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01. Juli 2004

Das imperiale Projekt

Amerika nach dem Irak-Krieg: Eine Bilanz

Nach einem längeren „Burgfrieden“ melden sich auch in den USA Kritiker der amerikanischen
Außenpolitik zu Wort. Norman Birnbaum, emeritierter Professor und seit langem kritischer Beobachter
der amerikanischen Politik, bezeichnet die Irak-Politik von Präsident Bush als gescheitert.
Doch auch die Demokraten unter ihrem Kandidaten John Kerry sind seiner Ansicht nach
nicht mutig und entschlossen genug, um das Steuer wirklich herumzuwerfen.

Was immer auch in den kommenden Monaten geschehen mag
– jenen Amerikanern, die sich ihre Kritikfähigkeit
erhalten haben, wird es schwer fallen zu leugnen, dass der
Krieg in Irak verloren ist. Was als Befreiung des irakischen
Volkes gedacht war, ist zu einem Krieg geworden, in dem die
Hauptaufgabe der Besatzungsmacht darin besteht, sich selbst zu
verteidigen gegen einen Feind, den die amerikanischen
Generäle allzu oft nicht einmal zu identifizieren
vermögen – und den sie gewiss nicht besiegen
können. Die Schlacht um Falludscha endete damit, dass die
Kontrolle über die Stadt an Baath-Offiziere und
sunnitische Widerstandskämpfer übertragen wurde, und
zwar durch einen amerikanischen General, der ursprünglich
auf eigene Faust handelte, um das Leben seiner Soldaten zu
retten. Die Schlacht um Nadschaf, die heilige Stadt der
Schiiten im Süden des Landes, wurde zeitweilig durch einen
lokalen Waffenstillstand unterbrochen, der genau mit jenem Iman
ausgehandelt worden war, den die US-Truppen eigentlich
festnehmen oder sofort töten sollten.

Die Proteste derjenigen, die darauf beharren, den Krieg bis
zum endgültigen Sieg zu führen, haben Präsident
George W. Bush nicht dazu veranlasst, seine Kommandeure
anzuweisen, Operationen im großen Maßstab wieder
aufzunehmen. Jedoch war – abgesehen vom Folterskandal
– das verblüffendste Ereignis der letzten Monate das
zunehmende Lautwerden abweichender Meinungen in den
Streitkräften und im außenpolitischen Establishment,
in der CIA und im State Department. Manchmal im eigenen Namen
(das gilt besonders für die Kommandeure vor Ort), manchmal
anonym haben etliche politische Entscheidungsträger die
Strategie und die Taktik des gesamten Unternehmens kritisiert.
Einige haben der Presse Informationen und Dokumente zugespielt.
Einige Zeitungen und Fernsehsender haben allmählich ihre
Zurückhaltung in Bezug auf die Kritik an der Regierung
aufgeben. Diese Zurückhaltung hatte, seitdem das
Weiße Haus den  Kriegsbeschluss gefasst hatte, den
Begriff von der „freien Presse“ ziemlich
sinnentleert erscheinen lassen.

Sogar Kongress und Senat, deren Mitglieder sich (mit der
bemerkenswerte Ausnahme von ein paar Volksvertretern, die
damals entweder systematisch ignoriert oder von der Presse
gnadenlos niedergemacht wurden) ihrer Pflicht entzogen hatten,
den Präsidenten zu kontrollieren und in Frage zu stellen,
zeigen wieder erste Lebenszeichen.

Zweifellos hat die Veröffentlichung der Fotos, auf
denen Irakis von amerikanischen Soldaten gefoltert werden,
vielen Bürgern die Augen geöffnet und sie
beschämt. Genauso wichtig war jedoch auch der irakische
Widerstand, der bewiesen hat – wenn es des Beweises denn
bedurft hätte –, dass die Macht der USA eindeutig
nicht bis in die Straßen der irakischen Städte
reichte. Das könnte eine Lehre sein, die in anderen
Elendsvierteln in der Welt zur Kenntnis genommen und nach der
gehandelt wird. Und genau das ist das Motiv derjenigen, die den
Präsidenten zum Weitermachen drängen, was immer es
kosten mag. Doch die Öffentlichkeit, die anfänglich
mit dieser Position übereinstimmte, wendet sich inzwischen
von ihr ab.

Den Folterfotos und den verlorenen Schlachten in den
Straßen Iraks ging eine Episode voraus, die große
Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Kommentator Ted Koppel, dessen
Sendung „Nightline“ eine feste Einrichtung des
abendlichen Fernsehens ist, entschloss sich, die Fotos
getöteter Soldaten zu zeigen und deren Namen zu verlesen.
Zuvor hatte die Regierung versucht, den Krieg
„sauber“ zu halten, indem sie die Erlaubnis
verweigerte, Fotos von der Ankunft der Särge mit den Toten
oder von den Tausenden von Verwundeten in
Militärhospitälern zu machen. Präsident Bush
vermied es ostentativ, an der Beisetzung von irgendeinem der im
Krieg Gefallenen teilzunehmen. Dass Tausende, sehr
wahrscheinlich sogar Zehntausende von Irakern in diesem Krieg
ums Leben gekommen sind, interessiert sowieso nur die Kirchen
und jene Gruppen, die für das weltliche Gewissen der
Nation sprechen – eine zwar aktive Minderheit, aber eben
doch nur eine Minderheit. Dass aber die Regierung ganz bewusst
versucht hat, das Leiden der normalen amerikanischen Familien
zu bagatellisieren, hat auch die unreflektiertesten
patriotischen Amerikaner beleidigt, von denen eine wachsende
Zahl das Gefühl bekommt, dass ihr Stolz auf die Nation und
ihr Vertrauen in die Integrität ihrer Politiker
missbraucht worden ist.

