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01. Juli 2011

Das Netz als Nadelöhr

Hindernisse auf dem Weg ins Zeitalter der Erneuerbaren

Wenn in Nordeuropa der Wind weht, nützt das den Südeuropäern wenig, scheint in Südeuropa die Sonne, profitiert der Norden kaum davon. Eine europäische Energieinfrastruktur, die auf erneuerbare Energien setzt, wird nicht ohne umfangreiche Speicherungs- und Transportkapazitäten auskommen. Europa braucht das „Super-Grid“.

Todesopfer seien nach wenigen Tagen zu befürchten, sollte im ganzen Land die Stromversorgung zusammenbrechen, sollten Krankenhäuser und Notdienste lahmgelegt sein. Eine Drehbuchidee? Nein. Das ist die Konsequenz aus einer jüngst erschienenen Studie des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Die Stilllegung deutscher Atomkraftwerke schürt derzeit die Angst vor Situationen wie dem großen Stromausfall im November 2006, als ausgehend vom Ruhrgebiet in Millionen Haushalten in Europa die Lichter ausgingen. Allerdings nur kurz – ungefähr für eine Spielfilmlänge.

Unabhängig davon, wie wahrscheinlich Blackouts sind, zeigt sich: Strom ist wichtig für die nationale Sicherheit. Neben einer zuverlässigen Erzeugung muss auch der Transport über die Netze stabil funktionieren. Die Höchstspannungstrassen (380 kV) reichen für die Aufgaben aber nicht mehr aus – auch weil die Realisierung neuer Trassen bis zu zehn Jahre dauert. Europaweit herrscht Konsens: Das Stromnetz ist ein Flaschenhals. Das bremst die Integration erneuerbarer Energien und damit die Energiewende aus. Doch Brüssel will bereits mehr als die 20-20-20-Formel. Bislang sollte bis 2020 der CO2-Ausstoß um 20 Prozent reduziert, die Energieeffizienz sowie der Anteil erneuerbarer Energien jeweils um 20 Prozent erhöht werden. Mittlerweile plädieren die EU-Parlamentarier schon für 30 Prozent weniger CO2 bis 2020.

Versorgung in Gefahr

Dabei dürfte der Strombedarf weiter steigen. Zwar hält die Bundesregierung im Energiekonzept bis 2050 einen Bedarfsrückgang in Deutschland um 25 Prozent gegenüber 2008 für möglich. Einhellig erklären Netzbetreiber, Institutionen wie der Verband der Elektrotechnik VDE, aber auch unabhängige Wissenschaftler, dass dies kaum realistisch sei. Kurt Rohrig vom Fraunhofer- Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES) in Kassel etwa ist überzeugt, dass der Strombedarf bis 2050 zunehmen wird.

Es ist auch die Energiewende, die die Entwicklung treibt: Viele EU-Länder setzen auf Elektroautos. Kommt der Strom aus regenerativen Quellen, sparen sie CO2. Zugleich sollen Autobatterien künftig als Kurzzeitspeicher für überschüssigen Regenerativstrom dienen – und das Netz entlasten. Bei Bedarf kann die Energie in die Leitungen zurückfließen. Bis 2030 sollen sechs Millionen Elektroautos auf deutschen Straßen rollen. „Dieser Sektor wird die Stromnachfrage aus Erneuerbaren steigen lassen“, ist Rohrig überzeugt.

Die Integration von Strom aus Sonne und Wind ins Übertragungsnetz bedarf jedoch einiger Anstrengungen. Wetterschwankungen führen zu einer fluktuierenden Einspeisung der Energie. Wird viel Wind- und Sonnenstrom produziert, gleichzeitig aber wenig verbraucht oder umgekehrt durch einen plötzlichen Wetterumschwung kein Strom mehr produziert, kann dies in den Netzen zu Überlastungen oder Spannungsschwankungen führen. Schon heute ist zeitweilig die Stabilität der oft Jahrzehnte alten Stromleitungen gefährdet – und damit die Versorgungssicherheit, die als gesetzlicher Auftrag von den Netzbetreibern in ihrer Funktion als Inhaber eines natürlichen Monopols zu gewährleisten ist. Das Unternehmen 50 Hertz Transmission GmbH etwa, um ein Beispiel zu nennen, ist für das Gebiet der neuen Bundesländer verantwortlich – eine Region mit vielen Windparks und verhältnismäßig wenigen Verbrauchern. Auch aufgrund fehlender Leitungen in den Süden und Westen registrierte man 2009 an nicht weniger als 197 Tagen eine „kritische Situation“ im Netz.

