In der Klischeefalle
Brief aus ... Wien
Wählen Wiener wirklich die FPÖ, weil deren Politiker „halt fesch“ aussehen?
„Fuitsuwam“, sagt der japanisch aussehende Mann vor mir in der Schlange. Wir stehen bei der Eisdiele in der Mariahilfer Straße an. „Uffuitsuwam!“ Er lächelt mich an. Ich lächele fragend zurück. „Sorry, I don’t understand“, antworte ich ihm dann. „Fuitsuwamhoit“, sagt er mir. Dann dreht er sich wieder um. Gespräch beendet.
Mir gehen der freundliche Mann mit seinem Singsang und der seltsame Dialog nicht aus dem Kopf. Plötzlich, nach ein paar Minuten, fällt der Groschen: Er hat gar kein Japanisch gesprochen, sondern Wiener Dialekt! Es ist ein warmer Sommertag, und er sagt: „Viel zu warm. Uff, viel zu warm!“ Und auf meinen Einwurf, dass ich ihn nicht verstehe: „Viel zu warm heute!“
Ich bin beschämt, weil ich in Schubladen gedacht habe. Weil ich nicht von vornherein davon ausgegangen bin, dass ein Mensch, der ostasiatisch aussieht, natürlich auch Österreicher sein kann und feinstes Wienerisch spricht. Weil ich mich doch selbst immer ärgere, wenn Leute mir sagen: „Sie sprechen aber gut Deutsch.“ Und nun das!
Wien, das lernt man sehr schnell, ist eine sehr internationale Stadt. Eine bunte Gesellschaft, vielfältig, mehrsprachig, aber am Ende doch auch sehr wienerisch. 1,8 Millionen Einwohner, Hauptstadt, größte Stadt Österreichs, jedes Jahr kommen etwa 30 000 bis 40 000 Menschen hinzu. Wien wächst. Die Vereinten Nationen haben hier einen ihrer vier Amtssitze. Hier sind auch die Internationale Atomenergie-Organisation, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und andere Organisationen zu Hause. Lebt man in Wien, lernt man schnell Diplomaten und Atomwissenschaftler kennen. Oft sind das die Nachbarn.
Während eines zehnminütigen Spaziergangs von meinem Büro kommt man vorbei an Restaurants mit srilankischer, italienischer, türkischer, kroatischer, griechischer, pakistanischer, mexikanischer, japanischer, chinesischer oder thailändischer Küche. Und alle paar Meter natürlich die guten Wiener Wirtshäuser.
Bei all der Vielfalt ist es umso verwunderlicher, dass die rechtspopulistische FPÖ so erfolgreich ist in Österreich. Selbst im „Roten Wien“, in dem seit Jahrzehnten Sozialdemokraten regieren, hat bei der Bundespräsidenten-Stichwahl im Mai in vielen Bezirken der rechte Politiker Norbert Hofer gewonnen. Wien steht bei der Lebensqualität in Umfragen und Studien ganz weit oben, den Menschen geht es vergleichsweise gut, das soziale Netz funktioniert, das öffentliche Verkehrsnetz ist eines der besten Europas, die Stadt gilt als äußerst sicher. Es gibt Spielplätze, alle paar Straßen einen Kindergarten und eine Schule, Parks, Waldgebiete in der Nähe. Der Strom fällt so gut wie nie aus, und auf ihr Trinkwasser aus den Wasserhähnen sind die Wiener besonders stolz: Das soll besser sein als jedes Mineralwasser, erzählen sie einem oft.
Die Stadt ist wunderschön, die historischen Fassaden makellos, die Ornamente überbordend, weshalb man an allen Ecken und Enden Touristengruppen trifft. Den meisten Menschen, die in Wien leben, geht es also richtig, richtig gut, jedenfalls im weltweiten Vergleich. Ist es also Verlustangst? Angst, dass dieser hohe Lebensstandard nicht zu halten ist?
Wie Schweinsbraten im Wirtshaus
Ein junger FPÖ-Politiker postet – in holprigem Deutsch – den Spruch: „Eine Kirche in jedem Ort gehört für mich wie ein Schweinsbraten in jedes Wirtshaus!“ Will sagen: Wir bleiben, wie wir sind, alle anderen haben sich anzupassen oder zu verschwinden. Die Angst vor Veränderung treibt seltsame Blüten, und sie verhindert bei manchen Leuten, Veränderung mitzugestalten, damit sie sich im konstruktiven Sinne vollzieht.
Woher auch immer sie rührt, diese Angst ist so verbreitet, dass die sozialdemokratische SPÖ ihren Kurs der Willkommenskultur um 180 Grad gedreht hat. Österreich, das Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer auch in Deutschland umstrittenen Flüchtlingspolitik unterstützt hat, ist nun einer der schärfsten Kritiker. Die SPÖ hat die Hoffnung auf Machterhalt über das Festhalten an ihren Werten gestellt. Und wurde bei der Bundespräsidentenwahl abgestraft, weil die Menschen dann doch lieber das Original, die FPÖ, wählten. Am Ende musste sogar ein neuer Bundeskanzler her, der sich wieder an die alten Werte erinnern will.
Umfragen zufolge hat niemand so viel Zustimmung wie die Rechten. Fragt man warum, sind Äußerlichkeiten oft das einzige Argument. „Der sieht halt fesch aus.“ „Der trägt sehr gut sitzende Anzüge.“ „Sein Benehmen ist immer tadellos.“ Von solchen Äußerlichkeiten schließen sie offenbar auf politische Fähigkeiten. So schön soll Österreich bleiben!
All das geht mir an diesem viel zu warmen Sommertag durch den Kopf, als ich über den Dialog mit dem Wiener nachdenke, den ich für einen Japaner hielt und deshalb nicht verstand. Und ich lerne: Man muss die Menschen nur mit anderen Augen sehen, dann versteht man sie auch. Man sollte sich immer wieder daran erinnern, nicht in Klischees zu denken.
Hasnain Kazim ist Wien-Korrespondent des SPIEGEL.
Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 128-129