Die geteilte Nation

Die Nation ist nach wie vor tief gespalten. Die treuen
Diener des Präsidenten in den Medien und die große
Zahl der republikanischen Kongressabgeordneten und Senatoren,
die ihr politisches Schicksal mit dem seinen verwoben sehen,
haben auf die wachsende Kritik mit einer verstärkten
Verleumdungskampagne gegen diese Kritiker reagiert. Man
beschuldigt sie, dem Feind zu helfen und die eigenen Truppen zu
verraten, wenn sie die Kriegführung in Frage stellen. Die
umfangreichen Reserven der Nation an autoritärem Denken
und an Chauvinismus sind von den gebildeten Zynikern, die die
Strategie des Weißen Hauses entwerfen, genutzt worden.
Einige Republikaner jedoch, so z.B. die Senatoren Chuck Hagel,
Richard G. Lugar, John McCain und John W. Warner, verstehen die
Verpflichtung gegenüber ihren Wählern so, dass damit
eine Pflicht verbunden ist, auch das Weiße Haus zu
kritisieren. Die unübertroffene Arroganz von
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat sogar jene entsetzt,
die in den zurückliegenden Monaten seine Entschlossenheit
und sein Können gepriesen haben.

Die geänderte Einstellung wird am deutlichsten an der
Reaktion der Demokraten sichtbar. Seit Beginn des Kalten
Krieges war es fester Bestandteil republikanischer
Argumentation, dass die Demokraten angesichts von
Herausforderungen an die Nation den Rückzug
befürworteten. Doch es waren die Demokraten, die den
Kalten Krieg einleiteten, die die NATO gründeten, die die
Kriege in Korea und Vietnam führten, die erfolgreiche
Staatsstreiche in Brasilien, Griechenland, Indonesien und Iran
unterstützten und die die unter Präsident Dwight D.
Eisenhower geplante unrühmliche Invasion der Schweinebucht
unternahmen. Viele von ihnen bekämpften Richard Nixon,
Gerald Ford und Henry Kissinger, als diese versuchten,
Rüstungskontrollabkommen und eine Art von Koexistenz mit
der Sowjetunion auf den Weg zu bringen.

Nichtsdestoweniger wurden gegen sie beständig
psychosexuelle Bilderwelten bemüht, um sie als schwach
darzustellen. Präsident Ronald Reagan erklärte einst,
dass „wir wieder aufrecht stehen“. Angesichts der
offenkundigen Potenzängste vieler amerikanischer
Männer kann man darauf schließen, dass der
anatomische Bezug doppelte Bedeutung hatte.
„McGovernismus“ lautet das Schlagwort der
Republikaner, das sie benutzen, um die Schwäche der
Demokraten zu beschreiben, seit George McGovern 1972 gegen
Nixon antrat und einen vollständigen Rückzug aus
Vietnam befürwortete. Dabei war McGovern selbst ein
Kriegsheld, ein Bomberpilot, der im Zweiten Weltkrieg einige
der gefährlichsten Einsätze auf dem europäischen
Kriegsschauplatz überlebt hatte. Die Demokraten brachten
allerdings keine gemeinsame Front gegen diese Verleumdungen
zustande. Sie bestanden darauf, dass die Partei sich von
Nachgiebigkeit bei der Verteidigung der Nation distanzieren
müsse, und dieser Stil herrschte in der Partei seit dem
Ende des Krieges. Er hing eng zusammen mit der defensiven
Haltung der Demokraten hinsichtlich des Kriegsbündnisses
mit der Sowjetunion und mit dem Feldzug, der zu Beginn des
Kalten Krieges gegen jede Form von Sozialkritik geführt
wurde, sowie der Abstempelung jeglichen politischen
Abweichlertums als „Kommunismus“.

Nach dem Untergang der Sowjetunion sind nun die Islamisten
der Feind – und Diskussionen darüber, wie man mit
ihnen fertig werden kann, nehmen erstaunlicherweise Argumente
aus der Vergangenheit des Kalten Krieges wieder auf, obwohl der
internationale Zusammenhang inzwischen ein ganz anderer ist.
Möglicherweise ist dies eine indirekte Art, um
mitzuteilen, dass die USA und ihre Eliten so selbstbezogen und
historisch so narzisstisch sind, dass die reale Welt jenseits
ihrer Grenzen ihnen weniger bedeutet als ihre eigenen
ideologischen Schlachten. Allerdings wird in der Kritik am
Krieg die Stimme der Demokraten jetzt lauter.

Die politische Gestalt, die sich mit all diesen
Widersprüchen herumplagt, ist John Kerry. Geradezu ideal
positioniert, um gegen einen Präsidenten anzutreten, der
es (wie der Vizepräsident) geschafft hat, nicht in Vietnam
dienen zu müssen, verhielt sich der Held aus jenem Krieg
seltsam gedämpft. Im Senat hat er, ebenso wie die meisten
Demokraten, für den Krieg gestimmt, weil er sich, wie
diese, davor fürchtete, andernfalls als
„unpatriotisch“ gebrandmarkt zu werden. Seitdem hat
er es nicht geschafft, eine klare Angriffslinie zu entwickeln.
Er kritisiert die Inkompetenz des Präsidenten und
erklärt, er werde die zerbrochenen Bündnisse
reparieren. Doch wenn er die NATO aufruft, Verantwortung in
Irak zu übernehmen, betet er die Parolen des Weißen
Hauses nach, das intellektuell und psychologisch nicht mit der
Tatsache fertig wird, dass die europäische
Öffentlichkeit und die wichtigsten europäischen
Regierungen den Krieg ablehnen.