Das ist die Gegenwart. Denkt man vom Ziel her – einer Vollversorgung durch erneuerbare Energien–, dann erscheinen die Aufgaben noch größer. Übereinstimmend erklären Olav Hohmeyer, Mitglied des Sachverständigenrats für Umweltfragen, sowie Jürgen Schmid, Institutsleiter des Kasseler Fraunhofer-IWES, dass ein für das 100-Prozent-Ziel nötiger transeuropäischer Energieverbund das Super-Grid, auch Overlay-Netz genannt, unumgänglich machen würde. Dabei seien neue Leitungen von weit über 10 000 Kilometer nötig, um die Solar- und Windkraftanlagen in Südeuropa und Nordafrika  („Desertec“), die Windkraftparks vor den Küsten Nordeuropas sowie die großen Pumpspeicherkraftwerke in Skandinavien und den Alpen zu verbinden.

Wenn wir über die Stromversorgung der Zukunft reden, dann sprechen wir also über die Notwendigkeit, Energie über große räumliche Distanzen hinweg zu transportieren. „Bislang kalkulierte man im Schnitt mit 50 Kilometern vom Erzeuger bis zur Steckdose. Künftig werden es viele hundert Kilometer sein“, bestätigt Lex Hartman, Mitglied der Geschäftsführung des Netzbetreibers Tennet. Ein Blick zurück zeigt: Kohlevorkommen, Industrieansiedlungen, wachsende Städte und Kraftwerksbau standen meist in engem regionalen Zusammenhang. Ein Austausch mit Nachbarländern war teils sogar unerwünscht, wenn es um die „nationale Sicherheit“ ging. So erfolgte 1954 die Trennung der ostdeutschen Hochspannungsnetze von Westdeutschland. Mit den negativen Auswirkungen hat, wie beschrieben, die 50 Hertz Transmission GmbH bis heute zu tun. Das Netz als Nadelöhr, diese Probleme bestehen aber auch zwischen Spanien und Frankreich sowie naturgemäß zwischen Großbritannien, Skandinavien und dem europäischen Festland.

Fang den Wind

Europas neues Super-Netz muss allerdings in einer leistungsfähigeren und kostspieligeren Technologie gebaut werden. „Für Leitungen, die die Energie möglichst verlustarm durch ganz Europa transportieren können, bräuchten wir entweder eine höhere Spannung, eine niedrigere Frequenz oder statt der üblichen Wechselspannungstechnik die moderne Hochspannungsgleichstromübertragung, also HGÜ“, führt Wissenschaftler Hohmeyer aus. Als großer Schritt nach vorn gilt unter Experten die 65 Kilometer lange unterirdische HGÜ-Trasse, die derzeit an der spanisch-französischen Grenze entsteht. Nicht nur, weil auch im spanischen Netz an windreichen Tagen häufig Engpässe auftreten. Das 700-Millionen-Euro-Projekt hat Pilotcharakter, weil man nach ersten Erfahrungen mit HGÜ-Seekabeln die Technik erstmals auf dem europäischen Festland erprobt. Der große Vorteil: Im Vergleich zu herkömmlichen Wechselstrom-Höchstspannungskabeln sind die Übertragungsverluste bei HGÜ um bis zu 50 Prozent geringer.

