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01. Jan. 2016

Entscheiden im Eiltempo

Politische Führung im Zeitalter der Digitalisierung

Dass die Revolution der Informationstechnologie die Politik vor neue Aufgaben stellt, ist nicht unbekannt. Doch wie gut ist gerade die Außenpolitik darauf eingestellt? Ein erster Befund zeigt: Deutschland steht im internationalen Vergleich nicht an der Spitze. Was sich ändern muss, damit Berlin die oft geforderte größere Rolle spielen kann: einige Vorschläge.

Die Welt wächst immer schneller, immer enger zusammen – nicht zuletzt durch technologische Neuerungen. War der Hindukusch zu Anfang des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr noch weit weg und die Verbindung zur Sicherheit Deutschlands vielen nicht haptisch genug, ist nun das Echo eines global agierenden, digital gesteuerten IS-Terrorismus bis nach Hannover umso deutlicher. Dabei bietet die wachsende Digitalisierung nicht nur Risiken, sondern auch enorme Chancen für die Verbreitung von Informationen, für Demokratisierung, Mitwirkung und Transparenz. Das war zum Beispiel bei den Solidaritätsdemonstrationen in Berlin nach den Übergriffen im Istanbuler Gezi-Park 2013 zu sehen. Digitalisierung erweitert ein bereits existierendes Netzwerk von außenpolitischen Akteuren und stellt traditionelle Institutionen gleichzeitig vor neue Herausforderungen. Deutsche Akteure reagieren auf diese Veränderungen noch nicht angemessen. Bestehende Ansätze stellen noch keine dem digitalen Zeitalter gemäße außenpolitische Praxis sicher.

Wie lassen sich außenpolitische Interessen mit einer wachsenden Anzahl neuer Anspruchsgruppen aushandeln? Welche Aufgaben kommen gerade Führungskräften zu, um strukturelle und kulturelle Anpassungen in außenpolitischen Organisationen (Ämter, Stiftungen, Wirtschaft und Think Tanks) vorzunehmen? Wie können sich außenpolitische Entscheidungsträger technologische Neuerungen zu Nutze machen, um auch in der scheinbaren Dauerkrise vorausschauende Außenpolitik zu gestalten? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt einer neuen Studie,1 die LEAD zusammen mit der Harvard Kennedy School und der Central European University herausgebracht hat. Die Studie stützt sich auf qualitative Interviews mit 25 Experten und Führungskräften in außenpolitischen Organisationen. Als Fallbeispiel dienten die deutsch-­türkischen Beziehungen. Dazu wurde in Zusammenarbeit mit den Agenturen TLGG und Complexium eine quantitative Auswertung von Diskussionen in sozialen Medien (Facebook, Twitter) durchgeführt (siehe Seite 14 f.). Abgeleitet aus den Datenanalysen formuliert die Studie konkrete Handlungsempfehlungen für Politik, Wirtschaft und Stiftungen, um insbesondere die Konsequenzen, aber auch die Nutzbarkeit der Digitalisierung für deutsche Außenpolitik zu verdeutlichen.

Sechs Trends verändern die außenpolitische Arena

Die befragten Entscheidungsträgerinnen und -träger nehmen sechs fundamentale und miteinander verwobene Trends wahr, aus denen sich neue Ansprüche an Führung in außenpolitischen Organisationen ergeben.

1. Digitalisierung beschleunigt Außenpolitik

Während traditionelle Medien sich am 13. November 2015 schwertaten, die Terrorattentate in Paris journalistisch einzuordnen, kommunizierten die aus dem Bataclan-Konzertsaal Flüchtenden die Eindrücke der schrecklichen Geschehnisse über soziale Netzwerke. Der gemeinsam tagende deutsch-französische Krisenstab musste diese digital eingehenden Informationen ebenso auswerten wie die Faktenlage des BND und der französischen Sicherheitskräfte. Insgesamt wird die Verbreitung von Informationen schneller, die Geschwindigkeit der Entscheidungsfindung steigt, die Halbwertszeit von scheinbar gesicherten Fakten sinkt.

