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01. Juli 2013

Das Rufen der Ratlosen

Nicht das Unglück selbst, sondern dessen reitende Boten: Geschichte und Zukunft des Populismus

Ein Blick auf die europäische Historie seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt, dass das populistische Sentiment immer am Werk war. -Italien ist dafür ein gutes Beispiel, nicht erst seit Beppe Grillo. Viele Bürger sind unzufrieden mit politischem Stillstand, suchen einen Ausweg. So auch die „Alternative für Deutschland“, die Antwort auf Merkels Schweigen.

Sie sind in ihrer Mehrheit zweifellos Bürger, eher steifleinene zudem. Auch wenn sie in diesen Monaten ab und an etwas lauter werden, ändert das nichts daran, dass sie eigentlich den Kammerton und das gepflegte Gespräch im kleinen Kreis vorziehen. Schaut man sich Versammlungen der „Alternative für Deutschland“ (AfD) an, dann blickt man in die Gesichter vieler Männer und etlicher Damen, denen das Versammlungswesen – schon gar, wenn es den Ruch der anti­institutionellen Zusammenrottung hat – ziemlich fremd ist. Man sieht ihnen an, dass sie lieber alleine und daheim wären. In der Öffentlichkeit bewegen sie sich eher scheu. Das kommt auch daher, dass sie fast alle aus einer Tradition stammen, in der jeder für sich zu stehen hat und in der das Kollektiv entweder Furcht einflößte oder für den verzweifelten, schwachen Gestaltungswillen von Menschen stand, die defizitär sind, die sich nicht zu helfen wissen. Der Schwung, zu dem die AfD ansetzt, ist auch ein defensiver.

Und doch hat sie schon großen Schrecken verbreitet. Ihr Treiben wird je nachdem verschwiegen oder dämonisiert – in beiden Fällen gilt sie als Störung, der ein Ende gemacht werden muss. Bitte zum alten Parteiensystem zurückkehren! Give populism no chance! Die Kommentatoren lassen ihre bangen Blicke dann weit über Europa schweifen. Denn ihnen schwant, dass die AfD Teil einer gesamteuropäischen Krankheit sein könnte, deren Symptom eine angeblich wachsende Bereitschaft der Völker des Kontinents sei, sich von der segensreichen Europäischen Union abzuwenden, für die fast alle Parteien über Jahrzehnte hinweg doch so hingebungsvoll, man könnte auch sagen: unnachgiebig gepredigt und geworben haben. Allüberall, so die Furcht, erhebt der Populismus sein böses Haupt, und es stellt sich die paradoxe Frage, ob es bald eine nationalistisch motivierte Internationale der EU-Verächter geben wird.

Man sollte wohl etwas ganz Grundsätzliches zu bedenken geben: Populistische Bewegungen oder Parteien sind, wenn man so will, meist an sich selbst nicht schuld. Sie sind erst einmal nicht das Unglück selbst, sondern dessen reitende Boten. Auch wenn in jedem Bürger ein Raufbold, Querulant und Wüterich schlummern mag, Volks­charaktere gibt es ebenso wenig wie ein in allen Menschen schlummerndes populistisches Gen. In aller Regel kommt es dann zu populistischen Ausbuchtungen und Erhebungen in der politischen Landschaft, wenn das herkömmlicherweise für die Politik zuständige Personal Probleme übersehen oder missachtet hat. Passiert das über längere Strecken hinweg, dann setzt da und dort die Zornesgärung ein und es braucht nur einen geschickten, attraktiven Rhetor, um dem Unmut eine politische Gestalt zu geben. Dieser Rhetor kann – wie einst Jörg Haider in Österreich oder Pim Fortuyn in den Niederlanden – als jugendlicher Held, als Kopie von Leinwandgrößen daherkommen. Er kann aber auch – wie Beppe Grillo in Italien – in Gestalt eines alternden Schreihalses auftreten, dem der wütende Aufschrei wie in den Körper eingeschrieben ist. Beide Typen mögen finstere Kräfte anziehen. 