Fraunhofer-Forscher Schmid sieht aufgrund der physikalischen Vorteile sogar die Möglichkeit, mit HGÜ-Teilstrecken das europäische Stromnetz zu stabilisieren. Dies wäre auch eine Voraussetzung, um künftig den Wind aus Nordafrika nutzen zu können, der dort im Sommer intensiver weht als im Winter. In Nordeuropa ist es umgekehrt, was sich gut ergänzt und die Versorgungssicherheit erhöht. Allerdings werde der Ausbaubedarf nicht allein durch neue große Wind- und Solarparks beeinflusst, sagt Schmid. Die Entwicklung von intelligenten Verteilnetzen mit einer Verbrauchssteuerung bei Industrie und Haushalten sowie neue Speichertechnologien wie etwa die Umwandlung von (Wind-)Strom in Methangas könnten konkrete Trassenplanungen verändern, den Bedarf sogar reduzieren – je mehr Strom dezentral, also vor Ort produziert, verbraucht oder gespeichert würde, desto weniger Strom müsste abtransportiert werden. „Nur dass niemand weiß, was das für das Jahr 2050 konkret in Zahlen bedeutet“, erklärt Fraunhofer-Experte Schmid. Den für die Netzplanung zu leistenden Spagat fasst Tennet-Manager Hartman zusammen: „2020 ist sehr nah, und es besteht sofortiger Handlungsbedarf. 2050 wiederum ist sehr weit weg. Wir versuchen uns mit verschiedenen Szenarien der wahrscheinlichsten Entwicklung anzunähern, um die richtigen Investitionsentscheidungen zu treffen.“

Wenngleich noch unklar ist, wie die Gesamterzeugungsstruktur eines Tages aussieht, eins steht fest: Die Erneuerbaren-Branche wächst bislang in einem Tempo, mit dem weder staatliche Steuerungsorgane noch Netzbetreiber Schritt halten. Nach Angaben der European Wind Energy Association stieg die installierte Leistung der Windenergie in den 27 EU-Ländern von 1998 bis Ende 2010 von 6453 MW auf rund 84 000 MW an. Allein in Deutschland legte die Branche in diesem Zeitraum von 2875 MW auf 27 214 MW zu – vor allem in der windreichen nördlichen Hälfte des Landes, was Stromautobahnen zu den südlich und westlich gelegenen Verbrauchszentren künftig nötig macht. Denn ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Das Bundesumweltministerium bekräftigte jüngst, dass bis 2030 vor den deutschen Küsten insgesamt 25 000 MW Offshore-Kapazitäten installiert sein sollen. Derzeit sind es erst 180 MW.

Dazu kommen die Solarenergie und die Potenziale der Windkraft an Land. Eine im Auftrag des Bundesverbands WindEnergie (BWE) erstellte Studie hat ermittelt, dass rund acht Prozent der deutschen Landesfläche ohne Einschränkungen für Windkraft geeignet sind. Rechnet man ein bundesweites Szenario für nur zwei Prozent durch, wären schon 198 Gigawatt (198 000 MW) an installierter Leistung denkbar. „Die Windenergie an Land könnte also jährlich 390 Terawattstunden Strom produzieren. Das entspricht bis zu 65 Prozent des Strombedarfs hierzulande. Die deutschen Atomkraftwerke wären dann überflüssig, sie erzeugten 2010 nur gut 140 Terawattstunden Strom“, sagt BWE-Präsident Hermann Albers.

Sollten die 198 Gigawatt Onshore-Windkraft Wirklichkeit werden, könnte Fraunhofer-Forscher Schmid sich vorstellen, dass der Ausbaubedarf bei 380-kVFreileitungen teilweise sogar reduziert werden würde. Weil aber auch der Zubau der Netze im Nieder- bis Mittelspannungsbereich stockt – auf diesen Ebenen speisen Onshore-Windparks meist ein – wäre die Windbranche in Einzelfällen bereit, die Initiative zu ergreifen: „Windparkbetreiber könnten Einspeisenetze bei einer entsprechenden Umlagefähigkeit der Kosten selbst bauen und betreiben“, sagt Hermann Albers, der davon ausgeht, dass so der Ausbau beschleunigt, Kosten gesenkt und neue Wachstumsfelder für den Mittelstand erschlossen würden.

Herren der Netze

Es wäre verfehlt anzunehmen, dass nur für die Regenerativ-Branche neue Leitungen gebraucht werden. Überall in Europa, auch in Deutschland, sind neue konventionelle Kraftwerke in Planung – die Energiekonzerne investieren weiterhin in Braun- und Steinkohle. In den Niederlanden soll 2019 sogar ein neues Atomkraftwerk ans Netz gehen. Wer das Thema Netzausbau auf die Integration von Wind- und Sonnenstrom verengt, betreibt Augenwischerei.