Einer der Gründe für Kerrys Dilemma liegt in der
Abhängigkeit der Demokraten von der Israel-Lobby, sowohl
was die Wählerstimmen in Kalifornien und New York angeht,
als auch was einen guten Teil der Spenden betrifft. Kerry hat
dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon den
Rücken gestärkt, damit er nicht als Befürworter
von „Ausgewogenheit“ im Nahen Osten erscheint, ein
Ausdruck, der für die Israel-Lobby sogar dann inakzeptabel
ist, wenn er offensichtlich scheinheilig gemeint ist. Die
israelische Regierung glaubt, und das zu Recht, dass ein
amerikanischer Rückzug aus Irak eine empfindliche
Niederlage für ihre amerikanischen Helfer und für
Israel selbst darstellen würde. Darin liegt ein weiterer
Grund dafür, dass der Kandidat – auch auf eine
gewisse Gefahr für seine Glaubwürdigkeit und seine
Fähigkeit, viele zu mobilisieren, die für ihn stimmen
könnten – , gegenwärtig nicht in der Lage ist,
ernst zu nehmende Vorschläge auf den Tisch zu legen, wie
die USA sich aus dem Chaos in Irak herauswinden
könnten.

Es gibt aber sicherlich noch eine andere Begründung.
Kerry könnte Bush auf dem Weg zur politischen
Selbstzerstörung weiterziehen lassen und es anderen, wie
dem früheren Vizepräsidenten Al Gore und Senator
Edward Kennedy, überlassen, den Präsidenten frontal
anzugehen. Das würde es Kerry erlauben, in den letzten
Wahlkampfmonaten, September und Oktober, aus der Lage eines
geschwächten Präsidenten Nutzen zu ziehen. Ein
mögliches Szenario – doch in der Zwischenzeit
besteht die politische Pädagogik, die man von einem
Politiker mit Führungsanspruch erwartet,
hauptsächlich darin, dass sie im Großen und Ganzen
nicht vorhanden ist. Anders gesagt teilt die Oppositionspartei,
wie unterschiedlich sie sich auch äußern mag, mit
den Republikanern die Ansicht, dass die Vereinigten Staaten das
Recht und die Pflicht (im Amerikanischen wird das
üblicherweise „Verantwortung“ genannt) haben,
die Welt zu beherrschen, auch wenn der größte Teil
dieser Welt anders denkt (und handelt). Es war innerhalb dieser
Grenzen, dass Kerry den Wählern erklärt hat, als
Präsident werde er die Nation in die Zusammenarbeit mit
anderen Nationen im Allgemeinen und mit den europäischen
Verbündeten im Besonderen zurückführen.

Ist die Nation lernfähig?

So viel zur Oberflächensicht unserer Geschichte zu
diesem Zeitpunkt. Ob man unter dieser Oberfläche 
tiefer gehende Bewegungen erkennen kann? Hat die amerikanische
Nation irgendetwas gelernt aus der politischen und moralischen
Katastrophe, in die sie ihr Präsident geführt hat,
ermutigt durch die anfänglichen Beifallsbekundungen seiner
Landsleute? Ist die Nation in diesem Stadium ihrer Geschichte
tatsächlich lernfähig? Welche Schlussfolgerungen
lassen sich aus den Antworten, die wir auf diese Fragen geben
können, für die Zukunft ziehen?

Lassen Sie mich mit den Gründen für den Krieg
beginnen, die vom Präsidenten und seinen Anhängern
gegeben wurden. Ihre schamlosen Lügen über das
Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen in Irak und die
nicht weniger skandalösen Unwahrheiten über die
Verbindungen zwischen dem Baath-Regime und islamistischen
Terrorgruppen sind sehr leicht zu erklären. Der
stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz hat
selbst dargelegt, dass dies bequeme Ausreden waren. Als sich zu
Beginn des Kalten Krieges Präsident Harry S. Truman um
einen Ratschlag des Kongresses bemühte, wie man die
Öffentlichkeit davon überzeugen könnte, dass
eine Wiedermobilmachung und Mittel für den Wiederaufbau
Europas notwendig seien, gab ihm der führende
außenpolitische Kopf der Republikaner, Senator Arthur
Vandenberg, den Rat: „Jag’ ihnen eine Heidenangst
ein, Harry.“ Der gegenwärtige Präsident sieht
sich im Besitz einer höheren Wahrheit, im Vergleich zu der
unbedeutende Lügen genau das sind: unbedeutend. Um seine
Auffassung von einer amerikanischen Mission zur Errettung einer
verlorenen Welt konkret darzustellen, verlangte der
Präsident nach einer geopolitischen Landkarte.