2. Neue Akteure verdrängen alte Machtstrukturen

Zusätzlich fordern neue Anspruchsgruppen Mitsprache bei außenpolitischen Themen – und sind zum Teil selbst außenpolitische Akteure. Wie das in der Studie ausführlich beschriebene Beispiel Gezi-Park zeigt, können heute neue Akteure über das Internet schnell und breit Informationen sammeln, eigene Interessen streuen und Koalitionen bilden. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der Digitalisierung, denn die Eintrittsschwelle für den Zugang in die außenpolitische Arena sinkt gerade für zivilgesellschaftliche Organisationen. Ganz selbstverständlich initiieren sie nationale und internationale Debatten oder beteiligen sich daran. Zum Teil sammeln nichtstaatliche Organisationen beachtliches lokales Wissen an, welches für Entscheidungsfindungen in modernen Ministerien eigentlich die Regel sein müsste: Wenn eine Organisation wie „Save the Children“ über Erfahrungsberichte junger Migranten auf Facebook Informationen über sich rapide verändernde Migrationsrouten sammelt, diese aber nicht nahtlos an Regierungsorganisationen weitergeben kann, bleibt eine große Chance ungenutzt.

Aufgrund dieser technologischen Entwicklungen ist den Regierungen das einstmalige Informations- und Definitionsmonopol abhanden gekommen. Außenpolitik ist nicht mehr Sache einer politischen Elite. Macht dezentralisiert sich, es entstehen Teilarenen, die die Einflussmöglichkeiten von Regierungsorganisationen beträchtlich reduzieren. Führungskräfte in außenpolitischen Organisationen müssen in diesem sich immer mehr ausdifferenzierenden Feld agieren.

3. Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik verschwimmen

Die Syrien-Krise macht den nun beinahe nahtlosen Übergang zwischen außen- und innenpolitischen Themen überdeutlich. Während einerseits der IS über Online-Plattformen ausländische Kämpfer rekrutiert, erhöhen sich die Flüchtlingszahlen an den europäischen Grenzen. Die Spekulation, dass der Einsatz von Tornados und Tankfliegern der Bundeswehr in Syrien die Terrorgefahr in Deutschland ansteigen lässt, scheint nicht mehr allzu abwegig. Deutlich wird das Verschwimmen der Grenzen auch an der Defini­tion außenpolitischer Interessen, die immer stärker durch das Kanzleramt (statt durch das Auswärtige Amt) wahrgenommen wird, sowie an der Ausweitung der internationalen Arbeit der Fachministerien. Zusätzlich verändert die Weisungsgebung der Europäischen Union Aktionsspielräume. Innenpolitik ist immer auch EU-Politik, und bilaterale Beziehungen werden durch eine EU-Mitgliedschaft zu multilateralen Verflechtungen. Auch dieser Trend trägt zur wachsenden Komplexität der Führungsaufgaben in außenpolitischen Organisationen bei.

4. Planbarkeit nimmt ab, Orientierungslosigkeit steigt

Die außenpolitische Arena überlappt nicht nur immer mehr mit der innen­politischen, sondern verliert auch durch internationale Verflechtungen und eine Vielzahl neuer Akteure zusehends an Übersichtlichkeit. In Krisenzeiten wird Normalität zur Ausnahme, so Thomas Bagger, Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt.2 Vorhersagen zu außenpolitischen Entwicklungen büßen in einem dynamischen Umfeld an Wert ein. Durch Beschleunigung und Vernetzung haben die eigenen Aktivitäten kaum mehr kausalen Einfluss auf ein Geschehen. Ihre Wirkung ist nur noch schwer abschätzbar.

5. Zentrale Koordination erodiert

Die Interessen diverser Akteure und ihre Aktivitäten im Ausland lassen sich heute nicht mehr durch einen Flaschenhals ins Ausland steuern oder zumindest koordinieren, wie es die traditionelle Aufgabe von Außenministerien war. Sowohl Fachministerien als auch zivilgesellschaftliche Organisationen akzeptieren keine zentrale Organisation an der Spitze, die den Führungsanspruch erhebt, alle außenpolitischen Aktivitäten Deutschlands zu bündeln und zu priorisieren.