Augenscheinlich ist hingegen, dass die gesetzlich zum Ausbau verpflichteten Eigentümer der Leitungen zu unpopulären Maßnahmen gezwungen sind. Immer öfter werden Windkraftanlagen nämlich nicht ausgelastet, obwohl ihnen durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) in Deutschland eigentlich ein Einspeisevorrang zusteht. „Ausgerechnet wenn viel Wind weht, müssen aber in ganz Europa immer wieder Regenerativanlagen gedrosselt oder ganz abgeschaltet werden, weil die schlecht ausgebauten Netze den Strom nicht aufnehmen können. Angesichts des Zieles einer künftigen 100-Prozent-Versorgung mit Erneuerbaren ist das widersinnig“, erklärt BWE-Präsident Albers.

Vergleichsweise neu ist, dass die Herren der Netze selbst den schnelleren Ausbau fordern – mussten sie sich doch in der Vergangenheit gerade in Deutschland wiederholt vorhalten lassen, Investitionen zurückzuhalten. 2007 etwa fielen die Netzinvestitionen der Energieversorger um 900 Millionen Euro geringer aus als angekündigt. Zu geringe Renditen wurden als Gründe genannt – obwohl die Ausbaukosten über die Netzentgelte auf die Strompreise umgelegt werden. So drängte sich der Eindruck auf, die Energiekonzerne steckten das verfügbare Kapital lieber in lukrativere Geschäftsbereiche.

Diese Situation hat sich geändert. Während die Besitzverhältnisse bei den Verteilnetzen weitgehend unverändert blieben, wechselte in Deutschland ein Großteil der Höchstspannungsleitungen zwischen 2008 und 2010 die Eigentümer: Der E.ON-Konzern überließ sein 380-kV-Netz dem unabhängigen niederländischen Netzbetreiber Tennet. Vattenfall gab an die 50 Hertz Transmission GmbH ab, deren Mehrheitsgesellschafter der belgische Netzbetreiber Elia und der australische Pensionsfonds ifm sind. RWE gliederte das Leitungsgeschäft an ein Tochterunternehmen, die Amprion GmbH, aus, und die süddeutsche EnBW gründete die EnBW Transportnetze AG. Das zeigt: Das Unbundling, also die von Brüssel zwecks mehr Transparenz und Wettbewerb forcierte Trennung zwischen Energieerzeugung und -transport, ist weder in Deutschland noch in Europa bereits optimal vollzogen. Kritiker mahnen dies immer wieder an. Sie befürchten, dass sich bei manchen neuen Leitungsprojekten die Interessen überlagern.

Die Bekundung des europäischen Netzbetreiberverbunds Entso-E, es gehe darum, die „rapide zunehmenden erneuerbaren Energien sicher ins Netz“ aufzunehmen, erweckte im vergangenen Jahr entsprechend Aufmerksamkeit. Einige der von Entso-E vertretenen Unternehmen sind selbst wichtige Player bei der Produktion – auch was „grüne“ Energie angeht. Im Gegensatz zur Windenergie an Land, einem mittelständisch geprägten Bereich, ist die Offshore-Windkraft aufgrund der hohen Investitionsvolumen ein Fall für Großkonzerne. EnBW etwa hat jüngst den Offshore-Windpark Baltic 1 in Betrieb genommen, wo Branchenkennern zufolge künftig täglich Strom im Wert von bis zu 75 000 Euro produziert wird. Weil sich der Netzanschluss monatelang verzögert hat, plante der Konzern Ende Mai eine Klage gegen den zuständigen Netzbetreiber 50 Hertz Transmission – das macht die Interessenlage eindeutig. Und der nächste Offshore-Park, Baltic 2, ist schon in Planung.

