesentliches
ändern lassen.

In dieser Situation müssen Politiker,
Konjunkturforscher und Börsenanalysten Nervenstärke
bewahren, damit Panikreaktionen vermieden werden. So gesehen
ist es gut, dass Politik und Bevölkerung immer noch in
einer Art Stabilitätsillusion leben und sich gar nicht
vorzustellen vermögen, was sie in den
Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen
Bundesamtes, die bis 2050 reichen, lesen. Es ist vielleicht
auch gut, dass immer wieder auf die Geburtenraten in Frankreich
und Schweden verwiesen wird, wo durch eine bessere Politik der
Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit die
Demographie angeblich noch fast in Ordnung ist. Aber weder
Schweden noch Frankreich taugen als nachahmenswerte Vorbilder.
Die Geburtenrate in Schweden ist inzwischen auf den
Durchschnitt der EU-15 (1,5 Kinder pro Frau) gesunken, in
Frankreich liegt die Geburtenrate der Französinnen bei 1,7
Kindern pro Frau. Nur weil die vorwiegend aus Afrika
Zugewanderten wesentlich mehr Kinder haben als die
Französinnen, liegt der Landesdurchschnitt bei rund zwei
Kindern pro Frau.

Lässt sich die mangelnde demographische Stabilität
eines Landes durch ökonomische Stärke – durch
Produktivitätszuwächse im Inland oder durch
Kapitalexport in wachstumsstarke Niedriglohnländer –
dauerhaft substituieren? Diese Frage ist von größter
Bedeutung, weil eine schnelle Rückkehr zu einer
demographisch stabilen Situation unmöglich ist. Durch den
Kapitalexport aus den Industrieländern in
Niedriglohnländer profitieren in der Regel beide
Ländergruppen. Da jedoch beide Ländergruppen und die
Welt als Ganzes altern, entsteht durch den Kapitalexport sowohl
ein geographisches Verteilungsproblem in Bezug auf die
internationale Verteilung der Kapitaleinkommen als auch ein
soziales Verteilungsproblem in Bezug auf die sozialen Gruppen
als Empfänger der Renditen und als Eigentümer des
Kapitals. Die demographisch bedingte soziale Unsicherheit
lässt sich durch Kapitalexport nicht vermeiden, sondern
nur zwischen den Ländern und Bevölkerungsgruppen
verlagern.

Bei diesem Prozess wird es Gewinner und Verlierer geben,
auch wenn es sich nicht um ein Nullsummenspiel handelt und
beide Ländergruppen Vorteile daraus ziehen. Ob das
Ergebnis dieses Verteilungsprozesses als gerecht empfunden
wird, ist und bleibt eine Bewertungsfrage. Das mit der
Demographie verbundene Gerechtigkeitsproblem wird in
Deutschland auf folgenden Nenner gebracht: „Von Kindern
profitiert, wer keine hat“. Der Satz gilt auch im
Verhältnis der durch Kapitalströme miteinander
verbundenen Länder.

Die Vernichtung eines unrentablen Betriebs durch Konkurrenz
und Wettbewerb zugunsten einer ökonomisch effizienteren
Produktionsweise hat neben den segensreichen,
wohlstandserhöhenden Wirkungen auch zerstörerische
Nebenwirkungen auf die biografische Planungssicherheit und die
Stabilitätsbedingungen der Familien. Wirtschaftliche
Dynamik und demographische Stabilität schließen sich
in modernen Wirtschaftsgesellschaften gegenseitig aus. Beides
auszubalancieren gleicht einem artistischen Drahtseilakt, den
die Politik ohne Netz bestehen muss.

Anmerkung

1Vgl. Birg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
12.4.2000.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 49-57

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