Titelthema

30. Okt. 2023

Das KI-Wettrennen

China und die USA konkurrieren bei der Entwicklung und Anwendung der Zukunftstechnologie. Für Peking geht es vor allem um die erhofften Wachstumseffekte. Europa schaut zu.

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Der Start des generativen Chatbots ChatGPT von OpenAI im Herbst 2022 hat ein außerordentliches Maß an öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit für die stetig wachsenden Potenziale der Künstlichen Intelligenz ausgelöst – und auch Diskussionen über einen möglichen „KI-Wettlauf“ zwischen China und den Vereinigten Staaten weiter beschleunigt.

Die Metapher des „Wettlaufs“ ist meines Erahtens jedoch nicht der beste Blickwinkel, um die Entwicklung der KI in einem geopolitisch angespannten Umfeld zu verstehen. Das vielleicht bekannteste geopolitische Wettrennen in der Geschichte war der sogenannte Wettlauf ins All. Bei diesem „space race“ ging es darum – um es in den Worten von US-Präsident John F. Kennedys zu sagen –, „einen Menschen auf den Mond und sicher zur Erde zurückzubringen“. Somit waren ein klares Ziel und eine kleine Anzahl von Indikatoren definiert, anhand derer sich später der Sieger des Wettlaufs ermitteln ließ.

Doch wenn wir es heute wirklich mit einem KI-Wettlauf zu tun haben, wie lang ist dann die Ziellinie? Welchen Preis gilt es zu gewinnen? Und was geschieht, nachdem das Rennen beendet ist? In einer Zeit, in der westliche Regierungen ihre Ziele immer stärker nur noch als Gegenstrategie zu China definieren, bleiben diese Fragen unbeantwortet.

 

Ein komplexes Feld

Bei KI haben wir es mit einem unglaublich komplexen Thema zu tun. Denn zunächst gibt es viele unterschiedliche Arten von KI, die ihrerseits noch dazu eine schier unüberschaubare Zahl von Anwendungsmöglichkeiten haben.

Zwar wird gerade insbesondere der generativen KI viel Aufmerksamkeit gewidmet, die die Erstellung von textlichen und visuellen Informationen automatisiert. Es gibt jedoch noch eine ganze Reihe von anderer KI, die jeweils unterschiedliche Anforderungen an die Dateneingabe und an die Algorithmen stellen sowie grundverschiedene Anwendungspotenziale haben. So ermöglicht es uns die sogenannte diskriminative KI beispielsweise, Informationen zu klassifizieren. Diese Technologie wird unter anderem in der medizinischen Diagnose eingesetzt, um bestimmte Krebsarten zu erkennen.

Der Erfolg einer Anwendung in einem bestimmten Feld lässt sich jedoch nicht einfach auf andere Bereiche übertragen. Immerhin ist selbst die Verarbeitung natürlicher Sprachen, die zu einem der Hauptanwendungsbereiche für KI zählt, zum Großteil noch immer auf sieben Hauptsprachen beschränkt – und die optische Zeichenerkennung für lateinische Schriftzeichen ist beispielsweise nur von begrenztem Nutzen, wenn es darum geht, andere Zeichensätze wie Mandarin, Arabisch oder Urdu zu entschlüsseln.

Daraus folgt unter anderem, dass KI-Anwendungen nicht immer Schauplätze des Wettbewerbs zwischen Nationalstaaten sein müssen. Wenn China beispielsweise KI einsetzt, um alltägliche Regierungsaufgaben wie die Verwaltung der Justiz oder die Optimierung des Verkehrs zu unterstützen, dann lässt sich daraus noch lange nicht schließen, dass dies einen direkten Effekt auf die amerikanische Justiz oder das amerikanische Verkehrssystem hätte. Im Grunde handelt es sich bei der KI nämlich um eine Reihe von Grundlagentechnologien, die bestimmte Vorgänge erleichtern und vereinfachen können, ähnlich wie es die Elektrizität tut.

