IP

01. März 2015

Das System Erdogan

Die AKP hat sich vom reformfreudigen, prowestlichen Kurs verabschiedet

Wie lässt sich der Wandel erklären, der in den vergangenen Jahren in der Türkei vonstatten ging? Hat Erdogan schon immer das Ziel verfolgt, die Islamisierung der Türkei voranzutreiben – oder hat ihn die Ablehnung der EU in Richtung Osten getrieben? Der autoritäre und machtbewusste Staatspräsident hat hohe Ziele für seine „neue Türkei“.

„Kolay gelsin“ ist Gruß und Abschiedsformel zugleich im Türkischen. Man sagt es, wenn man ein Geschäft betritt oder verlässt oder wenn man Freunde trifft. Wörtlich übersetzt bedeutet es: „Möge es dir leichtfallen!“ Der freundliche Wunsch ist allgegenwärtig in der Türkei. Doch von Leichtigkeit ist wenig zu spüren in dem Land, in dem ein Mann an der Staatsspitze steht, der als demokratischer Reformer begann und sich im Kampf gegen die alten Eliten, Gezi-Demonstranten und Kritiker zum Patriarchen entwickelte.

Recep Tayyip Erdogan, von März 2003 bis August 2014 dreimal in Folge zum Premierminister gewählt und seither erster direkt gewählter Staatspräsident, hat Großes vor. Das Land hat seit seinem Antritt einen beachtlichen Wandel vom Krisenstaat zu einer Regionalmacht vollzogen. Nach Jahren der wirtschaftlichen Misere und lähmenden Inflation entmachtete Erdogan, der einstige religiöse Fundamentalist, das Militär, brachte die Türkei auf EU-Kurs und entfachte einen nie dagewesenen Wirtschaftsboom, der die konservativ-fromme Mehrheit des Landes aus der Armut befreite.

Die USA und Europa hofierten den Hoffnungsträger. Während die Europäer vor allem die wirtschaftlichen Chancen sahen und ihre Investitionen erhöhten (jedoch einer EU-Mitgliedschaft der Türkei wenig abgewinnen konnten), sah US-Präsident Barack Obama in Erdogan den Mann, der eine politische Neuordnung Europas im Sinne Amerikas vorantreiben konnte. Die Türkei, lobte Obama bei seinem Besuch in Ankara und Istanbul im Jahr 2009, schlage eine „Brücke zwischen der islamischen Welt und dem Westen“ und sei eine „starke säkulare Demokratie“.

Doch mit jedem Wahlsieg ist Erdogan – der sich als Sohn von Zugezogenen aus der Schwarzmeerregion aus einfachen Verhältnissen im Istanbuler Stadtteil Kasimpasa zuerst zum Oberbürgermeister und später an die Spitze des Landes hochgearbeitet hat – autoritärer, machthungriger und dünnhäutiger gegenüber Kritikern geworden.

Im Sommer 2013 ließ er Demonstrationen gegen seinen autoritären Regierungsstil mit Gewalt niederschlagen. Der Umgang mit den Gezi-Protesten führte erstmals einer breiteren Weltöffentlichkeit den harschen Umgang der Regierung mit Kritikern vor Augen. Erdogan warf den Demonstranten vor, das Land spalten zu wollen. Er ließ Oppositionelle verhaften, allzu kritische Journalisten verloren ihre Jobs oder landeten im Gefängnis. Korrespondenten aus dem Ausland wurden zum Ziel von Kampagnen, in denen sie als „Spione“ und „Feinde der Türkei“ diffamiert wurden.

Abkehr vom Westen

Von der prowestlichen Haltung, mit der die Regierungspartei AKP 2002 an den Start ging, ist seither kaum noch etwas zu spüren. Im Gegenteil: Feindseligkeit gegenüber dem Westen prägt die Rhetorik Erdogans. In seinen Reden verbreiten er und seine Mitarbeiter Verschwörungstheorien, wonach hinter den Protesten wahlweise eine „ausländische Lobby“ oder eine „jüdische Lobby“ steckten. Seinen Wahlkampf um das Amt des Präsidenten im vergangenen Jahr stilisierte er zum „Befreiungskrieg“. Mit Bedacht nutzte er denselben Begriff wie Mustafa Kemal Atatürk, der mit diesem Wort seinen Feldzug gegen die westlichen Alliierten bezeichnet hatte, der 1923 zur Gründung der Republik Türkei geführt hatte. „Wir werden nicht zulassen, dass fremde Kräfte der Türkei schaden!“, brüllte Erdogan ins Mikrofon und meinte damit vor allem den Westen.

Gleichzeitig lieferte die Regierung in Ankara sich dem Verdacht aus, gegenüber Kämpfern der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS), die in den benachbarten Ländern Syrien und Irak ihren Machtbereich ausweiteten und staatsähnliche Strukturen aufbauten, allzu nachsichtig zu sein. Junge Dschihadisten aus aller Welt reisten über die Türkei in das Kampfgebiet. Die Nachschubwege der Aufständischen für Waffen und Munition führten durch die Türkei. Der IS rekrutierte offen Nachwuchskämpfer in türkischen Metropolen. Erst als dies in den Medien thematisiert wurde, sorgte die Polizei dafür, dass das nicht mehr allzu öffentlich geschah.