Teure Trassen

Auch vor diesem Hintergrund sind die Ausbauprognosen von Entso-E zu sehen – und die haben es in sich: In dem auf zehn Jahre angelegten europäischen Netzentwicklungsplan, der im Auftrag der EU-Kommission erarbeitet wurde, werden bis 2020 insgesamt 35 000 Kilometer neue und 7000 Kilometer optimierte Höchstspannungstrassen veranschlagt. Bis 2014 seien deshalb Investitionen in Höhe von 28 Milliarden Euro zu leisten, erklärt Entso-E. 2014 – dieses Datum taucht in einer anderen Zielsetzung der EU-Kommission auf. Bis dahin soll der EU-Strombinnenmarkt Realität sein. Auch dafür werden die neuen Kabel und Verbindungen zwischen den einzelnen nationalen Netzen – die so genannten Kuppelstellen oder Interkonnektoren – gebraucht. EU-Energiekommissar Günther Oettinger hat bestätigt, dass Milliarden aufzuwenden sind. Und er kündigte den Verbrauchern deshalb steigende Strompreise an – im Schnitt müsse ein Vier-Personen-Haushalt 90 Euro pro Jahr mehr bezahlen. Passt das noch zu dem oft bemühten Argument, mehr Leitungen sorgten für mehr Wettbewerb und damit für niedrigere Strompreise?

Neben der teuren Technik treibt auch die Kapitalbeschaffung die Kosten in die Höhe. Netzbetreiber sammeln die nötigen Milliarden auf dem Kapitalmarkt ein, bevor sie am Ende über die Netzentgelte, die in Deutschland bis zu 30 Prozent vom Strompreis ausmachen, zum Investor zurückfließen. Tennet-Manager Hartman erläutert, worauf es ankommt: „Der Kapitalbedarf ist gigantisch und die Finanzinvestoren suchen sich die Projekte aus, die im Verhältnis zum jeweiligen Risiko die beste Verzinsung bieten. Was also zählt, sind eine zuverlässige staatliche Regulierung sowie die Höhe der Rendite. Wenn sich die Finanzwelt eines anderen besinnt und sagt, uns genügen sieben Prozent Rendite, dann ist das Problem auch gelöst.“ Allerdings sei dies unwahrscheinlich. Ideal wäre deshalb eine Verzinsung von bis zu zwölf Prozent.

Matthias Kurth, Präsident der Bundesnetzagentur und Wächter über die Höhe der Netzentgelte, ist anderer Meinung. „Es gibt genügend Investoren, die die sichere Verzinsung im Geschäft mit der Energieinfrastruktur schätzen. Das haben wir beim Verkauf des Vattenfall-Netzes erlebt, als auch die Deutsche Bank, Allianz und Goldman Sachs unter den Interessenten waren.“ Dass die Netzbetreiber die derzeit auf 9,29 Prozent festgelegte Rendite (vor Steuer) als unzureichend betrachten, sei demnach nicht nachvollziehbar.

Den Konzernen in die Karten schauen

Obwohl der Endverbraucher die Zeche zahlt, hat er kaum Einblick in die den Preis treibenden Faktoren. Oft schon wurde die Blockadehaltung der Bevölkerung bei Trassenprojekten beklagt. Tatsächlich verlängern die Einsprüche von Bürgerinitiativen und begleitende Gerichtsverfahren die Bauzeiten. Das kennt man in ganz Europa. Deshalb spielen neue Technologien wie unterirdisch verlegte HGÜ-Kabel anstelle von Freileitungen eine wichtige Rolle. Wichtiger erscheint aber, dass die teils systemisch gewollte Intransparenz beseitigt wird. Die oft diskutierten Netzausbaustudien der Deutschen Energie-Agentur GmbH (Dena) – Hauptgesellschafter sind das Bundeswirtschaftministerium (50 Prozent) und die KfW-Bank (26 Prozent) – konnten da wenig helfen. Die erste Studie, kurz: Dena 1, wurde 2005 erstellt und ermittelte für die deutschen Höchstspannungsnetze einen Ausbaubedarf von rund 850 Kilometern bis 2015. Darauf aufbauend ist das Energieleitungsausbaugesetz entstanden. Realisiert sind von Dena 1 aber erst rund 100 Kilometer.