Die Präsenz amerikanischer Streitkräfte in 130
Ländern hat zur Folge, dass die Manager unserer
Außenpolitik eine Vielzahl von Landkarten haben. Die
Bedeutung Iraks ist augenfällig. Saudi-Arabien steht der
Anwesenheit amerikanischer Streitkräfte zunehmend
ablehnend gegenüber, und die kleineren Staaten am
Persischen Golf sind zu klein. Das Afghanistan-Unternehmen bot
eine willkommene Begründung für die Stationierung
amerikanischer Truppen in einer Reihe von zentralasiatischen
Ländern – von denen sich natürlich keines durch
das Bekenntnis zur Demokratie, durch Einhaltung der
Menschenrechte oder durch unkorrumpierbare Regierungen
auszeichnete. Vom Standpunkt unserer imperialen Manager aus ist
die Türkei über die Maßen unabhängig und
kann deshalb nicht als wichtiger Stützpunkt dienen. Israel
stellt Haifa als Marinebasis zur Verfügung sowie auf
Anfrage Anlagen und Landerechte, doch die Kosten für die
Stationierung großer amerikanischer Truppenkontingente
dort wären beträchtlich, so etwa die Verwundbarkeit
gegenüber Angriffen und die Möglichkeit, dass die
Israelis im Verein mit ihren politischen Verbündeten in
den USA versuchen könnten, Bedingungen für ihre
Stationierung zu stellen. Iraks zentrale geographische Lage im
Nahen Osten zwischen dem Mittelmeer und Zentralasien liegt auf
der Hand. Vor einigen Jahrzehnten erhielt Irak amerikanische
Hilfe bei seinem gescheiterten Krieg gegen Iran; die Nutzung
eines fügsameren irakischen Regimes als Gegenpol zu Iran
ist einer der Vorteile, den man sich von einer erfolgreichen
Invasion versprach. George Bush sen. kam den Schiiten nicht zu
Hilfe, als sie sich 1991 gegen den besiegten Saddam Hussein
erhoben und unter den Augen der amerikanischen Armee
abgeschlachtet wurden: ein schiitischer Erfolg hätte Iran
zu viel Einfluss in Irak verschafft.

Der Faktor Öl

In diesem geopolitischen Zusammenhang bekommt das
häufig benutzte Argument von dem amerikanischen
Bedürfnis nach sicherem, dauerhaftem Zugang zu den
Ölvorräten Sinn. Irak hätte als amerikanischer
Satellitenstaat nicht nur selbst große Mengen von
Öl, sondern es würde die dominierende Rolle der USA
in der gesamten Region billiger und wirksamer machen. Die
Amerikaner könnten natürlich auch kleinere Autos
bauen, könnten in den öffentlichen Nahverkehr
investieren, mehr energieeffiziente Technologien entwickeln und
so ihre Abhängigkeit vom Öl verringern. Das
amerikanische Interesse an den Ölreserven des Nahen Ostens
(und anderer Teile der Welt) bezieht sich jedoch nicht
ausschließlich auf einheimische Bedürfnisse. Es hat
auch mit der Möglichkeit zu tun, den Zugang von anderen
zum Öl wenn schon nicht zu kontrollieren, so aber doch zu
beeinflussen, – vor allem den der Europäer mit ihrem
Beharren auf geopolitischer Unabhängigkeit von den USA.
Inzwischen wird die Macht Amerikas durch die umfassende und
dauerhafte Präsenz amerikanischer Streitkräfte im
Mittleren Osten und in Zentralasien sowie durch politischen
Einfluss in Ländern wie Georgien und Kasachstan im Osten
und Süden von Russland und im Westen Chinas gesichert.
Unsere Planer blicken eindeutig nach vorn.

Die Tatsache, dass dem Anschlag vom 11. September der
Entschluss zum Angriff auf Irak folgte, lässt aber auch
noch auf ein anderes, nicht weniger bedeutsames Motiv
schließen. Ein erfolgreicher Angriff auf Irak und die
Einsetzung eines Vasallenregimes dort sollte all denen eine
Lehre sein, die sich versucht fühlen könnten, den
Vereinigten Staaten auf die eine oder andere Art
Schwierigkeiten zu machen. Es ist bezeichnend, dass die
Möglichkeit, das Baath-Regime zu beseitigen und dann das
Land umgehend wieder zu verlassen, offenbar nicht ernsthaft in
Betracht gezogen worden ist. Nach Ansicht von Bush sieht
Amerikas globale Strategie keine gelegentlichen Einsätze
aus der Festung Amerika heraus vor, sondern die Konsolidierung
eines Imperiums im Ausland, um die Notwendigkeit zu verringern,
die USA in eine Festung zu verwandeln. Dass der Angriff vom 11.
September die Festung als sehr verletzlich gegenüber der
neuen Art asymmetrischer Gewalt erwiesen hat, führte nicht
zu ernsthaften Überlegungen, sondern zu Reaktionen, die
eher zu Zeiten des Kalten Krieges und der internationalen
Konflikte, die es im 20. Jahrhundert gegeben hatte, angemessen
wären.

Die Konzentration des Interesses auf Irak hatte noch einen
anderen Nutzen. Es lenkte die Aufmerksamkeit ab vom nahezu
totalen Scheitern des Planes für einen Regimewechsel in
Afghanistan und von dem Schutz, den Osama Bin Laden durch seine
vielen Freunde im Staatsapparat Pakistans erhielt. Der Einfluss
der neuen afghanischen Regierung reicht kaum über die
Sicherheitszone hinaus, die den Präsidenten in Kabul
umgibt. Das Bild im Rest des Landes wird bestimmt durch die
Herrschaft lokaler und regionaler „warlords“, die
fortwährende Unterdrückung der Frau und
natürlich vom Anbau gewaltiger Mengen von Mohn für
den internationalen Drogenmarkt. Die gelegentlichen
Ausfälle amerikanischer Truppen auf der Suche nach
Al-Khaïda- und Taliban-Aktivisten, die fast ausnahmslos
beträchtliche Opfer unter der Zivilbevölkerung
fordern, unterstreichen die Nutzlosigkeit des
Afghanistan-Unternehmens. Es überrascht, dass die
Europäer sich in eine Situation haben hineinziehen lassen,
in der sie einen großen Anteil an den wirtschaftlichen,
militärischen und politischen Kosten zahlen, jedoch
unverhältnismäßig wenig Kontrolle über die
Politik haben.