 

Eine Frage der Auswirkungen

Bei einem wie auch immer gearteten KI-Wettbewerb geht es also nicht einfach nur um technologische Errungenschaften, sondern vor allem um die Auswirkungen, die diese neuen Technologien in Zukunft haben könnten. Und diese Auswirkungen sind zunächst einmal wirtschaftlicher Natur. Generative KI-Anwendungen sind nur eine Untergruppe einer Reihe von Werkzeugen, die das Potenzial haben, neue Geschäftsmodelle und Quellen künftigen Wirtschaftswachstums zu schaffen. Das gilt sowohl im Hinblick auf KI-gestützte Waren und Dienstleistungen selbst als auch für die Anbieter von Geräten und Infrastrukturen, auf denen diese Anwendungen laufen werden.

Wenn beispielsweise die Zahl der ChatGPT-Anfragen auf ein Zehntel der Google-Suchanfragen ansteigen würde, müssten dafür zunächst Chips im Wert von fast 50 Milliarden Dollar angeschafft werden – und es wären jährlich wiederkehrende Ausgaben von 16 Milliarden Dollar erforderlich, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Die Investmentbank Goldman Sachs schätzt, dass generative KI allein 7 Prozent zum globalen BIP beitragen kann.

 

China veröffentlichte 2017 einen umfassenden KI-­Entwicklungsplan und investierte seitdem massiv



China hat die Bedeutung der KI schon vor Jahren erkannt. Im Jahr 2017 veröffentlichte die chinesische Regierung einen umfassenden Entwicklungsplan für den KI-Sektor. Seitdem haben staatliche Unternehmen massiv in Forschung und Entwicklung, unterstützende Infrastruktur und Industrialisierung investiert. Peking experimentiert zudem auch bereits mit politischen und regulatorischen Rahmengesetzen. Insbesondere das in diesem Jahr gegründete nationale Datenbüro soll dabei Regeln für Dateneigentum, -transaktionen, -märkte und -versicherungen aufstellen und so dabei helfen, das wirtschaftliche Potenzial der KI zu nutzen.

Damit unterscheidet sich Chinas Ansatz grundlegend von der privatwirtschaftlich geprägten Entwicklung der KI in den Vereinigten Staaten. Mit dem 14. Fünfjahresplan hat die chinesische Führung eine auf das verarbeitende Gewerbe ausgerichtete Industriepolitik beschlossen, in der die Rolle der KI darin besteht, sowohl die Fertigungsprozesse als auch die Produktionsgüter selbst zu transformieren und so die Wettbewerbsfähigkeit, die Produktivität und die Effizienz zu steigern. Es ist kein Zufall, dass sich viele der ersten Kommentare zur Einführung von „Ernie“, dem Chatbot der chinesischen Suchmaschine Baidu, auf Partnerschaften mit Autoherstellern und Haushaltsgeräteproduzenten bezogen.

Kurz gesagt ist die KI also vor allem ein zentraler Faktor im Wettbewerb um die künftige Vorherrschaft auf dem globalen Arbeitsmarkt und bei der Einkommensverteilung in der Weltwirtschaft. Für China ist das von entscheidender Bedeutung, denn das Land muss sein pro Kopf gemessenes Bruttoinlandsprodukt noch vervierfachen, wenn es mit einigen der wohlhabenderen europäischen Staaten gleichziehen will.

Sowohl die exportorientierte Produktion als auch das investitionsgestützte Wachstum haben sich jedoch mittlerweile erschöpft. Gleichzeitig scheinen die westlichen Länder immer stärker besorgt darüber zu sein, dass ihre Beziehungen zu China rasch von Komplementarität zu einem Wettstreit umschlagen könnten. Sollte es so kommen, dann wäre ein Großteil dieses Wettbewerbs wohl tatsächlich ein Nullsum­menspiel: Denn jede chinesische Anlage, die auf der Welt installiert wird, ist ein verlorenes Geschäft für amerikanische oder europäische Unternehmen. Darüber hinaus deuten die bisherigen Erfahrungen mit digitalen Industrien darauf hin, dass es auch im KI-Sektor zu einer „The-winner-takes-all“-Dynamik kommen könnte, da Netzwerkeffekte und Pfadabhängigkeiten wohl einer sehr kleinen Anzahl von Großkonzernen zugutekommen würden.