Die Türkei verweigerte sich der internationalen Koalition im Kampf gegen den IS zunächst mit Verweis auf mehrere Dutzend türkische Staatsbürger, die von den Dschihadisten im irakischen Mossul als Geiseln genommen worden waren. Deren Leben wolle man nicht gefährden, hieß es zur Begründung. Aber selbst nach deren Freilassung hielt Ankara sich zurück und nährte damit den Verdacht, Sympathien für die Ideologie des IS zu hegen.

Die Regierung bestreitet das zwar, tut aber wenig, um die Bündnispartner vom Gegenteil zu überzeugen. Klar ist, dass die Türkei sich von einem reformfreudigen, prowestlichen Kurs verabschiedet hat. Wie lässt sich dieser Wandel erklären?

Offen reden mag über die Entwicklung innerhalb der AKP niemand. Zu groß ist die Furcht, politisch abgestraft zu werden. Aber in Hintergrundgesprächen erläutern Politiker den Wandel, und im Großen und Ganzen lassen sich daraus zwei Erklärungslinien erkennen.
Die eine geht davon aus, dass Erdogan schon immer das Ziel verfolgt habe, die Islamisierung der Türkei voranzutreiben und damit – offen ausgesprochen ein Sakrileg – die Errungenschaften Atatürks, der die laizistische Türkei mit zum Teil diktatorischen Mitteln durchgesetzt hatte, zu korrigieren. Hierzu habe er sich zunächst zum Partner der EU gemacht und durchaus Reformen vorangetrieben, damit er mit Hilfe der EU die alten kemalistischen Machteliten loswerden konnte.

Erdogans Absicht, in der Türkei die Herrschaft des Islam durchzusetzen, sei schon daran zu erkennen, dass Erdogan sich lange Zeit vom islamorientierten früheren Premierminister Necmettin Erbakan fördern ließ. Außerdem sei Erdogan 1998 vom Militärregime verhaftet und zu zehn Monaten Haft verurteilt worden, weil er in einer Rede aus einem Gedicht zitiert hatte, das als islamistisch aufgefasst wurde. Die Worte, die Erdogan die Strafe sowie ein – später aufgehobenes – lebenslanges Politikverbot bescherten: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Erdogan musste zwar ins Gefängnis, aber seine Popularität in der gläubigen Bevölkerung wuchs.

Ein weiteres Konzept als den politischen Islam zu stärken, habe er nicht gehabt, sagt ein ranghoher AKP-Vertreter. Generäle hätten deshalb in den ersten Jahren von Erdogans Amtszeit als Regierungschef immer wieder versucht, seine Macht zu stutzen und in seine Politik hineinzureden, was auf Kritik der EU stieß – zum Wohlgefallen Erdogans und der AKP. Sie nutzten die Chance, mit Verweis auf demokratische Reformen und Forderungen der EU den Einfluss der alten Eliten zu beschneiden, mithin die Generäle in ihre Schranken zu weisen. Erst als seine Position mit jeder Wahl gefestigter war und die Militärs endgültig entmachtet waren, habe Erdogan es gewagt, seine antiwestliche Haltung nicht mehr zu verstecken.

Die andere Erklärung geht davon aus, dass Erdogan tatsächlich um eine EU-Mitgliedschaft bemüht gewesen sei und eine stärkere Westanbindung – über die NATO-Mitgliedschaft hinaus – verfolgt habe. Erst die Erkenntnis, dass selbst umfassende Reformen an der Ablehnung vieler EU-Staaten, allen voran Deutschlands und Frankreichs, nichts änderten und die Türen zur EU für die Türkei unabhängig von deren Bemühungen verschlossen bleiben würden, habe Erdogan dazu gebracht, sich abzuwenden und sich außenpolitisch eher Richtung Osten zu orientieren.

Mit ihrer außenpolitischen Maxime „Null Probleme mit den Nachbarn“ ist die Türkei gescheitert. Kritiker sprechen spöttisch von „Null Nachbarn ohne Probleme“. Der damalige Außenminister Ahmet Davutoglu, heute Regierungschef, ist der Architekt dieser Politik. Sein Ziel war es, „um die ganze Türkei herum eine Peripherie des Friedens zu schaffen, die keine Krisenherde mehr erzeugt“.