Der Fehlschlag in Afghanistan zeigt auf eindrucksvolle
Weise, wie eines der erklärten Ziele des
Irak-Unternehmens, die Verbreitung von Demokratie im Nahen
Osten und in der gesamten muslimischen Welt aussehen kann. Es
bedarf keiner besonderen historischen Kenntnisse, um zu
erkennen, dass Demokratie nur unter bestimmten Voraussetzungen
funktionieren kann, was es ziemlich zweifelhaft erscheinen
lässt, ob sie sich zum Exportartikel eignet. Es bedarf
keiner besonderen Kenntnisse des Nahen und Mittleren Ostens und
der muslimischen Welt, um zu erkennen, dass sie nicht geplagt
werden von irgendeiner systembedingten Unvereinbarkeit von
Islam und Demokratie, sondern vielmehr von
wirtschaftlicher Unterentwicklung, dem Erbe von Kolonialismus
und Imperialismus sowie von autoritären und korrupten
Regimen, die, wie etwa Ägypten, Saudi-Arabien, Pakistan
und Indonesien, von den jeweiligen amerikanischen Regierungen
unterstützt worden sind. Der plötzliche Wandel des
Gönners dieser Regime zu einem Anwalt der Demokratie ist
gewiss lobenswert; in der christlichen Tradition gibt es ja die
Vorstellung, dass der Himmel an nichts so viel Freude hat wie
an einem geläuterten Sünder.

Doch in Europa und in Nordamerika setzte sich die Demokratie
im Gefolge einer Reihe von Konflikten und revolutionärer
Umschwünge durch und verbreitete sich nur unter
großen Schwierigkeiten und mit vielen
Rückschlägen. Das Demokratiekonzept der
gegenwärtigen amerikanischen Regierung unterschätzt
bzw. eliminiert sogar absichtlich die Vorstellungen von
wirtschaftlichen und sozialen Bürgerrechten und vom
beherrschenden Einfluss auf die Wirtschaft und gibt stattdessen
dem beherrschenden Einfluss des Marktes den Vorzug. Die
ursprüngliche Planung für die Besetzung Iraks ist
jetzt praktisch nichts anderes als tote Buchstaben, doch sie
sah den Verkauf des Staatsvermögens an den
Höchstbietenden vor, ähnlich des
Raubtierkapitalismus, der Russland beinahe ruiniert hat. Die
Umstände waren so arrangiert worden, dass diese
Höchstbietenden zwangsläufig amerikanische Firmen
gewesen wären.

Das Demokratisierungsargument hat Vorzüge für die
Verfechter unbegrenzter amerikanischer Macht. Ähnlich wie
der Krieg gegen den „Terror“ bietet es die
Möglichkeit, ausgewählte Interventionen im Ausland
mit unbegrenzter Dauer durchzuführen. Die Entscheidung,
dies in arabischen oder muslimischen Ländern zu tun, ist
auch ein Beweis für den Einfluss der Israel-Lobby. Wenn in
diesen Staaten tatsächlich ein so großer Bedarf an
Hilfe von außen bestände, um bei sich selbst Ordnung
zu schaffen, dann wäre Israels Behauptung richtig, dass
deren Widerstand gegen Israel nicht eine Reaktion auf Israels
Verhalten darstellt, sondern dass er dazu dienen solle, die
Aufmerksamkeit von ihren eigenen Problemen abzulenken. Die
Schwierigkeit besteht indessen darin, dass selbst dann, wenn es
keine Israel-Lobby gäbe, die imperiale Partei in den USA
am Ruder bleiben würde. Natürlich könnte diese
Partei sich jederzeit der Israel-Lobby entledigen, indem sie
die Frage der doppelten Loyalität der amerikanischen Juden
aufwirft und damit die Unterstützer Israels in die
Defensive zwingt. Das Fallenlassen von Ahmed Chalabi, der von
der Israel-Lobby unterstützt wurde, könnte ein
Zeichen für den Beginn einer Kampagne in diese Richtung
sein.

Der Kern des Problems

Wir kommen jetzt zum Kern des Problems, zu den
Überzeugungen und Gewohnheiten unserer
außenpolitischen Elite, die verstärkt werden durch
Privilegien innerhalb einer sehr ungleichen Gesellschaft. In
jüngster Zeit ist in der akademischen Diskussion in den
USA Bushs Unilateralismus oft als eine Verirrung, als ein Bruch
mit der Kontinuität amerikanischer Außenpolitik
beschrieben worden. Diese Politik, so wird argumentiert, war
eine Mischung aus Realismus und Idealismus, aus energischem
Einsatz amerikanischer Macht und nutzbringender Zusammenarbeit
mit anderen Ländern, die zu Ergebnissen führte, die
wie keine anderen dem theologischen Bild vom Entwurf Gottes
für die Welt entsprachen, nämlich dem
kontinuierlichen Aufbau einer internationalen Ordnung.
Natürlich hat Bushs Unilateralismus Diskussionen
hervorgerufen, von denen viele jedoch mit dem Angriff auf Irak
zum Erliegen kamen, als Kritiker freiwillig ins Schweigen
verfielen oder ihre Übereinstimmung mit dem
Präsidenten erkennen ließen. Wirklich bemerkenswert
dabei ist, wie leise die Kritik ist, dass die USA von der
Geschichte, sei es der weltlichen oder der religiösen,
dazu ausersehen sind, als die dominierende Nation in der Welt
zu handeln.