 

Sicherheitspolitische Bedeutung

Dieser wirtschaftliche Wettbewerb hat längst auch sicherheitspolitische Bedeutung gewonnen. Nicht zuletzt, weil bereits die Regierung von US-Präsident Donald Trump die „wirtschaftliche Sicherheit“ – vor allem mit einem Auge auf die wachsende (wahrgenommene) Bedrohung aus China – zu einem Kernbestandteil der nationalen Sicherheit gemacht hatte.

 

Trump hat „wirtschaftliche Sicherheit“ zum Kernbestandteil nationaler Sicherheit gemacht, Biden hat diese Politik konsolidiert

 

Präsident Joe Biden hat diesen politischen Kurs nicht nur fortgesetzt, sondern konsolidiert und KI zu einem der Eckpfeiler erklärt. Deshalb wurden die amerikanischen Sanktionen gegen die chinesische Halbleiterindustrie im vergangenen Jahr nicht zuletzt mit der Bedeutung von Hochleistungschips für die Entwicklung von KI begründet.

Darüber hinaus wird KI mittlerweile auch als ein direktes nationales Sicherheitsanliegen betrachtet. Seit Jahren wird über autonome Waffensysteme diskutiert, und sowohl China als auch die USA loten Möglichkeiten zur weiteren Digitalisierung ihrer Streitkräfte aus. Ein Vorhaben, das zweifellos auch durch den umfangreichen Einsatz von Drohnen in Russlands Krieg gegen die Ukraine beeinflusst wurde.

Gerade die Entwicklungen in der generativen KI bergen vor diesem Hintergrund neue Risiken. So haben US-Verteidigungsanalysten beispielsweise bereits die Möglichkeit angesprochen, dass China generative KI-Tools einsetzen könnte, um westliche Medien mit Falschinformationen zu überfluten, sollte es zu einem bewaffneten Konflikt um Taiwan kommen. Und auch zur Beeinflussung von demokratischen Wahlen könnte generative KI sich bestens eignen. Die Blockade des chinesischen Zugangs zu Halbleitern soll nicht nur Chinas Aufstieg zu einem wirtschaftlichen Konkurrenten verlangsamen, sondern auch Pekings Fähigkeit einschränken, KI einzusetzen.

 

Europa in einer Nebenrolle

Europa ist in diesem Bereich bislang noch ein erschreckend kleiner Akteur. Es gibt beispielsweise nur wenige beziehungsweise fast gar keine europäischen Projekte, die mit ChatGPT vergleichbar sind, oder Unternehmen, die mit Apple oder Alibaba konkurrieren können. Das liegt wohl auch daran, dass Europa über kein vergleichbares Risikokapital-Ökosystem wie das der USA verfügt und es dem Kontinent gleichzeitig an der engen Koordinierung zwischen Industrie, Forschung und Regierung mangelt, die beispielsweise das chinesische Modell auszeichnet.

Das Niveau der Investitionen in Europa bleibt sehr niedrig. Deutschland hat zwar versprochen, die staatlichen Mittel für die KI-Forschung auf 500 Millionen Euro pro Jahr zu verdoppeln. Das wäre allerdings noch immer nur ein Sechstel der Ausgaben Washingtons im Jahr 2022 – und in den USA kommen noch private KI-Investitionen in Höhe von 47 Milliarden Dollar hinzu.

In einem Bereich ist Europa – zusammen mit China – dann aber doch führend: bei der Schaffung von Rechts- und Regulierungsrahmen für KI. So wurde im Juni der Entwurf für ein KI-Gesetz vom Europäischen Parlament verabschiedet (siehe auch den Beitrag Kuhn, S. 18ff.). Das kann nun dazu führen, dass in der EU ein berechenbares Umfeld für KI-Entwickler geschaffen wird. Es ist jedoch auch denkbar, dass strenge regulatorische Rahmen vielversprechende Ideen bereits im Keim ersticken könnten.

In jedem Fall steht Europa heute immer noch vor großen Problemen, wenn es darum geht, starke KI-Kapazitäten aufzubauen, angefangen bei den fragmentierten nationalen Investitionen bis hin zum Versagen bei der Vernetzung von Wissenschaft und Industrie.

Aus dem Englischen von Kai Schnier

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 38-41

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Dr. Rogier Creemers ist Assistenzprofessor für Moderne China­studien an der Universität Leiden.

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