Das verwundete Land
Die Menschen in Syrien hoffen auf Stabilität, damit es wieder aufwärts gehen kann.
Auf dem Platz vor der Zitadelle herrscht geschäftiges Treiben. Kinder flitzen über den Asphalt, weichen gackernd den Jungs auf ihren Mopeds aus. Frauen und Männer schlendern an den Ständen vorbei. Dort verkaufen sie Pepsi, pinke Luftballons und Fähnchen mit den Farben der Revolution: grün-weiß-schwarz mit drei roten Sternen. Doch die Unbeschwertheit trügt. Gleich hinter dem Platz ragen Häuserruinen in den Abendhimmel: eingestürzte Dächer, herausgerissene Fassaden, schwarze Löcher, wo einst Fenster waren. Es sind die Relikte des Krieges, die in Aleppo noch überall zu sehen sind.
Anfang Dezember haben Oppositionskräfte Baschar al-Assad gestürzt. Aleppo war die erste Stadt, die sie eingenommen haben. Die islamistische Miliz HTS, die die Blitzoffensive angeführt hat, war vorher in der Provinz Idlib aktiv, nicht weit entfernt. Als die neuen Herrscher in die Stadt kamen, rannten viele Menschen auf die Straße und rissen die Porträts des verhassten Diktators von den Bannern.
Die Freude über das Ende der Tyrannei ist noch immer zu spüren. Doch in Aleppo zeigt sich auch, wie tief der 13 Jahre andauernde Krieg Syrien verwundet hat. Ich sehe es schon auf der Fahrt hierher. Von Damaskus geht es Richtung Norden mit dem Auto vorbei an der einstigen Rebellenhochburg Homs, an Orten wie Khan Sheikhun, wo Assad einen Giftgasangriff mit vielen Toten verübte. Schuttberge, wohin man schaut, ausgebombte Ortschaften, die wie Geisterstädte wirken. Ein ähnliches Bild erwartet mich in Aleppo.
Die Schlacht um Aleppo war eine der brutalsten im ganzen Krieg. Nachdem Assad die friedlichen Proteste 2011 niedergeschlagen hatte, übernahmen Oppositionskräfte die Kontrolle über Aleppos Ostteil. Mehr als vier Jahre dauerten die Kämpfe. 2016 belagerte Assad über Monate Ost-Aleppo, dort eingeschlossene Menschen berichteten von Hunger, Kälte und pausenlosen Bombardierungen durch russische Kampfjets. Im Dezember 2016 vertrieben Schergen des Regimes die letzten Kämpfer und Bewohner, danach kontrollierte Assad wieder die ganze Stadt. Bis zu seinem Sturz am 8. Dezember.
Die Zerstörung ist in Ost-Aleppo noch überall zu sehen. Die meisten Bewohner sind geflohen, nur wenige zurückgekehrt. So wie Fouda, die mich in ihr Haus einlädt. Oder das, was davon übrig ist. Die 53-Jährige, schwarzes Kleid, Kopftuch, ernster Blick, hat Ost-Aleppo 2012 verlassen. Als sie nach dem Ende der Kämpfe wiederkam, sagt sie, sei im Haus alles zerstört gewesen, die Türen herausgerissen, zwei Zimmer verbrannt. Sie hat die Räume notdürftig hergerichtet, Decken sollen statt der Türen die Kälte draußenhalten. Ihr Mann ist gestorben, sie kümmert sich allein um die acht Kinder und einige Enkelkinder. Das Leben sei hart, sagt sie. Die erwachsenen Söhne fänden keine Arbeit, sie kämen kaum über die Runden. Sie wisse nicht, was von den neuen Herrschern zu halten sei. Mit Politik, so Fouda, habe sie nichts zu tun. Diesen Satz höre ich oft. Offen zu sprechen haben sich die Menschen in der Diktatur abgewöhnt. Vater und Sohn Assad, die 54 Jahre über Syrien herrschten, ließen Kritiker gnadenlos verfolgen. Glaubt sie, ihre Lage werde sich nun verbessern? Fouda zuckt mit den Schultern: „Nur Gott kennt die Zukunft.“
Auch die 59-jährige Sawsan kämpft sich durch den Alltag. Sie wohnt mit Mann und Tochter in einem maroden Flachbau ein paar Straßen weiter, ich treffe sie vor ihrer Haustür. Als wäre der Krieg nicht genug gewesen, erschütterte im Februar 2023 ein Erdbeben die Stadt. Sawsan zeigt auf einen Schutthaufen gegenüber: die Reste ihres alten Hauses. Vom Staat hätten sie nach dem Beben keine Hilfe erhalten, sagt sie. Sie harrten nun im Nachbarhaus aus. Ihr Mann sei krank und könne nicht arbeiten, sie hielten sich mithilfe von Angehörigen über Wasser. Es mangele an allem, erklärt sie, vor allem an medizinischer Versorgung und Sicherheit.
Es braucht eine politische Vision, die alle einbezieht
Die Sicherheitslage ist in der ganzen Stadt angespannt. Es gibt nur ein bis zwei Stunden Strom am Tag, abends liegt alles in tiefster Dunkelheit. Kaum jemand geht dann vor die Tür, aus Furcht vor Kriminellen und Schießereien. Vor allem in den kurdisch kontrollierten Vierteln gibt es noch Scharmützel. Dort stehen sich kurdische und protürkische Milizen gegenüber. Die Stimmung ist aufgeladen, als ich dort durchlaufe. Checkpoints wurden errichtet, auf den Dächern haben sich Scharfschützen postiert.
An Aleppo grenzt der Nordosten Syriens, der bisher unter kurdischer Verwaltung stand – was der türkischen Regierung schon lange widerstrebt. Sie greift die Kurden in der Gegend seit dem Machtwechsel in Damaskus an. Syriens Interimspräsident Ahmad al-Scharaa gibt sich versöhnlich, verspricht Wahlen in einigen Jahren und Schutz für die Minderheiten. Doch er möchte ein einheitliches Syrien, in das die Kurden eingebunden werden. Die Verantwortlichen der kurdischen Milizen in Aleppo sagen mir, sie wollen eine Einigung mit al-Scharaa. Sie bestünden aber darauf, in einem neuen, demokratischen Syrien ihre Kultur und Sprache beibehalten zu können.
Das am 10. März unterzeichnete Abkommen zwischen syrischer Regierung und kurdischer Führung macht Hoffnung auf eine Lösung dieses Konflikts. Und die wünschen sich viele Syrerinnen und Syrer. Die neuen Machthaber müssten nun liefern. Die Menschen brauchen eine politische Vision, die alle einbezieht. Vor allem brauchen sie Arbeit, ein Dach über dem Kopf, eine Perspektive. Oder wie Sawsan in Ost-Aleppo es ausdrückt: „Wir wollen in Würde leben.“
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S. 114-115
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