Die USA sind eine Gesellschaft, deren regierende Eliten sehr
positiv über den Markt denken und denen es gelungen ist,
die Dinge so zu gestalten, dass ihr Zugang zu Macht und
Reichtum, ja selbst zu Lebenserwartung, weitaus einfacher ist
als derjenige ihrer Mitbürger. Man könnte also sagen,
dass der freie Markt außerordentlich unfrei ist.

Rolle des Großkapitals

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Welche Rolle
in der Außenpolitik spielt das organisierte Kapital,
insbesondere das Großkapital mit seinem enormen Einfluss
auf den politischen Prozess, den es sich kauft? Wir wissen,
dass in der Frühzeit des amerikanischen Imperiums dessen
Manager regelmäßig von Rechtsanwälten gestellt
wurden, die dem Kapital gedient hatten – eine Tradition,
die fortgeführt wurde bis hin zu Dean Acheson und John
Foster Dulles. Die Gründer des Council on Foreign
Relations waren Männer der New Yorker Finanzwelt, die
für die Dienste akademischer Experten bezahlten und
gemeinsam mit diesen die „War And Peace Studies“
erarbeiteten, mit denen in den zwanziger Jahren des 20.
Jahrhunderts die amerikanische Machtstellung der
Jahrhundertmitte vorweggenommen wurde. Im Laufe der Zeit wurde
die alltägliche Vertretung unserer Interessen im Ausland
einer Elite von akademischen Spezialisten und Regierungsbeamten
anvertraut, gelegentlich fanden sich auch kurzfristig auf dem
Privatsektor angeworbene Geschäftsleute und Juristen
– oder Politiker. Niemand aus dieser Elite stellte die
Voraussetzungen des amerikanischen Kapitalismus in Frage, und
niemand wird dies wahrscheinlich jemals tun.

Das Großkapital, um es anders auszudrücken,
brauchte niemals eine direkte Interessensvertretung; seine
Angestellten und Gehilfen leisteten ihre Dienste freiwillig.
Der Halliburton-Skandal, die Verteilung von Aufträgen zum
Wiederaufbau Iraks an eine Firma, an der der amtierenden
Vizepräsident direkte finanzielle Interessen hat, zeigt
deutlich, dass es zahlreiche Fälle von direkter Korruption
gibt, insbesondere in Zusammenhang mit Aufträgen, die vom
Staat vergeben werden.

Die Manager des Imperiums haben das Kapital davon
überzeugt, dass sie verantwortlich sind für die
Schaffung der Rahmenbedingungen (Amerikas strategische
Überlegenheit und seine langfristige Stabilität),
unter denen die langfristigen Interessen des Kapitals gut
aufgehoben sind. Der gesamte Komplex der
Rüstungsproduktion und der Verkauf von Dienstleistungen an
die Regierung sind aus sich selbst heraus ein wichtiger
Bestandteil des Aktivitäten des amerikanischen Kapitals;
sie bilden den militärisch-industriellen Komplex, vor
dessen Gefahren Eisenhower am Ende seiner Präsidentschaft
gewarnt hat. Auseinandersetzungen über die Politik sind
deshalb häufig Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen
Teilen des amerikanischen Kapitals und zwischen
kürzerfristigen wirtschaftlichen und längerfristigen
politischen Interessen. Im Hinblick auf das Konfliktpotenzial
dieser Situation ist die relative Stabilität der
Beziehungen zwischen Staatsapparat und Kapital nicht etwa ein
Zeichen für den Triumph eines vermeintlichen, rein
politisch verstandenen nationalen Interesses, sondern für
die Festlegung dieser Interessen in Begriffen, die mit den
langfristigen Interessen das Kapitals übereinstimmen. Ob
diese wiederum mit den gegenwärtigen und zukünftigen
Interessen der Nation identisch sind, ist eine ganz andere
Frage.

In der Washington Post vom 29. Mai 2004 waren die Worte
einer irakischen Frau zu lesen, die vor dem Gefängnis von
Abu Ghraib für die Freilassung ihres Mannes demonstrierte.
Sie sagte: „Wir mögen die amerikanischen Menschen,
doch das Problem ist ihre Regierung. Jene sind genau wie wir,
ohne jegliche Macht. Wir sahen, wie sie Fahnen schwangen und
gegen den Krieg demonstrierten.“ Die Dame hat zweifellos
keinen Doktorgrad in internationalen Beziehungen, aber sie hat
intuitiv die Wirklichkeit der USA erfasst, die jene
Europäer nicht kapieren, die von ihren frommen
Pilgerfahrten nach Harvard und Stanford, zur Brookings
Institution und dem Council on Foreign Relations
zurückkommen und die Märchenerzählungen ihrer
Gastgeber nachbeten. 50 Prozent der amerikanischen Wähler
beteiligen sich an den Präsidentschaftswahlen, 40 Prozent
an den Wahlen zum Kongress zum „Mid Term“. Wir
haben die besten Universitäten der Welt, die von einem
sehr geringen Teil eines jeden Jahrgangs besucht werden, und
mittelmäßige Schulen für den Rest. Einer der
größten Erfolge unserer politisch unterwürfigen
und intellektuell bankrotten Medien bestand darin, ein Volk von
Einwanderern, von Kindern, Enkeln und Abkömmlingen von
Einwanderern, von Veteranen weltweiter Kriege, von im Ausland
tätigen Managern und Angestellten und von Touristen davon
zu überzeugen, dass andere Nationen keine autonome
Existenz haben. Sie werden lediglich im Zusammenhang gesehen
mit der aktuellen Tagesordnung jener, die die konventionelle
und dürftige Diskussion über Außenpolitik
bestimmen, die dann die Öffentlichkeit erreicht.