Im Kern muss das vom Populismus bewegte oder gar von ihm aggregierte Milieu aber keineswegs aus einem geschlossenen Block bestehen. Der Populismus kann zwar immer einmal wieder auf eine große Kundschaft zählen. Es handelt sich aber in aller Regel um Laufkundschaft, die bei der nächsten Gelegenheit gerne das Pferd wieder wechselt oder zur vorigen Apathie zurückkehrt. Der gemein­europäische Populismus ist nicht jenes Böse, das mancher Theorie zufolge auf die Mitte der Gesellschaft zielt oder sie gar schon besetzt hat. Er ist so etwas wie ein Gespenst, das in unterschiedliche Gewänder gehüllt das politische Geschehen begleitet, in aller Regel nicht aber bestimmt. Er ist eine mehr oder minder bizarre und gewissermaßen zeitlose Garnierung, nicht das Menü selbst.

„Schwarze Schatten über Europa“

Dies festzustellen, scheint manchem zu langweilig zu sein. Und so wird das Bild eines fast unaufhaltsam auf dem Vormarsch befindlichen Populismus gezeichnet. „Schwarze Schatten über Europa“: So hat La Repubblica, Italiens größte Tageszeitung, am 20. Mai 2013 ein Dossier überschrieben, das der populistischen Gefahr gewidmet wurde. Um unübersehbar zu verdeutlichen, wie groß die Gefahr sei und wohin sie ziele, zierte die erste Seite ein düsterer Scherenschnitt: zu sehen war eine hochkant stehende Ein-Euro-Münze, die still vor sich hin bröckelte; daneben ein Mann, der die Reste wegfegt. Der dazu gehörende Essay von Bernardo Valli suggeriert, in Europa gehe ein immer mächtiger werdendes Gespenst des Populismus um.

Damit das keinem Leser entgehe, wird das Ganze noch mit einer Karte Europas versehen, in die die Prozentanteile eingezeichnet sind, die populistische Parteien bei nationalen Wahlen gewonnen haben. In den 14 aufgeführten Staaten, die von Finnland über Österreich und Italien bis nach Ungarn und Griechenland reichen, ergibt sich so ein imposanter Durchschnitt: 20,01 Prozent der Wähler, also immerhin ein Fünftel, haben dem Autor zufolge populistisch und antieuropäisch gewählt. 

Das dramatische Bild wird schon dann etwas harmloser, wenn man einige der genannten Länder genauer anschaut. Für die Niederlande wird Geert Wilders’ „Partei für die Freiheit“ angeführt – deren Lack indessen längst schon blättert: Zwar kam sie 2012 bei der Parlamentswahl auf stolze 10,1 Prozent – das sind aber über 5 Prozent weniger als bei der vorausgegangenen Wahl. Alles weist darauf hin, dass die Partei nicht die Kraft hat, ein stabiler politischer Faktor zu werden. Es ist wie oft schon: Populisten laufen Gefahr, sich tot zu siegen. Oder: Finnlands „Wahre Finnen“ (hier mit 19 Prozent angeführt) haben womöglich ihren Zenit schon hinter sich. Ähnliches gilt für Österreichs FPÖ und das neue „Team Stronach“, das hier zusammengenommen mit 29 Prozent gelistet ist. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Das Manko der Warngrafik besteht darin, dass sie jeweils die letzten Großerfolge populistischer Parteibewegungen abbildet, nicht aber den in der Regel folgenden Prozess der Selbstzerlegung, Erlahmung und der damit verbundenen Enttäuschung des Publikums.

Ganz abgesehen davon, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. Sicher ist Christoph Blochers SVP in der Schweiz eine Partei, die mit Ressentiments arbeitet (was übrigens, recht erinnert, auch CDU, CSU, SPD, FDP und gar die Grünen schon getan haben sollen!) und die, im Einklang mit vielen Schweizern, den Euro ablehnt – es ist aber sehr die Frage, ob sie wirklich eine Partei ist, die allein vom Hass und vom antiinstitutionellen Furor getragen ist. Eher sieht es so aus, dass sie ein begründbares Anliegen vorträgt, das aber laut, marktschreierisch und rabulistisch tut. Das mag zwar den Ohren weh tun, ist aber noch nicht der Untergang der Demokratie. 