In der größeren Stimmenvielfalt in der außenpolitischen Arena besteht nach Ansicht der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Anne-Marie Slaughter aber auch eine Chance für die staatlichen Institutionen.3 Denn viele Probleme sind ohnehin zu komplex, als dass Regierungen sie alleine lösen könnten. Ihre Aufgabe besteht nach Slaughter in wachsendem Maße darin, öffentliche, private und zivilgesellschaftliche Akteure stärker zusammenzubringen, um globale Probleme gemeinsam anzugehen. Einem Außenministerium kommt demnach die Funktion einer vernetzenden Institution – „Convening Power“– zu, die unterschiedliche Akteure zur Lösung komplexer, multidimensionaler Herausforderungen an einem Tisch vereint. Ein solches Agieren setzt jedoch einen Umbau im Herzen des Ministeriums voraus.

6. Die Ansprüche an Deutschlands Rolle in der Welt steigen

Gerade angesichts der oben genannten Trends – Verschiebung der Machtstrukturen, sinkende Planbarkeit etc. – fordern internationale Partner, Unternehmen und einige zivilgesellschaftliche Akteure eine stärkere außenpolitische Rolle Deutschlands in der EU und darüber hinaus. Dies bestätigten auch die für den Review-Prozess des Auswärtigen Amtes konsultierten internationalen Expertinnen und Experten. Immer mehr Länder schauen insbesondere zur Bewältigung internationaler Krisen auf Deutschland. Doch wie kann Deutschland den wachsenden Erwartungen begegnen, wenn Außen- und Innenpolitik nicht mehr trennscharf sind, wenn Außenpolitik unübersichtlicher wird und wenn die über lange Zeit gewachsenen Strukturen um ein bündelndes Auswärtiges Amt stärker hinterfragt werden? Welche Aufgaben kommen dadurch Führungskräften zu, außenpolitische Organisationen an diese Veränderungen anzupassen?

Von anderen lernen: problem- und lösungsorientiert denken

Noch reagieren deutsche Akteure (inklusive Fachministerien, Stiftungen und Unternehmen) nicht angemessen auf die Veränderung. Der Blick über den nationalen Tellerrand zeigt, dass Führungskräfte in deutschen, außenpolitisch agierenden Organisationen dabei das Rad nicht neu erfinden müssen. Die US-Botschaft in Brasilien nutzt etwa eine intelligente Twitter-Strategie, um einerseits die eigene Reichweite zu erhöhen, andererseits die gesellschaftspolitischen Dialoge in entfernteren Regionen des Landes schneller und besser zu verstehen. Über ein eigenes Twitter-Konto ist die Botschaft mit relevanten Meinungsmachern verbunden, kann Diskussionen in sozialen Netzwerken aktiv mitverfolgen – so auch Reaktionen auf den austretenden Giftschlamm am Rio Doce, der in den Atlantik floss. Andernorts setzten die USA auf Eigennutzer-gelenkte Plattformen wie „Map Give,“ die es der globalen Öffentlichkeit ermöglichen, durch Mapping auf interaktiven Online-Landkarten Ausmaß und Schwere von sich anbahnenden humanitären Krisen oder die Auswirkungen von Unwettern (Überschwemmungen, Bodenerosionen etc.) zu markieren. So lassen sich mitunter Hilfslieferungen besser steuern, die aus einem Entwicklungshilfefonds kommen, oder sich in Zusammenarbeit mit lokalen Medizinern und Nichtregierungsorganisationen die Ausbreitung von Krankheiten eindämmen. Das niederländische Außenministerium verkleinert sich aktiv, um Fachminis­terien stärker in den außenpolitischen Planungsprozess einzubeziehen. Das britische Foreign and Commonwealth Office wirbt per Twitter gezielt schwule und lesbische Diplomaten an, um im Korps ein modernes Großbritannien abzubilden. Gute, lösungsorientierte Ansätze gibt es genug: Es gilt, sie mutig auf den nationalen oder organisatorischen Kontext anzupassen und umzusetzen.