Das Imperium

Vor einer Generation beschrieb Arthur Schlesinger Jr., der
sich auf seine Kenntnisse der amerikanischen Geschichte und
seine Erfahrungen als Berater der Präsidenten John F.
Kennedy und Lyndon B. Johnson stützen konnte, das
Funktionieren der, wie er es nannte, „Imperialen
Präsidentschaft“. Wenn er damals Recht hatte, hat
uns sein Werk heute noch mehr zu sagen. Bei denen, die sich die
Mühe machen, überhaupt darüber nachzudenken,
herrscht die Annahme vor, dass die Anforderungen der modernen
Diplomatie, der Zwang zur raschen Beschlussfassung und die
Notwendigkeit, die Streitkräfte, den diplomatischen Dienst
und die Geheimdienste zu koordinieren, den amerikanischen
Präsidenten keine andere Wahl lässt. Sie müssen
Autorität und Macht in ihrer Hand konzentrieren, da sonst
das Chaos ausbricht. Mehr noch: Nur der Präsident kann die
großen Linien der Politik dem Volk vermitteln; das Land
ist groß, die Gesellschaft komplex, und Einzelinteressen
und Lobbies könnten andernfalls ungebremst vorpreschen.
Nun ist die Israel-Lobby nicht für ihre Zurückhaltung
bekannt; lange Zeit hat kein Präsident es gewagt, sich mit
ihr anzulegen. Gewiss, Präsident George Bush sen. und sein
Außenminister haben es getan – doch die Regierung
von Bill Clinton kehrte sehr schnell zum Gehorsam zurück.
Unter George W. Bush ebenso wie unter seinen republikanischen
Vorgängern Ronald Reagan und George Bush sen. bestimmte
eine Allianz aus traditionalistischen Katholiken und
protestantischen Fundamentalisten die Politik Amerikas in
internationalen Gremien hinsichtlich der Rechte der Frauen,
Familienangelegenheiten und Geburtenkontrolle. Die Lobbies sind
wirklich nicht zu bändigen, wenn der Präsident dies
für politisch vorteilhaft hält.

Gelungen ist der „imperialen
Präsidentschaft“ eine drastische Reduzierung, ja
sogar eine Eliminierung der Funktion des Kongresses im Hinblick
auf die auswärtigen Beziehungen. Als Bush sich zum Angriff
auf Irak entschloss, machten er und seine Berater sich keine
all zu großen Sorgen, wie man den Kongress
überzeugen könnte; die Annahme der
präsidentiellen Oberhoheit in der Außenpolitik war,
auch ohne die nachhaltigen Auswirkungen der Anschläge vom
11. September, vollkommen ausreichend. Die wenigen Stimmen im
Kongress und im Senat, die Zweifel äußerten, waren
eben dies: wenige, und ein würdiger Nachfolger für
William Ful-bright, den bedeutenden Kritiker des Vietnam-Kriegs
auf dem Stuhl des Vorsitzenden des Senatsausschusses für
auswärtige Angelegenheiten ist nicht in Sicht.
Natürlich gibt es Gelegenheiten und Fragen, bei denen der
Kongress und der Senat gehört werden. Demokraten, die
für eine härtere Gangart gegenüber der
Sowjetunion waren, kritisierten Nixon und Ford, und Reagan
geriet wegen des Iran-Contra-Skandals unter Beschuss. Im
Allgemeinen jedoch marschiert das Parlament hinter dem
Präsidenten – oder es hinkt ihm hinterher. Das
unterbindet nicht alle möglichen Interventionen zu
speziellen Fragen (und besonders beim Rüstungshaushalt
Aufmerksamkeit für die Verteilung von Mitteln in den
Wahlkreisen der Parlamentarier), doch sind diese hinsichtlich
der großen Linien der Politik ziemlich verhalten.

Willfährige Medien

Dasselbe kann man von den Medien sagen. Der Begriff der
„eingebetteten“ Reporter, die in Wirklichkeit als
„beigeordnete“ Mitglieder der amerikanischen
Streitkräfte in Irak dienen, bestätigte eigentlich
nur frühere Situationen. Im Mai 2004 veröffentlichte
die New York Times eine ungewöhnliche Meldung voller
Selbstkritik: Ihre Reporter und Redakteure, so erklärte
sie, seien zu leichtgläubig gewesen im Hinblick auf
„Informationen“ über irakische
Massenvernichtungswaffen, die ihnen von Regierungsseite und von
irakischen Überläufern übermittelt worden seien,
die damit lediglich ihre eigenen Interessen verfolgt
hätten. Kritik an der Times wegen dieser Verfehlungen war
tatsächlich schon seit etwa einem Jahr von Medienkritikern
geäußert worden. Doch bisher gibt es keine Berichte
über eine Wiederbelebung einer Praxis aus den vierziger
und fünfziger Jahren, als die CIA mit Zustimmung der
Verleger Agenten in den Redaktionen platzierte, die als
Reporter getarnt waren.