Schwer wiegt der Vorwurf von an der Studie beteiligten Wissenschaftlern, dass die mangelnde Transparenz in Bezug auf relevante Netzdaten eine Bewertung erschwert habe, wo Überlastungen vorlägen und neue Trassen notwendig seien. Zwar wurde die Transparenz im Rahmen der Ende 2010 veröffentlichten Dena-2-Studie zumindest für Gutachter verbessert. Dena 2 zeigt aber andere Mängel. Kritiker wenden ein, dass der Betrachtungszeitraum bis 2020 zu kurz gewählt sei. Auch stehen die Annahmen zur Entwicklung des künftigen Ökostromanteils an der Energieversorgung in Deutschland im Widerspruch zu den Zahlen, die von der Bundesregierung im Nationalen Aktionsplan nach Brüssel gemeldet worden waren. Zudem sei keine gesamteuropäische Betrachtung an- gestellt worden, hieß es von mehreren Seiten.

Sind demnach die 3600 Kilometer an 380-kV-Freileitungen – Kostenpunkt: 9,7 Milliarden Euro –, die als Bedarf für Deutschland und als favorisierte Variante ermittelt wurden, korrekt? Und wenn nicht, auf welcher Datenbasis will die Bundesregierung dann den für dieses Jahr anvisierten „Bundesnetzplan“ wie auch das mit den anderen EU-Staaten abgestimmte „Zielnetz 2050“ entwickeln – oder zumindest gegenüber der Öffentlichkeit begründen? Zumal bereits ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz in Arbeit ist. Fraunhofer-Forscher Schmid fasst es so zusammen: „Der Staat macht die nationale Energiepolitik bislang im Blindflug.“ In der Branche spöttelt man, nur wenige EU-Regierungen machten es anders. Wie soll es Brüssel dann besser gelingen?

Matthias Kurth, dessen Bundesnetzagentur gute Chancen hat, mit der Koordinierung des weiteren nationalen, aber auch grenzüberschreitenden Netzausbaus betraut zu werden, kann sich zumindest vorstellen, dass in der Planungsphase künftig auch Außenstehende Zugang zu den Netzdaten bekommen werden, um die Erforderlichkeit der neuen Trassen zu bewerten. Seine Behörde, die bislang rund 2600 Mitarbeiter hatte, dürfte für die mit einer neuen „Bundesfachplanung“ verbundenen Aufgaben personell aufgestockt werden. In Berlin ist von 240 neuen Stellen die Rede. So soll gelingen, was föderalistische Strukturen mit unterschiedlichen Genehmigungsverfahren in den jeweiligen Bundesländern bislang erschwert haben – den nationalen Netzausbau zu beschleunigen.

Bei Netzbetreibern wie Tennet ist man allerdings überzeugt, dass eine europäische Regulierung und Netzplanung unverzichtbar ist, um tragfähige Lösungen für die Zukunft zu finden. Das bedeutet noch mehr Arbeit für die Brüsseler Behörden. Es ist nicht lange her, dass Günther Oettinger darüber geklagt hat, das „Unbundling“ habe den Netzausbau erschwert. Stimmt, es erhöht die Zahl der Akteure und den Abstimmungsbedarf. Die neue EU-Energieagentur ACER, die die Zusammenarbeit der nationalen Regulierungsbehörden koordinieren wird, könnte hier künftig helfen. Denn es gilt, das Unbundling sogar weiter voranzutreiben – wer die Infrastruktur entwickeln will und dies als gesellschaftlichen Prozess betrachtet, muss gegenüber den betroffenen Menschen glaubwürdig sein und ihnen ein höheres Maß an Einblick gewähren. „Es gibt Ausnahmen bei den Netzbetreibern, doch längst nicht alle haben erkannt, dass Transparenz bei den Planungsdaten die Akzeptanz erhöht“, sagt Peter Ahmels, Leiter Erneuerbare Energien bei der Deutschen Umwelthilfe. Wobei Akzeptanz die Einsicht in die Notwendigkeit neuer Leitungen vor Ort wie auch steigender Netzentgelte meint. Wenn der Leitungsausbau an Fahrt gewinnen soll, dann müssen sich die Konzerne in die (Netz-) Karten schauen lassen. Die Weichen dafür werden in Europas Parlamenten gestellt.

JÖRG-RAINER ZIMMERMANN ist Redakteur für Windkraft bei dem Magazin neue Energie.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2011, S. 20-27

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