Tatsächlich steht die Türkei heute isoliert da, die EU-Mitgliedschaft ist in die Ferne gerückt, die Beziehungen zu den USA gelten als unterkühlt, die Freundschaft zu dem einstigen starken Partner Ägypten ist mit dem Sturz der Muslimbruderschaft beendet, das einst stabile Verhältnis zu Israel ist zerbrochen, und in der Nachbarschaft, in Syrien und im Irak, tobt ein Krieg, der Millionen von Flüchtlingen in die Türkei treibt und die Sorge wachsen lässt, dass der Terror auf türkisches Territorium übergreifen könnte. Die Regierung hat die weltpolitische Lage bei all ihrem ökonomischen Erfolg verkannt.

Während der Westen die autoritäre Art Erdogans und seine antiwestliche Rhetorik kritisiert, scheint es, dass die Türkei in islamischen Ländern immer größere Anerkennung findet für ihren betont islamischen Kurs und für die Rückbesinnung auf islamische Werte und die Größe des Osmanischen Reiches. Während Erdogans Großprojekte – der dritte Istanbuler Flughafen, die dritte Bosporusbrücke, die neue Istanbuler Moschee mit Minaretten, die zu den höchsten der Welt zählen, sowie der neue gigantische Präsidentenpalast – im Westen für Kritik und Spott sorgen, bewundern ihn Menschen in islamischen Ländern für seine Kühnheit und die Fähigkeit, solche Vorhaben zu realisieren. Darüber hinaus stärken türkische Investitionen in islamischen Ländern das Ansehen Erdogans und der Türkei.

Aus europäischer Sicht ist die Tatsache beunruhigend, dass Erdogan sich um die Meinung im europäischen Ausland nicht mehr zu scheren scheint. Bestärkt wird er in seiner Haltung durch Zustimmung aus der Bevölkerung: Befürworteten 2004 noch drei Viertel aller Türken einen EU-Betritt ihres Landes, sind es jetzt gerade einmal 44 Prozent. Europa mit seiner Euro-Krise und den Problemen mit Ländern wie Griechenland sei ein Verlierer, glaubt man. Die Türkei, sind die Mächtigen in Ankara hingegen überzeugt, sei auf gutem Wege, eine Macht zu werden, die in Zukunft womöglich auf einer Stufe mit China und den USA stehe.

Erdogans Ziel ist, die Türkei in den kommenden Jahren zu einer der zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt zu machen, ihr zu größerem Einfluss in der Welt zu verhelfen und dabei seine eigene Macht zu steigern. Mehrfach hat er durchblicken lassen, wie er sich seine Zukunft vorstellt, nämlich im Jahr 2023, beim 100. Geburtstag der Türkei, noch an der Macht zu sein – so lange wie kein anderer türkischer Politiker zuvor.

Keineswegs will er, der Staatspräsident, dabei nur repräsentative Aufgaben wahrnehmen. Im Februar 2015 erklärte er, für eine „neue Türkei“, wie er sie sich vorstelle, würden 400 Abgeordnete benötigt. Ohne die AKP beim Namen zu nennen, war das eine Aufforderung, dieser Partei bei den im Sommer anstehenden Wahlen zu einer verfassungsändernden Mehrheit im Parlament zu verhelfen. Auf diese Weise könnte die Türkei per Verfassung ein Präsidialsystem und Erdogan noch größere Macht erhalten.
Kritik an Erdogan innerhalb der AKP gibt es kaum. Die meisten, scheint es, lassen sich vom Erfolg des Systems Erdogan überzeugen. Die Aussicht auf Posten, Einfluss und Geld lässt die wenigen internen Kritiker verstummen. Erdogan gilt schließlich als Garant für einen Wahlerfolg. Selbst Ministerpräsident Davutoglu, ein Intellektueller, bildet kein Gegengewicht zu Erdogan, sondern scheint eine dem Staatspräsidenten untergeordnete Rolle zu akzeptieren.

In welche Richtung die Türkei in dieser Konstellation außenpolitisch steuert, lässt sich schwerlich festmachen. Klar ist lediglich, dass eine Westanbindung trotz gelegentlich geäußerter Beteuerung, man sei nach wie vor an einer EU-Mitgliedschaft interessiert, nicht mehr als selbstverständlich gilt. In den vergangenen Monaten ließ sich eine Annäherung an Russland feststellen. So will Russland die Türkei zu einem Hauptumschlagplatz für russisches Gas machen; und in der türkischen Regierung nimmt man mit Wohlwollen zur Kenntnis, dass Russland – anders als die EU oder USA – den türkischen Umgang mit Demonstranten oder Journalisten nicht bemängelt.

Schlüssig ist dieser Kurs nicht. Denn Erdogan verfolgt seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien den Sturz des dortigen Machthabers Baschar al-Assad. Bislang war das eines der wichtigsten außenpolitischen Vorhaben der Regierung, weshalb Ankara oppositionelle Gruppen unterstützte, indirekt auch islamistische Organisationen. Russland allerdings ist einer der wichtigsten Unterstützer Assads. Aber das scheint plötzlich von weniger Bedeutung zu sein.

Hasnain Kazim ist Korrespondent für den Spiegel und für Spiegel Online mit Sitz in Istanbul.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2015, S. 100-104

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren