Interessant, aber gewöhnungsbedürftig
An den neuen Istanbuler Fähren scheiden sich die AKP-Anhänger und -Gegner
Die türkische Gesellschaft ist gespalten. Ein kleiner Streit in meiner Nachbarschaft führt mir vor Augen, wie sehr das der Fall ist.
Der alte Friseur sitzt auf der Treppenstufe vor seinem Geschäft in Kasimpasa und liest Zeitung. Sein Gehilfe fegt drinnen um die beiden Stühle herum. Der Teemann, der durch die Gassen dieses Istanbuler Stadtteils zieht, kommt mit einem Tablett voller dampfender Teegläser und einer Schale Würfelzucker vorbei. Die Männer scheinen sich zu kennen, denn der Teemann nimmt drei Stück Zucker, wirft sie in ein Glas und reicht es dem Friseur auf einer Untertasse, zusammen mit einem Löffel.
„Sind sie nicht schön?“, fragt der Friseur den Teemann und deutet auf ein Foto in der Zeitung. „Was?“ „Die neuen Fähren. Ich finde die toll!“
Der Teemann verzieht sein Gesicht. „So etwas Hässliches habe ich noch nie gesehen!“, entgegnet er trocken. „Die sehen aus wie chinesische Ufos. Typisch AKP: Hauptsache neu, Haupt-sache modern. Ob das zu Istanbul passt, ist völlig egal. Gut, dass das bald ein Ende hat!“
Der Friseur springt auf. „Du hast immer was zu meckern!“
Der Gehilfe kommt aus dem Laden und fragt erschrocken: „Alles okay?“ „Ja, ja, er redet nur wie die Gezi-Leute“, sagt der Friseur. Der Teemann stellt sein Tablett auf den Boden. Streitlustig grinst er jetzt.
In Kasimpasa sind manchmal Hitzköpfe unterwegs. Es ist das Viertel, in dem Präsident Erdogan aufgewachsen ist. Zu Beginn des Osmanischen Reiches, im 16. Jahrhundert, war es ein blühender Stadtteil. Vom Goldenen Horn starteten die Schiffe der Sultane, die osmanische Marine hatte hier ihren Stützpunkt. Später, in der Republik Türkei, wurde es zum Arbeiterviertel, zum Wohnort für Handwerker und Fährleute. Die regierende islamisch-konservative AKP ist hier beliebt. Das Schicki-micki-Istanbul ist nur ein paar Minuten Fußweg entfernt. Erdogan schaut immer mal wieder in Kasimpasa vorbei, hier geht er zum Friseur, aber nicht zu dem, der sich gerade mit dem Teemann streitet.
Das Bild Istanbuls, ja der gesamten Türkei hat sich in den vergangenen 13 Jahren, seitdem die AKP an der Macht ist, verändert. Überall sind mehrspurige Straßen entstanden, U-Bahnen, Brücken, Flughäfen, Moscheen und, vor allem, Shoppingmalls.
Jetzt auch noch neue Boote, die „wie aus dem Nichts“ aufgetaucht sind, wie der Teemann schimpft, und nun die Flotte der schönen, alten Istanbuler Fähren – schwimmende Wahrzeichen, Ikonen auf dem Wasser – ergänzen. Statt der klassischen, vorne spitz zulaufenden Schiffsform sehen bei ihnen Bug und Heck gleich aus, typisch Fähre eben, interessant irgendwie, aber auch gewöhnungsbedürftig. Kadir Topbas, der Bürgermeister von Istanbul und AKP-Politiker, hat die ersten drei ausgerechnet wenige Tage vor der Parlamentswahl am 7. Juni eingeweiht.
„Alles Wahlkampf!“, sagt der Teemann. „Unsinn! Das Land kommt voran, und du bist undankbar!“, antwortet der Friseur.
Seit Anfang Juni sind sie im Dienst, in einer Millionen-Metropole, die sich über Europa und Asien erstreckt und wo auf dem Bosporus Fähren schon seit Langem alltägliches Verkehrsmittel sind. Aber für die Istanbuler sind sie auch eine Möglichkeit, der Hektik und den Menschenmassen zu entkommen. Die Überfahrt ist eine knappe halbe Stunde Urlaub, in der man den herrlichen Blick auf die Silhouette der osmanischen Moscheen, auf den Bosporus, das Marmarameer, auf all die Schiffe genießt.
„Die neuen Fähren sind besser zugänglich für Leute im Rollstuhl“, sagt der Friseur. „Und sie sind viel sparsamer und schneller, auch weil sie kein Vorne und Hinten haben und deshalb auch nicht an den Anlegestellen drehen müssen.“ „Ja, aber das macht sie so hässlich!“, protestiert der Teemann. „Außerdem passen da viel weniger Leute rein als in die alten Fähren. Und überhaupt, immer nur schnell, schnell, schnell – über den Bosporus zu fahren, ist doch Erholung, die eher verlängert werden sollte!“
„Sie wurden in der Türkei gebaut, das stärkt unsere Wirtschaft“, sagt der Friseur, blickt in seine Zeitung und ergänzt: „Guck, hier steht, die planen insgesamt zehn Stück.“ „Klar, den Auftrag hat bestimmt ein Kumpel von Erdogan gekriegt! Und warum hat Topbas uns nicht gefragt oder wenigstens vorher informiert? Ich war geschockt, als ich die Dinger gesehen habe! Die haben nicht mal ein Oberdeck, von dem man die Möwen füttern kann.“ „Bist du schon mal damit gefahren? Woher weißt du das?“ „Nein, habe ich in der Zeitung gelesen.“
Der Friseur grinst. „Siehst du? Das ist alles Propaganda! Ich habe mal mit meinem Fernglas geguckt. Man kann oben im Freien sitzen und Möwen füttern.“ „Wirklich?“ „Wirklich.“ „Aber hässlich sind sie trotzdem“, sagt der Teemann, nimmt sein Tablett und verschwindet.
Der Friseur setzt sich wieder auf die Stufe, schüttelt den Kopf und sagt zu seinem Gehilfen: „Diese Gezi--Leute sind noch der Untergang für unser Land!“ Der Gehilfe nickt. „Wenn der mal nicht von jemandem bezahlt wird, damit er solch einen Unsinn redet!“
Hasnain Kazim ist Türkei-Korrespondent für Spiegel Online / Der Spiegel.
Internationale Politik 4, Juli/August 2015, S. 124-125