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01. Jan. 2016

Das Undenkbare denken

Politik und Wirtschaft haben sich fundamentalen Änderungen anzupassen

Stetige Vernetzung, Verschiebung der Machtverhältnisse, enormer sozialer Wandel, geopolitische Krisen, die sich rasch entwickeln: Politik und Wirtschaft sind mit Herausforderungen konfrontiert, denen sie sich kaum gewachsen fühlen. Weil in den Institutionen zu viel Konformität herrscht und zu selten das Undenkbare gedacht wird.

Wie ist es möglich, dass selbst in den höchsten Führungsriegen kaum jemand die Finanzkrise von 2008, die Annexion der Krim durch Russlands Präsidenten Wladimir Putin im Frühjahr 2014, den rasanten Fall der Ölpreise, den Aufstieg des Islamischen Staates, die wachsende Bedrohung durch Cyberangriffe oder das Ausmaß der Flüchtlingskrise kommen sah? Was hindert die heutige Führungsgeneration daran, scheinbar Undenkbares zu denken?

Seit Februar 2014 haben wir ausführliche, vertrauliche Interviews mit mehr als 60 Persönlichkeiten aus den höchsten Führungspositionen in Wirtschaft, Finanzmärkten, Regierungen, Militär und Nichtregierungs­organisationen, aber auch unter den zukünftigen potenziellen Führungspersönlichkeiten der „Milleniums-Generation“ geführt. Da die Gespräche „off the record“ waren, wurden auch Probleme benannt, die im Kollegenkreis sicherlich nicht so offen angesprochen worden wären. Wir beschränkten uns strikt auf eine Rolle als Zuhörer und verzichteten bewusst darauf, die Gespräche zu lenken. Unser Ziel war es, in knapp sechs Monaten einen aussagekräftigen Datensatz offener und ehrlicher Aussagen aus diesen Führungsriegen zu sammeln.

Der daraus resultierende (und wissenschaftlich evaluierte) Zwischenbericht „Das Undenkbare denken: ein neues Gebot für Führung im digitalen Zeitalter“ fasst die Überlegungen, Befürchtungen und Ambitionen der von uns interviewten Führungspersonen zusammen – wobei neben den offiziell anberaumten Gesprächen auch eine Reihe von spontan entstandenen Unterhaltungen sowohl mit etablierten als auch mit kommenden Führungspersönlichkeiten einbezogen wurde.

Unsere Interviewpartner sprachen bemerkenswert offen über die Schwächen und Dilemmata, mit denen sie sich bei dem Versuch konfrontiert sahen, ihre eigenen Fähigkeiten und die ihrer jeweiligen Organisationen sozialen, politischen und ökonomischen Herausforderungen anzupassen. Die große Mehrheit unserer Gesprächspartner empfand diese Veränderungen als beispiellos. Viele waren der Meinung, dass die bestehenden Denkstrukturen, Verhaltensweisen und (institutionellen) Systeme den enormen Umbrüchen und Herausforderungen unserer Zeit nicht angemessen oder gewachsen sind. Paul Polman, CEO von Unilever und einer der wenigen Gesprächspartner, die nicht auf Anonymität bestanden, behauptete sogar, dass „die meisten Manager vor Angst erstarrt sind. Dabei müssten wir eigentlich Unruhestifter sein, Ri­siken eingehen und den Status quo herausfordern“. Welches aber sind die neuen Herausforderungen?

Vernetzung ist immer und überall möglich

Menschen vernetzen sich immer stärker miteinander, gleichzeitig sind aber auch größere gesellschaftliche Fragmentierungen erkennbar. Entscheidungsträgern fällt es offensichtlich schwer, solche Gesellschaften zu „lesen“ und Botschaften zu empfangen, die nicht über die traditionellen Kanäle versendet werden. Diese Vernetzung ist die neue Realität. „Technologie und ein neues Politikverständnis verändern die Beziehungen zwischen Entscheidungsträgern und der Gesellschaft“, so Sir John Sawers, ehemaliger Chef des britischen Geheimdiensts MI6 in seiner ersten Rede nach seinem Abschied. Dabei spiele Legitimität von Führung eine immer stärkere Rolle, denn ohne sie sei es unmöglich, „über Autorität zu verfügen und sie auch auszüben“. Es gelte also, diesen Wandel zu verstehen, sich anzupassen und ihn sich womöglich zu eigen zu machen. „Denn sonst fallen wir diesen Veränderungen zum Opfer.“