Fünf Strategien für zeitgemäße Führung

Aus den qualitativen und quantitativen Daten, die für die Studie erhoben wurden, ergeben sich fünf Strategien für außenpolitische Akteure:

1. Die Rolle und Legitimation der eigenen Organisation zu schärfen

2. Ziele klar zu definieren und fortlaufend zu überprüfen

3. Neue (digitale) Wege der Informationsbeschaffung zu erschließen

4. In den Aufbau von Wirkungsnetzwerken zu investieren, um Prozesse schlank und effizient zu gestalten

5. Lernfähige Organisationen zu schaffen, um in Zukunft vorausschauende Politik definieren zu können

In der Studie geben die Autoren zu jeder der fünf Strategien eine Reihe konkreter Handlungsempfehlungen. Beispielsweise können Organisationen die Transparenz über die eigenen Ziele und Arbeitsweisen erhöhen und womöglich mehr Informationen mit Netzwerkpartnern teilen. Partizipatorische Ansätze bieten sich an, um Mitarbeiter und Stakeholder in die Zielformulierung einzubinden. Die sozialen Medien bieten eine neue Datenquelle, die viele Organisationen noch ungenutzt lassen. Durch Jobrotationen im Haus, aber auch mit Partnern können Netzwerke gestärkt werden. Abteilungsübergreifende Ad-hoc-Teams können Silos gerade in großen Organisationen wie etwa einem Außenministerium aufbrechen.

Die außenpolitische Arena Deutschlands ist im Umbruch. Während sich durch eine Vielzahl neuer Akteure alte Machtgefüge verschieben, die Digitalisierung auch die Außenpolitik beschleunigt und die internationalen Verflechtungen immer diffuser werden, wird im Ausland immer öfter die Erwartung formuliert, Deutschland solle international eine stärkere Rolle übernehmen. Im Inland ist dagegen bei vielen außenpolitischen Institutionen eine Führungskrise zu beobachten: Führungskräfte suchen noch nach dem besten Weg, wie sie ihre Organisationen auf die neuen Gegebenheiten einstellen können. Für die Anpassung braucht es eine neue Führungspraxis. Deutschland steht im internationalen Vergleich nicht an der Spitze – dies zeigt die Befragung. Es ist an der Zeit, unsere außenpolitische Praxis zeitgemäß aufzustellen, auch wenn das die Abkehr von vielen etablierten Strukturen und Traditionen erfordert. Nur so können wir Antworten auf die Herausforderungen und Umbrüche unserer Zeit finden.

CATHRYN CLÜVER ist Gründerin und Executive Director des Future Diplomacy Project an der Harvard Kennedy School (Belfer Center for Science and International Affairs)

PROF. DR. MARTIN GROTHE entwickelt mit seinem Complexium-Team Lösungen zur Früh­erkennung und Datenerschließung im digitalen Raum

TOBIAS LEIPPRAND ist Executive Director von LEAD. Zuvor hat er als Vorstandsmitglied den Think Tank stiftung neue verantwortung mit aufgebaut

GABRIEL PFAFF ist Stratege bei TLGG, einer Agentur für digitale Transformation in Berlin

PHILINE ERFURT SANDHU ist Programmleiterin Leadership Research bei LEAD

  • 1Dieser Artikel beruht auf einer Studie von LEAD, einem gemeinnützigen Think Tank mit Sitz in Berlin. Kostenloser Download unter www.le-ad.de/FuehrenimNetzwerk
  • 2Thomas Bagger: The German moment in a fragile world, The Washington Quarterly 4/2015, S. 25–35.
  • 3Anne-Marie Slaughter: America’s edge. Power in the networked century, Foreign Affairs 1/2009, S. 94–113.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 14-20

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