Das Recht, zu wissen
Robert Irwin verteidigt die Orientalistik gegen Edward Said
Fast drei Jahrzehnte sind vergangen, seit der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said sein Buch „Orientalismus“ veröffentlicht hat. Freilich ist dieser Begriff mehrdeutig. Vor allem im Deutschen kann Orientalism als Kunstrichtung, Ideologie oder Fachgebiet Orientalistik übersetzt werden. Said meinte mit Orientalismus meist eine typische Art der westlichen Vormacht über den Orient.
Dabei kritisierte Said vor allem die britischen und französischen Orientalisten. Ihre deutschen Kollegen, die im 19. Jahrhundert federführend in der Orientalistik waren, sparte er aus. Dies hing auch damit zusammen, dass der vor drei Jahren verstorbene Said kaum deutsche Literatur rezipierte. Jedoch betrifft auch die Deutschen dessen Kernthese: Orientalisten hätten Kolonialismus und Imperialismus den Weg geebnet und den Orient als Idee eines (zu beherrschenden) Anderen erst geschaffen. Der Orient und der orientalistische Diskurs seien lediglich Konstrukte des Westens.
Obwohl es harsche Kritiken durch die Orientalisten gab, die zahlreiche Fehler bei Said enthüllt haben, ließ dieser von seiner Kritik nicht ab und nahm keinerlei Korrekturen in den vielen Auflagen seines Werkes vor, das zu einer Art Kultbuch aufstieg. Irgendwann musste der Tag kommen, an dem ein Autor Said gründlich widerlegen würde. Aber dies konnte nur voluminös geraten, denn Said hat in einem Rundumschlag weit ausgeholt und die ersten Schuldigen für die Miseren des Orients schon bei den alten Griechen vermutet. So musste sein Kritiker von der Antike an viele Texte in griechischer und lateinischer Sprache sowie in drei Sprachen des Islams auf Saids Anwürfe prüfen (der selbst übrigens nicht diese Sprachen beherrschte). Zwar gab es schon Bücher, die einen Überblick über die Debatte boten, etwa die beiden Bände von Alexander L. Macfie („Orientalism. A Reader“, 2000; „Orientalism“, 2002), mit denen sich Robert Irwin leider nicht befasst. Andere Autoren haben Said verteidigt wie Muhammad Shahid Alam, Ziauddin Sardar und Zachary Lockman, oder ihn kritisiert wie Bernard Lewis, Sadiq Jalal al-Azm, Fuad Ajami und jüngst Kristian Davies, um nur wenige zu nennen. Deutschsprachige Autoren hielten sich im Streit um den Orientalismus bedeckt, abgesehen von Artikeln Bassam Tibis und Hartmut Fähndrichs.
Doch legten Deutsche keine eigenständigen Bücher vor, die allein Edward Saids Werk galten und ihn überwanden. Dem nahe kamen Nina Berman („Orientalismus, Kolonialismus und Moderne“, 1996) und Isolde Kurz („Vom Umgang mit dem Anderen. Die Orientalismus-Debatte zwischen Alteritäts-Diskurs und interkultureller Kommunikation“, 2000). In jüngster Zeit erschienen drei Bände, in denen Ludmila Hanisch („Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, 2003), Sabine Mangold („Eine ‚weltbürgerliche Wissenschaft‘. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert“, 2004) und Andrea Polaschegg („Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert“, 2005) aber eher auf die Geschichte der Orientalistik oder auf Wahrnehmungsprobleme des Orients, jedoch nicht auf eine Revision Saids abzielten.
Bleibt also nur der Blick in den angelsächsischen Raum. Hier hat Said jetzt in Robert Irwin seinen Meister gefunden. Der Forscher lehrte an der Londoner Universität Mittelalterlichen Islam und schrieb fünf Bände zur klassischen arabischen Literatur, zur islamischen Kunst und zu den Mamluken. Er hat in seinem neuesten Buch „For Lust of Knowing: The Orientalists and Their Enemies“ mit Blick auf Saids Werk die Geschichte der Orientalistik von den Anfängen an durchforstet. Hierbei konzentriert er sich auf Mittelost und auf die Arabistik.
Seine Ergebnisse sind für die aktuellen Zwiste um den Zusammenprall der Zivilisationen sehr grundlegend. Wer an die Wurzeln der jüngsten Konflikte zwischen Orient und Okzident gehen will, findet bei Irwin Einsichten in deren historische Dimensionen. Hier ist nicht der Raum, die Argumente Irwins detailliert darzustellen. Da er in seinem Buch einen Nachfolgeband angekündigt hat, soll nur knapp auf Leerstellen seines Werkes eingegangen werden. Es erscheint so, als ob Irwin die Rolle der deutschen Orientalisten leicht überhöht hat. Sicherlich führten sie von 1845 bis 1914 das Feld in Europa an. Jedoch gab es zuvor schon britische Orientforscher, die bei ihm etwas zu kurz kommen. (Bernard Lewis verweist auf sie in seinem Beitrag „British Contributions to Arabic Studies“ von 1941). Später gab es auf den Inseln den linken Orientalismus, der die Lösung im marxistischen Ansatz sah. Beispiele sind Bryan S. Turner („Marx and The End of Orientalism“, 1978) und Fred Halliday.
Irwin hat die Theorien vieler universitärer Forscher hervorragend dargestellt. Andere, etwa die am Berliner Seminar für Orientalische Sprachen und am Hamburger Kolonialinstitut, hat er vernachlässigt. Dabei verlor die Islamwissenschaft schon durch ihre Gründer wie Martin Hartmann und Carl Heinrich Becker ihre Unschuld, indem diese sich dafür einsetzten, im Ersten Weltkrieg den Dschihad gegen Briten, Franzosen und Russen im kolonialen Hinterland zu führen. Irwin handelt dies am Rande ab und meint wohl nicht, dass dies 1916 auch die Bildung der Schule für Orientalische und Afrikanische Studien in London beeinflusste.
Kritik an Edward Saids Orientalismusbegriff findet sich auch in Hasan Hanafis „Einführung in die Wissenschaft der Okzidentalistik“, Ian Burumas und Avishai Margalits „Okzidentalismus“ sowie auf den Webseiten etwa von Martin Kramer und Daniel Pipes. All dies schmälert aber Robert Irwins großen Wurf überhaupt nicht.
Robert Irwin: For The Lust Of Knowing. The Orientalists and Their Enemies. Allen Lane (Penguin), London 2006. 410 Seiten, £ 25,00.
Dr. Wolfgang G. Schwanitz, geb. 1955, Arabist und Nahost-Historiker, lehrt am Burlington County College in New Jersey.
Internationale Politik 8, August 2006, S. 134-135