Ein anderes in La Repubblica aufgeführtes Beispiel ist Ungarn. Hier werden Viktor Orbáns mit absoluter Mehrheit regierende Partei „Fidesz“ und die offen rechtsradikale Partei „Jobbik“, die bei der Parlamentswahl 2010 auf 16,7 Prozent der abgegebenen Stimmen kam, flugs zusammengezählt. Das Ergebnis: In Ungarn entfielen knapp 70 Prozent der Stimmen auf hetzerische Populisten. Die These, die hier insinuiert wird, ist ziemlich steil. Keine Frage: Viktor Orbán verfolgt einen nationalkonservativen Kurs, er springt ruppig mit Widerspruch um, hält Opposition für weniger als ein notwendiges Übel und regiert insgesamt recht autokratisch. Ist er – der schon als liberaler Antikommunist im Jahre 1989 populistisches Talent an den Tag legte – deswegen ein Politiker, der nur auf Populismus setzt und der sein Land aus dem Verbund der Staaten mit funktionierender Gewaltenteilung herauslösen will? Die Schluss­folgerung wäre vorschnell.

Ein Prozess der Selbstzerlegung

Es ist mehr als kühn, die 52,7 Prozent Wähler, die Orbáns Partei gewählt haben, samt und sonders dem dunklen Reich des Populismus zuzuschlagen. Es finden sich unter ihnen viele bürgerliche Wähler, die Fidesz nicht aus glühender Überzeugung, sondern mangels einer tragfähigen liberal-bürgerlichen Partei gewählt haben. Und viele auch, die aus Gewohnheit für Fidesz gestimmt haben, die ja einmal als libertäre Partei begonnen hatte. Ein genauerer Blick auf dieses Elektorat würde noch weitere Ausdifferenzierungen ermitteln. Kurzum, es hilft nicht viel, populistische Tendenzen voreilig zu einer klumpenhaften und mächtigen Wirklichkeit zu vereindeutigen. Ungarn ist auf einem eigentümlichen Weg zwischen Demokratie und Autokratie – ein Weg, der in den politologischen Lehrbüchern nicht verzeichnet ist. Wo das enden wird, weiß niemand. Wie auch niemand weiß, ob nicht der Souverän bei der Parlamentswahl im kommenden Jahr die Zustimmung zu Orbáns Politik drastisch reduziert. Ganz abgesehen übrigens davon, dass Orbán mit den Institutionen der Europäischen Union zwar Katz und Maus spielt (was ihn daheim zum Helden werden lässt), dass er aber keineswegs bereit ist, die Mitgliedschaft seines Landes in der EU aufs Spiel zu setzen: der materiellen Vorteile wegen nicht, welche die EU-Zugehörigkeit mit sich bringt; aber auch, weil er vermutlich das Wertefirmament nicht missen will, das über der EU steht. Die Europäische Union wirkt wirklich.

Bernardo Valli schreibt: „Heute gibt es 27 Parteien populistischer Art, vielleicht sogar noch mehr, denn sie schießen wie Pilze aus dem Boden. In 18 europäischen Staaten üben sie einen beträchtlichen Einfluss aus. Zum Vergleich: In den siebziger Jahren gab es in Europa nur vier solcher Parteien.“ Ein bisschen problematisch ist dieses Tremolo schon. Erstens, weil der Autor einen vielleicht nicht ganz unwichtigen Umstand nicht in Betracht zieht: In den siebziger Jahren gab es in Europa einige Staaten, deren Bevölkerung schwerlich eine populistische Partei hätte wählen können, weil es diese Parteien erstens nicht gab und weil zweitens in diesen Ländern gar keine Wahlen stattfanden, die den Namen verdient hätten. Die Rede ist von den Staaten des Warschauer Paktes, die in Herrn Vallis Schreckensszenario zwar nur mit zwei Ländern – Ungarn und Bulgarien – vertreten sind. Man könnte aber mühelos Jarosław Kaczyn´ski Partei „Recht und Gerechtigkeit“ in Polen oder die sozialdemokratische Partei SMER-SD des slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico oder auch so manche politische Gruppierung in Rumänien hinzuzählen.

Nichts Neues unter der Sonne

Wer den Populismus als ein neu-europäisches Phänomen darstellt, liegt aber vor allem deswegen schief, weil der Populismus in Europa ein altes und vertrautes Phänomen ist. Der Groll gegenüber dem komplizierten System von Rechtsstaat, Demokratie, Gewaltenteilung war immer eine große europäische Kraft – schon deswegen, weil die Demokratie ein vergleichsweise junges Phänomen ist und weil ihr Weg nicht nur mit Erfolgen gepflastert ist. Es wäre ja ein Wunder, wenn die demokratische Sittsamkeit allen Bürgern Europas in die Wiege gelegt, wenn sie gewissermaßen angeboren wäre. Aber davon kann ja keine Rede sein. Die Demokratie ist etwas, das dem alten Adam und der Übermacht der autokratischen Traditionen der Geschichte abgetrotzt werden muss, immer wieder. Deswegen sollte man eigentlich darüber erstaunt sein, wie gut doch gemeinhin das filigrane Gebilde zivilisierter Staatlichkeit funktioniert, das sich ja nicht in erster und auch nicht in zweiter Linie auf die Macht der Gewehrläufe stützt, das vielmehr auf die scheinbar schwachen Mächte von Diskurs, Konsens und Zustimmung setzt. Kann es da verwundern, dass das Volk immer mal wieder ausbrechen will, dass es immer mal wieder versucht, möglichst thea­tralisch auf die Sahne zu hauen?

Ein flüchtiger Blick auf die europäische Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt sofort, dass das populistische Sentiment immer am Werk war. Ein besonders schönes Beispiel gibt Italien ab, wo heute viele meinen, mit dem Komiker Beppe Grillo und seinem „MoVimento 5 Stelle“ sei das Land zum ersten Mal mit dem Populismus geschlagen. Als sich 1944 das Ende des Faschismus abzeichnete, kam dem erfolgreichen Journalisten und Filmregisseur Guglielmo Giannini, der viele populäre Unterhaltungsbücher geschrieben hatte, eine Idee. Er hasste schon lange den Faschismus, weil in ihm die große Phrase herrschte und zielstrebig die Politisierung des gesamten Alltagslebens betrieben wurde. Er sehnte sich nach einem Staat, der seine Bürger in Ruhe lässt. Und der 1891 Geborene, der noch das instabile politische System vor der Machtusurpation Mussolinis 1922 gekannt hatte, fürchtete, nach dem Ende des „Duce“ werde das Land wieder einem Parteiensystem ausgeliefert, in dem die Funktionäre herrschen und der Bürger nichts zu sagen hat. Um das zu verhindern, gründete er 1944 eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel L’Uomo qualunque. Auf Deutsch würde man sagen: Jedermann. 

Unter gleichem Namen gründete er wenig später eine Partei. Sie sollte jedermanns Sprachrohr werden, sie sollte – im Grunde ein Paradox – im Par­teiensystem dessen Ablehnung einnisten und heimisch machen. Giannini wollte einen Staat, der sich zurücknimmt, der seine Bürger in Ruhe lässt, sie weder mit rechten noch linken Ideologien behelligt und auf ein kompliziertes Institutionengefüge verzichtet. Dahinter stand der nostalgische Wunsch, aus den Wirren der Geschichte entlassen zu werden und in die überschaubare Auenlandschaft der Eigentlichkeit zurückkehren zu dürfen. 

Großer und dauerhafter Erfolg war dem „Fronte dell’Uomo Qualunque“ aber nicht beschieden. Bei der Parlamentswahl von 1946 kam er auf 5,3 Prozent der Stimmen und stellte in der verfassung­gebenden Versammlung 30 Abgeordnete. Später versuchte er, sich mal an die christlich-demokratische Partei, mal an die faschistische Partei MSI, mal aber auch an den Kommunistenführer Palmiro Togliatti anzuschmiegen. Doch es half alles nichts, die Antiparteien-Partei löste sich 1949 auf. Im Bewusstsein der Italiener ist sie aber nie untergegangen. Die Wendung „Qualunquismo“ ist bis heute im öffentlichen Diskurs noch immer eines der wirksamsten Schimpfworte, um volksnahes Schwadronieren – etwa Grillos oder davor der „Lega Nord“ Umberto Bossis – als hochgefährliches Politgift zu ächten.

Merkels großes Schweigen

Seitdem ist der Populismus in ganz Europa immer wieder aufgeflackert. In den fünfziger Jahren etwa in Gestalt einiger Parteien in der Bundes­republik Deutschland, die – wie der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) – das Gefühl der Flüchtlinge, in dieser neuen und fremden Republik nicht willkommen zu sein, politisch auszuschlachten suchten. Oder die – wie die KPD – bemüht waren, die antiwestlichen und antimarktwirtschaftlichen Stimmungen in der Bevölkerung auszunutzen. Beide erzielten anfangs ansehnliche Erfolge. Während die KPD verboten wurde, zerbrach der BHE am Erfolg des bundesrepublikanischen Modells.