Im digitalen Zeitalter verschieben sich die Machtverhältnisse

Die Ereignisse des Jahres 2014 zeigen überdeutlich, wie sehr die Allgegenwart des digitalen Raumes das Wesen von Macht verändert, auch wenn es in den Führungsetagen immer noch schwer fällt, die wachsende Vernetzung und die daraus erfolgende Diffusion von Macht zu akzeptieren. Die Abfolge von Ereignissen erfolgt in noch größerer Geschwindigkeit und bedrohliche Situationen werden noch bedrohlicher, wenn sie „in Synchronisation“ miteinander geraten und sich wechselseitig verstärken. „Wir werden immer häufiger von Ereignissen überrascht werden“, warnt ein ehemaliger hochrangiger UN-­Diplomat, der jetzt eine NGO leitet, die sich mit Konfliktprävention beschäftigt.

Die Erwartungen der Öffentlichkeit an ihre Regierungen, unerwartete Krisen wie in der Ukraine, Syrien oder im Irak zu lösen, sind größer als die Möglichkeiten der Politik, solche Krisen zu antizipieren, eine Antwort auf sie zu finden und sie dann auch umzusetzen. In der Auffassung einer „digital ermächtigten“ Öffentlichkeit aber untergräbt das die Legitimität der Politik immer weiter. Einer unserer Gesprächspartner vertrat sogar vehement die Auffassung, dass Regierungen nicht mehr über eine „Informationsüberlegenheit“ verfügten. Die Informationskluft zwischen Politik und Privatpersonen habe sich dramatisch verringert. Jetzt sei buchstäblich „alles öffentlich“. Man könne durchaus bezweifeln, dass es irgendwelche Informationen beispielsweise über Putin gäbe, die allein dem Außenministerium zur Verfügung stünden. Potenziell könnten alle auf ein etwa „gleiches Set an Informationen“ zugreifen. Wäre diese Annahme richtig, dann müsste der Nutzen der Unmengen von Daten, die Regierungen und Geheimdienste sammeln, erst recht infrage gestellt werden.

Wie sehr sich die Machtverhältnisse verschieben und wie sehr Politik unter Druck geraten kann, zeigt sich ganz besonders deutlich an der Schnelligkeit und Effizienz, mit der Flüchtlinge auf „smarte Informationen“ zugreifen. Ein Smartphone, Ladestationen, SIM-Karten, die man in jedem Land billig erwerben kann, in Windeseile entwickelte Apps und Websites, die sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag Informationen bereitstellen, haben in kürzester Zeit zu einem riesigen Flüchtlingsstrom nach Europa geführt. Regierungen und Verwaltungen europäischer Staaten jedenfalls können diese Ströme gar nicht so schnell lokalisieren, wie sie sich formieren – und sie waren politisch oder logistisch darauf nicht vorbereitet.

Die zukünftige digitale Disruption

Im digitalen Raum werden all unsere bisherigen Vorstellungen von Macht und Einfluss auf den Kopf gestellt – und das in einer Zeit gigantischer Herausforderungen. Regierungen müssen überkomplexe Themen wie Massenmigra­tion, Klimawandel, Bevölkerungswachstum gerade in den sich entwickelnden Ländern, wachsende Urbanisierung und den demografischen Wandel in den Industriestaaten behandeln. Gleichzeitig stehen Politik – wie an den Erfolgen der Populisten in vielen demokratischen Ländern zu sehen ist – und Wirtschaft unter enormem Legitimationsdruck. „Das ganze Ausmaß der technischen Revolution führt dazu, dass der Abstand zwischen jenen, die heute Unternehmen an maßgeblicher Stelle führen und jenen, die diese Aufgabe einmal übernehmen werden, noch größer wird“, sagt Hariet Green, Chefin der Abteilung bei IBM, die sich mit dem „Internet der Dinge“ beschäftigt. „Es gab noch keine Zeit, in der eine solche Mischung an neuen Technologien – Cloud, mobile Daten, Big Data und künstliche Intelligenz – auf eine solche Weise zusammenkamen. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit des Wandels, dem sich Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft anpassen, und den sie für sich nützen müssen, ist enorm. (...) Allein die Quantität und das Tempo, mit welchen Informationen verarbeitet werden – und wir sprechen von Milliarden Daten, die pro Sekunde durchfließen – zu denen dann noch die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz oder des 3D-Druckens kommen, sind geradezu unermesslich.“

Forderung nach neuer Teilhabe

„Treibt die Technologie den sozialen Wandel an oder verhält es sich umgekehrt?“, fragt sich Patricia Seemann, Gründerin der „3am Group“ („Drei-Uhr-nachts-Gruppe“), die Manager berät, die eben mitten in der Nacht wach liegen, weil das Ausmaß der Veränderungen sie um den Schlaf bringt. „Es geht nicht nur um Technologie, es geht um gesellschaftliche und politische Trends, und ich frage mich zuweilen, ob wir uns nicht zu sehr auf die Technologie selbst fixieren und darüber den sozialen Wandel übersehen, der damit einhergeht“, so Seemann. Zu diesem sozialen Wandel gehört auch die Forderung nach und die Möglichkeit zu einer neuen Teilhabe, können sich Menschen doch fast zu ­jeder Zeit und an jedem Ort stärker denn je vernetzen und „kritische Massen“ herstellen, die dann entsprechenden Druck auf Entscheidungsträger ausüben.

Lehren gezogen, aber nicht angewandt

Die in unseren Interviews gewonnenen Erkenntnisse haben ausnahmslos in eine bestimmte Richtung gezeigt: Die zentrale Herausforderung an moderne Führung besteht darin, ein Unternehmen oder eine politische Institution durch fundamentale Veränderungen zu leiten, die in ihrer Form und Schnelligkeit genau jene Konformität bedrohen, welche die derzeitigen Führungsriegen überhaupt erst für ihre Machtpositionen qualifizierten. Genau diese Konformität ist es aber auch, die notwendigen Veränderungen von Verhaltensweisen und einem systemischen Wandel im Wege steht. Die Veränderungen unserer Lebenswelt sind aber so profund und haben so deutlich geradezu existenzielle Schwachstellen heutiger Führung offenbart, dass viele unserer Gesprächspartner uns baten, dieses Thema unbedingt weiter zu vertiefen. Von Lösungsvorschlägen wollen wir dabei absehen – eine breite und möglichst offene Debatte über diese Fragen halten wir derzeit für sehr viel dringlicher. Bedenkt man, dass allein Amazon.co.uk 23 000 Bücher zum Thema „Führung“ anbietet, scheint ja ohnehin kein Mangel an Beratungsliteratur zu bestehen. Viel spannender ist die Frage, warum so wenige die wirklich drängenden Probleme behandeln.

Die wohl wichtigste Aussage unserer Studie ist, dass die Konvergenz von zuvor „undenkbaren“ Ereignissen seit der Finanzkrise von 2008 ein noch nie dagewesenes Gefühl von Verletzlichkeit und Schwäche unter Führungskräften ausgelöst hat. Schlimmer noch: Man hat wohl Lehren gezogen, aber nicht danach gehandelt. Carl Bildt, der auf Erfahrungen als schwedischer Premier und Außenminister zurückgreifen kann, sprach aus, was viele in den Führungs­etagen dachten, als er 2014 das Jahr des „großen Erwachens“ für Regierungen und Unternehmen nannte. Ebenso könnte man aber auch 2015 angesichts des unvorhergesehenen Ausmaßes der Flüchtlingskrise, der Griechenland- und ­Euro-Krise oder der sprunghaft gestiegenen Zahl erfolgreicher und destruktiver Cyberangriffe als Jahr des schreckhaften Erwachens bezeichnen. Warum also zögern Führungskräfte, sich scheinbar Undenkbares vorzustellen, das dann aber passiert? Wir schließen daraus, dass diese Szenarien für Führungspersönlichkeiten oft nicht undenkbar sind. Eher müsste man sie als „unangenehm“ oder „unbekömmlich“ bezeichnen. Entscheidungsträger – und jene, die für sie arbeiten – verdrängen solche Szenarien lieber.

Selbstverständlich sind nicht alle disruptiven Entwicklungen schlecht für Wirtschaft und Regierungen. Die globale Ausbreitung von Smartphones, fahrerlosen Autos oder die Möglichkeiten von Industrie 4.0 oder des 3D-Drucks bringen großen Nutzen in einem noch größeren Tempo. Doch sie fordern auch Firmen und Regierungen heraus, bestehende Denkweisen und Systeme so anzupassen, dass sie bei hoher Geschwindigkeit und angesichts sehr kleiner Zeitfenster Ergebnisse erzielen. Viele Führungskräfte gaben zu, dass sie große Schwierigkeiten hätten, solche disruptiven Veränderungen zu erkennen und sich dann anzupassen.

