Das schiefe Haus Europa
Euro und Flüchtlinge sind nur zwei Seiten desselben Problems
2015 streiten sich die EU-Staaten wie selten zuvor: In den Krisen zeigt sich, dass Währung und Grenzkontrollen vergemeinschaftet wurden, ohne die notwendigen Regeln zu etablieren. Deutschland und Frankreich tragen hier eine besondere Verantwortung. Nun muss mühsam nachgearbeitet werden.
Vor dem Sommerurlaub 2015 hatte die Debatte um ein drittes Griechenland-Hilfspaket die führenden Politiker der Euro-Zone an den Rand der Spaltung getrieben. Nach dem Sommerurlaub sorgte dann der rasant anschwellende Flüchtlingsstrom in die EU und vor allem nach Deutschland für eine Debatte, in der sich EU-Staaten wieder mit großer Heftigkeit attackierten – denn nun stand plötzlich die Reisefreiheit im Schengen-Raum auf dem Prüfstand.
So unterschiedlich eine gemeinsame Währung und gemeinsame Reisefreiheit auf den ersten Blick auch erscheinen: Beide Krisen sind in Wahrheit nur zwei verschiedene Aspekte desselben Problems und desselben Konstruktionsfehlers der EU. Denn sowohl in der Euro- als auch der Schengen-Politik haben sich frühere Generationen von Politikern für einen Schritt der Vergemeinschaftung feiern lassen, aber leider vermieden, den notwendigen unbequemen zweiten Schritt zu gehen. Die Euro-Staaten haben ihre nationalen Währungen aufgegeben – aber ohne die Grundlagen für einen dauerhaften Bestand der gemeinsamen Währung zu legen. Die Staaten haben unter großem Jubel ihre Grenzkontrollen abgeschafft – aber ohne dafür zu sorgen, dass ein echter Schutz an den Außengrenzen des gemeinsamen Schengen-Raums und eine Lastenteilung garantiert sind. In beiden Fällen ist Griechenland das Land, an dem sich die Defizite am deutlichsten und erschreckendsten zeigen.
Leider gab es die viel beschworene deutsch-französische Arbeitsteilung nicht nur bei der Konstruktion, sondern auch bei dieser Fehlkonstruktion der EU: Frankreich trägt die größte Einzelverantwortung für die Mängel der Euro-Politik; Deutschland trägt die größte Einzelverantwortung bei den Fehlern des Schengen-Systems.
Euro ausgeben, Regeln aufgeben
Bei den Problemen der Wirtschafts- und Währungsunion ist man sich nach einigen schmerzhaften Jahren der Krise zumindest in der Analyse einig: Trotz des mit dem Euro beschlossenen Stabilitätspakts gab es von Anfang an keine einheitliche Meinung, wie eine gemeinsame Politik in diesem Bereich aussehen sollte. Dies störte in den ersten Jahren offensichtlich niemanden, weil die Umrechnungskurse bei der Ablösung der alten Währungen für die schwächsten Mitglieder der Euro-Zone am vorteilhaftesten waren. Ein Land wie Griechenland konnte sich deshalb zurücklehnen und kurzfristige Wohlstandsgewinne genießen, ein starkes Land wie Deutschland hingegen musste um seine Wettbewerbsfähigkeit kämpfen.
In Wahrheit ist nicht der deutsch-französische Bruch des Stabilitätspakts 2003/04 an sich der Sündenfall, wie oft geschrieben wird. Denn in Deutschland wurde dieser Bruch gleichzeitig zu einer radikalen Umsteuerung hin zu mehr Wettbewerbsfähigkeit genutzt – und der Stabilitäts-und Wachstumspakt anschließend so reformiert, dass er Länder bei Reformen in Krisenzeiten nicht mehr automatisch zu Stabilitätspakt-Sündern machte. Fatalerweise hat Frankreich aber andere Lehren aus dem damaligen Bruch gezogen. Der entstehende finanzpolitische Spielraum durch das Nichteinhalten der Defizitkriterien wurde nicht etwa für Reformen genutzt – vielmehr hat Paris weiterhin so gehandelt, als ob das Euro-Regelwerk für die zweitgrößte Euro-Volkswirtschaft sehr dehnbar sei. Und aufgrund seiner gesunkenen internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist Frankreich deshalb an einem schwachen Euro interessiert.
Das hat bis heute Folgewirkungen: Präsident Francois Hollande lehnt es ab, dass die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof Einspruchsrecht für nationale Haushalte erhalten, die offensichtlich gegen die europäischen Stabilitätsregeln verstoßen. Denselben Widerstand gab es aus Paris gegen den von Berlin vorgeschlagenen Wettbewerbspakt, der zumindest die Euro-Staaten dazu zwingen sollte, ihre Ausgaben endlich in Richtung Zukunftssicherung umzusteuern. Der Staatspräsident lehnt jede für eine echte Vertiefung der Euro-Zone notwendige Änderung der EU-Verträge zumindest vor 2017 ab, weil die politische Klasse in Paris zu schwach ist, ein dafür erforderliches neues Referendum durchzustehen.
Eine Teilschuld trifft aber auch Deutschland, das neben Frankreich Vorbildfunktion in der Euro-Zone hat. Bis zur Finanzkrise gab es in Bonn bzw. Berlin kein Bewusstsein dafür, wie sehr man für eine dauerhafte stabile Währung von einer nationalbestimmten Finanz- und Wirtschaftspolitik zu einer wirklich europäischen Absprache übergehen muss. Weil national gedacht wurde, erlaubte man viel zu lange, dass Länder wie Griechenland die eigene Wettbewerbsfähigkeit ruinieren.
Erst die Finanzkrise änderte die Situation radikal: Länder, die ihre wirtschaftspolitischen Hausaufgaben gemacht haben, stehen gut da. Aber wer dies versäumt hatte, erlitt schwere Einbrüche. Zweifel am Währungsverbund beschlichen die Anleger. Nun muss im Eiltempo das sich neigende europäische Haus mit der gemeinsamen Währung abgestützt werden: Der Fiskalpakt soll helfen. Weil die französische Unterstützung fehlte, konnte Merkel weder den zweiten Baustein des Wettbewerbspakts noch eine zukunftsorientierte Finanzpolitik durchsetzen: In Ländern mit nach wie vor hohem jährlichen Haushaltsdefizit wie Frankreich wächst die Gesamtverschuldung immer weiter – weshalb die nächste Krise droht, wenn für diesen wachsenden Schuldenberg auch noch höhere Zinsen gezahlt werden müssen. Die Kluft zwischen Deutschland und Frankreich wird immer größer.
Grenzen auf, Augen zu
Nicht viel anders ist die Entwicklung bei der Aufgabe der Grenzkontrollen verlaufen – eine der wichtigsten Errungenschaften der EU, wenn man den regelmäßigen Befragungen der EU-Bürger glauben darf. Anfangs genossen alle ihren Vorteil: Wer in den Schengen-Raum aufgenommen wurde, musste als Gegenleistung für das passfreie Reisen zwar für sichere Außengrenzen sorgen, konnte dies aber wegen des freien Zugangs seiner Bürger zur großen kontinentalen Freiheitszone innenpolitisch gut verkaufen. Die alten EU-Staaten wiederum konnten nach und nach ihre Grenzkontrollen beseitigen und ihren Bürgern ein besonderes Freiheitsgefühl präsentieren.
Vor allem Deutschland war der große Profiteur. Denn als einstiger Frontstaat des Kalten Krieges schätzten es die Deutschen besonders, dass mit dem polnischen Schengen-Beitritt am 1. Mai 2004 dann 2007 die Grenzkontrollen nach Osten fielen. Weil auch der Nicht-EU-Staat Schweiz die Schengen-Regeln übernahm, konnten am 12. Dezember 2008 die letzten Grenzkontrollen fallen. Seither hat Deutschland nur noch in Häfen und Flughäfen Schengen-Außengrenzen. Durch die gleichzeitige Schaffung des so genannten Dublin-Systems wurde Deutschland doppelt entlastet: Die Bundesrepublik konnte sich den Luxus eines ambitionierten Asylrechts leisten, weil die meisten Asylbewerber Deutschland gar nicht erreichen konnten – denn die EU-Außenstaaten waren fortan verpflichtet, die Anträge zu bearbeiten; nur in Ausnahmefällen wurden sie von Deutschland übernommen.
Kein Wunder, dass wechselnde Bundesregierungen deshalb großzügig über die seit Jahren existierenden Verstöße gegen das Schengen-System hinwegsahen: Egal, ob Länder EU-Pässe schlicht verkauften, bestimmte EU-Staaten Visa besonders großzügig erteilten oder manche Schengen-Grenzen schlicht nicht kontrolliert wurden: Deutschland konnte es egal sein, weil die Dublin-Regelung dafür sorgte, dass dies vor allem in anderen Staaten zu Problemen führte. Auch als mit Griechenland 2000 die Kontrollen fielen, änderte sich dies nicht – obwohl die Aufnahme des Landes in das System 1992 schon deshalb problematisch war, weil es als einziger Mitgliedstaat gar keine Landgrenze zu einem anderen Schengen-Land hat.
Im Bereich der Innen- und Justizpolitik verhinderte ausgerechnet Deutschland, das im Finanzbereich so sehr auf Regeln pocht, die Schaffung eines europäischen Regelwerks, mit dem für ein dauerhaftes Funktionieren von Schengen und Dublin hätte gesorgt werden können. Es dauerte bis zum EU-Vertrag von Lissabon 2007, dass Deutschland überhaupt europäische Kompetenzen in der Innen- und Justizpolitik akzeptierte – worauf eine Zone der Reisefreiheit eigentlich basieren muss. Die im Prinzip notwendige Beteiligung an den Grenzkontrollen in Schengen-Außenstaaten oder gar eine gemeinsame Grenzschutzmission galten aber weiterhin als „No-Go“.
Wie national und wenig europäisch wechselnde Bundesregierungen in diesem Bereich dachten, zeigt der Rückblick auf das Jahr 2011. Damals löste der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi Empörung aus, als er auf der von Flüchtlingen überlaufenen Mittelmeerinsel Lampedusa einfach Touristenvisa ausstellen ließ, um Asylbewerber in nördliche EU-Staaten weiterreisen zu lassen. Ähnlich wie Anfang 2015 bei dem mit hohen Asylbewerberzahlen konfrontierten Ungarn zeigten die EU-Staaten keine Solidarität mit Italien.
Dabei gab es schon 2011 den Vorschlag gemeinsamer Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen. „Wir brauchen dringend eine europäische Quotenregelung, die anerkannte Flüchtlinge am Maßstab der Bevölkerungszahl und der bisherigen Flüchtlingsaufnahme auf die 27 EU-Länder verteilt", hatte der damalige SPD-Innenexperte Sebastian Edathy im Februar 2011 gefordert. Aber auch Deutschland lehnte dies vehement ab – bis ins Jahr 2014. Erst als die Flüchtlingszahlen hierzulande in die Höhe schossen, konnte man sich mit dem Vorschlag der EU-Kommission, verbindliche Quoten für alle EU-Staaten festzulegen, anfreunden. Denn nun bedeuteten diese nicht mehr eine Belastung, sondern eine Entlastung Deutschlands. Erst seitdem die eigene Not groß ist, entdeckt die Bundesregierung europäische Solidarität.
Am Ende kommen neue europäische Regeln
So bitter die rückblickende Analyse auch klingen mag: Europa und die EU sind deshalb noch lange nicht verloren. Denn letztlich verlief die europäische Integration immer so, dass Krisen notwendig waren, um nationale Engstirnigkeit zu überwinden und deutlich zu machen, wie sehr die Einhaltung von Regeln allen nutzt. Erst die Krise zeigt den Beteiligten zumindest im kontinentalen Europa, dass die globalen Entwicklungen ein gemeinsames Vorgehen erforderlich machen. Genau dieser Erkenntnisprozess lässt sich nun in beiden Krisen beobachten – sowohl durch das Einlenken Griechenlands auf die Grundlagen der Euro-Rettungspolitik als auch bei der Reform des europäischen Asyl- und Zuwanderungsrechts. Der heftige Streit in der Flüchtlingsfrage zeigt nicht etwa den Zerfall der EU. Er beweist vielmehr, dass die EU-Staaten endlich begonnen haben, ernsthaft darüber zu diskutieren, wie eigentlich das Fundament an Werten und Regeln aussehen sollte, um am Ende statt des schiefes Rohbaus ein ordentliches europäisches Haus errichten zu können.