Mogens Glistrups „Fortschrittspartei“, 1972 in Dänemark gegründet, brachte es im Jahr darauf zur zweitstärkten Fraktion im dänischen Parlament. Die Antisteuer-Partei trat rabiat auf, bediente durchaus trübe Instinkte und propagierte später einen radikalen Antiislamismus. Auch sie verging. Das liegt daran, dass der Populismus zu mächtigen Eruptionen fähig ist, aber nicht das Talent besitzt, sein Anliegen auf Dauer zu stellen. Dem ist eine gute Botschaft zu entnehmen: Herkömmliche Parteien, die auf die repräsentative Demokratie setzen, sind langweilig, bringen oft ein wenig attraktives Personal hervor, neigen zur geistigen und personellen Selbstabschottung. Aber sie sind erfolgreich, sie halten durch und sie sind in der Lage, populistischen Anstürmen zu widerstehen, ohne sich das populistische Anliegen allzu sehr anzuverwandeln.

Das gilt auch für Italien. Es war für viele ein Schock, dass bei der Parlamentswahl im Februar 2013 Beppe Grillo mit einem Frontalangriff auf die politische Klasse („Schickt sie alle nach Hause!“) aus dem Nichts heraus und ohne jeglichen politischen Apparat ein Viertel der Stimmen auf sich vereinen konnte. Die Furcht ging um, der Plebs in seiner dunkelsten Gestalt könne sein Haupt erheben, ja ein neuer Faschismus drohe womöglich. Schon bei den Regionalwahlen im April und den Bürgermeisterwahlen im Mai und Juni 2013 waren die Stimmen mindestens halbiert. 

Vor allem aber: Grillo ist nur das Thermometer, das eine sehr tief sitzende Unzufriedenheit mit dem Stillstand der herkömmlichen Politik Italiens anzeigt. Schaut man sich die inzwischen kräftig bröckelnde Zahl der Grillo-Wähler genauer an, dann sieht man schnell, dass sie aus allen politischen Lagern kommen und dass die Motive vieler durchaus lauter sind. Sie suchen einen Ausweg aus dem Stillstand der italienischen Politik. Sie sind Ratlose, die laut rufen. Dass sie ratlos sind, ist nicht Grillos Schuld, sondern die Schuld derer, denen es in 20 Jahren nicht gelungen ist, nach dem Zerfall der alten Parteienlandschaft ein politisches System zu schaffen, das erstens funktioniert und zweitens nicht mehr Beute einer unverantwortlichen politischen Klasse ist. Wäre dieses Problem gelöst, würde Grillo ziemlich allein auf den Marktplätzen des Landes herumschreien. Solange das aber nicht geschehen ist, hat er allen Grund, sein antiinstitutionelles Gift zu verspritzen.

Und unsere heimische „Alternative für Deutschland“? Groll und Zorn gehen auch in ihr um. Es werden sich – wie immer, wenn Parteien sich um ein großes Nein herum gruppieren – etliche einfinden, denen die ganze Richtung nicht passt, die den Eliten ziemlich grundsätzlich misstrauen und die einen nicht näher benennbaren U-Turn im Sinn haben. Diese Leute neigen nicht zum sorgsamen Umgang mit dem, was sie vorfinden. Wie einst bei der radikalen Linken überwiegt das „Weg mit!“. Sie ähneln denen, die dem liegen gebliebenen Auto gegen die Kotflügel treten, statt dafür Sorge zu tragen, dass es wieder repariert wird. 

Aber das ist vermutlich nicht die Mehrheit der AfD-Unterstützer. Die Mehrheit setzt sich vielmehr aus durch und durch vernünftigen Leuten zusammen, denen nur an einem Punkt der Hut hochgegangen ist. Irgendwann konnten sie es einfach nicht mehr ertragen, dass Angela Merkel zu fast allem, was sie tut, insbesondere aber zu ihrer Europa- und Euro-Politik sagt, sie sei alternativlos. Merkel sendet nicht, Merkel antwortet nicht: Das finden diese Bürger, deren Herz oft für die CDU schlägt, auf Dauer ungut, ja frech. Wer nicht hören will, muss fühlen – also haben sie sich parteipolitisch neben (und damit gegen) Angela Merkel in Stellung gebracht. Auch sie sind Boten. An der Wiege der „Alternative für Deutschland“ aber steht das große Schweigen der Angela Merkel.

Thomas Schmid ist Herausgeber der Welt-Gruppe.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 65-71

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