Neue Generation, neue Werte

Eines der wohl aussagekräftigsten Interviews führten wir mit dem 27-jährigen Anniket Shah, einem brillanten jungen Mann, der bereits eine Karriere im Bankenwesen und in der Vermögensverwaltung hinter sich hat und nun in der internationalen Entwicklungshilfe tätig ist. „All diese Organisationen und Institutionen, die wir immer geachtet und bewundert haben, sterben im Grunde gerade einen langsamen, qualvollen Tod“, sagte er uns. „Jetzt plötzlich sind wir erstaunt und verblüfft. Wir schauen nach oben und wissen genau, was diese Leute tun, weil wir in einer so transparenten Welt leben. Und wir sagen: Wisst ihr was? Der Kaiser trägt keine Kleider, und wir könnten das um einiges besser.“

Wir haben an einigen Treffen und Zusammenkünften mit Vertretern dieser „Millenniums-Generation“ teilgenommen. Und wir konnten schnell feststellen, dass Shah für viele dieser nächsten Generation von Senkrechtstartern spricht, die allein durch die Wahl ihres Karrierewegs zeigen, wie wenig sie von den etablierten Pfaden in Politik und Wirtschaft halten. Einige Chief Executives sind sich dieser Situation bewusst und würden sich mit den Anliegen dieser „Generation Y“ gerne auseinandersetzen. Ihnen ist klar, wie notwendig es ist, wieder sehr viel mehr Augenmerk auf Werte und auf die Sinnhaftigkeit einer Karriere zu legen, um wirklich konstruktive Beziehungen zu dieser Generation von potenziellen Führungskräften herzustellen.

Eine der wichtigsten Erklärungen für das Versagen vieler Führungseliten, sich auf „Undenkbares“ vorzubereiten, ist „vorsätzliche Blindheit“. Das ist ­weder neu noch unbekannt. Besorgniserregend ist aber, dass dies in vielen Fällen nicht in die Überlegungen von Entscheidungsträgern einbezogen wird. Dies ist eines von neun Schlüsselwörtern und -sätzen, die in unseren Gesprächen immer wieder vorkamen:

• Gruppendenken

• vorsätzliche Blindheit

• das Gefühl, von multiplen Belastungen überwältigt zu werden

• kognitive Überlastung und Dissonanz

• Konformität innerhalb der Institutionen

• Risikovermeidung

• Angst vor „karriereschädigenden Schritten“

• reaktionäre Denkweisen

• Verdrängung

Fast alle unsere Gesprächspartner sprachen von der Notwendigkeit eines organisatorischen Wandels in einer Welt, die von Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität geprägt ist. Dabei gaben die meisten freimütig zu, dass institutionelle Konformität eines der grundlegenden Hindernisse ist, „Undenkbares“ zu denken. Wenn Führungskräfte auf mittlerer Ebene sich um ihre Karriere sorgen, tendieren sie zur Konformität. Das Ergebnis ist eine „erstarrte Mitte“, der es an Durchsetzungskraft fehlt.

Organisationen müssen Rahmenbedingungen schaffen, in denen „fiese Probleme“ angegangen werden, die von Führungskräften alleine nicht gelöst werden können. Es bedarf neuer, anpassungsfähiger und -williger Formen der Führung und resilienterer Organisationen, die es zum Teil ihrer Kultur machen, Schwierigkeiten anzunehmen, Kooperation zu fördern und in denen es kein Karrierehindernis ist, Undenkbares zu denken. „Haben wir es mit ganz neuen Problemen zu tun? Ist die Lage ernst? Ganz gewiss“, sagte uns der Chef einer großen internationalen Organisation. „Ich bin seit zehn Jahren auf der Führungsebene tätig, ich habe schon einige Jahrzehnte in dieser Umgebung hinter mir. Dies ist bei Weitem die für die Organisation schwierigste Zeit in der modernen Geschichte.“ Es sei jedenfalls alles andere als eine simple Aufgabe, Partikularinteressen entgegenzutreten, Denkbarrieren zu beseitigen und eine Organisation zu schaffen, die in einem immer diffizileren Umfeld überlebensfähig bleibt.

Unsere Kernaussage ist also keine Empfehlung, sondern eine Notwendigkeit: Die Denkweisen der Zeit vor 2008 und 2014 sind schädlich und nicht mehr zu gebrauchen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 8-13

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