Allerdings scheint es überhaupt nicht notwendig, dass
Geheimdienstleute hinter verschlossenen Türen Journalisten
Anweisungen erteilen, solange diese Journalisten die
Zusammenarbeit mit der Regierung als vollkommen normal ansehen.
Was auf Reporter zutrifft, trifft noch mehr auf Kommentatoren
zu. Die Debatten drehen sich darum, wie das Imperium regiert
werden soll – nicht jedoch um das imperiale Projekt als
solches.

Hier kommen praktische Anreize zum Tragen: für
Journalisten mag sich übermäßige Neugier im
Hinblick auf Fehler und Lügen der Regierung in einem
gewissen Sinn beruflich auszahlen. Andererseits könnte es
sie die Kooperationsbereitschaft von Funktionsträgern
kosten, mit denen es der Reporter auf unbestimmte Zeit zu tun
hat. Das Pressekorps des Weißen Hauses etwa gilt als so
zahm, dass die großen Zeitungen üblicherweise
dorthin nicht ihre erfahrensten und talentiertesten Mitarbeiter
entsenden. Gewiss erregt ein Sexskandal des Präsidenten
die investigative Neugier, aber die Aufdeckung der Verbindungen
zwischen den Familien Bush und Bin Laden blieb Michael Moore
überlassen. Beim Thema Außenpolitik treffen wir oft
auf eine unreflektierte Identifikation mit einem zur Konvention
erstarrten Begriff von „nationalem Interesse“. Als
die Regierung Bush eine Verleumdungskampagne gegen die
Regierungen und Völker Frankreichs und Deutschlands
startete, begaben sich die amerikanischen Journalisten auf ein
unrühmliches Niveau von Chauvinismus und schlossen sich
dieser Kampagne fast noch enthusiastischer an als die Regierung
selbst.

Dasselbe Muster zeichnet sich bei 
Funktionsträgern im außenpolitischen Apparat ab.
Soldaten und Beamte im aktiven Dienst sind
selbstverständlich an eng gefasste Formen der Diskretion
und der Loyalität gebunden. Doch das schließt
Konflikte zwischen Gruppen innerhalb des Apparats keineswegs
aus, die nicht selten an die Öffentlichkeit gelangen, so
wie es gegenwärtig beim Streit um die Verantwortung
für das Irak-Desaster der Fall ist. Die Mitarbeiter im
Kongress und im Senat haben genau so viel Freiheit, wie ihre
Arbeitgeber ihnen lassen; im Allgemeinen ist das nicht
besonders viel, und auf keinen Fall sind sie berechtigt, eine
Meinung zu äußern, die von der ihrer Arbeitgeber
abweicht.

Solchen erkennbaren Einschränkungen sind die Experten
in den Forschungszentren in Washington und die Professoren
für internationale Beziehungen an unseren
Eliteuniversitäten nicht unterworfen, auch für die
Beschäftigten in den akademischen Stiftungen, die
Forschungsmittel verteilen, gilt dies nicht. Diese erlegen sich
selbst ein großes Maß an Diskretion auf,
vermutlich, um für Regierungsposten akzeptabel zu bleiben,
falls ihre politischen Gönner ins Amt kommen sollten; sie
möchten deshalb auch nicht als Bilderstürmer oder als
beunruhigend unabhängige Köpfe erscheinen. Deshalb
klingen Historiker der amerikanischen Diplomatie und
Außenpolitik im Vergleich mit vielen ihrer Kollegen oft
wie einsame Rufer in der Wüste, wenn ihr Tun einzig und
allein darin besteht, ein kleines bisschen akademische Freiheit
zu praktizieren.

Es gibt einen triftigen Grund für die Introvertiertheit
des außenpolitischen Establishments. In den USA 
gibt es keine großen Massenorganisationen, die sich mit
diesen Fragen beschäftigen, trotz der Präsenz
effektiver (und manchmal großer) ethnischer,
ideologischer und religiöser Lobbygruppen. Das hat zur
Folge, dass jemand, der sich den konventionellen Meinungen
widersetzt, damit rechnen muss, sich irgendwann einsam und ohne
Unterstützung im politischen Raum wiederzufinden. Die
Lobbies wiederum verwalten sich selbst von der Spitze her und
sind abhängig von freiwilligen Beiträgen ihrer
Mitglieder, die in der Regel keinen Wert auf direkten Kontakt
zur Öffentlichkeit legen.

Genauso verhält es sich mit den politischen Parteien,
die Ansammlungen von Interessengruppen sind, angeführt von
kleinen Zirkeln von Vollzeitprofis – keine
Mitgliedsorganisationen wie die europäischen Parteien.

Überraschend (und ein Gütezeichen für die
Vitalität unserer Demokratie) ist, dass es trotz all
dieser Hindernisse eine lautstarke außenpolitische
Opposition gibt, eine Gruppierung, die ein Ende des
amerikanischen Imperiums und eine andere Form der Beziehungen
mit der Welt anstrebt. Angesichts der Beunruhigung, mit der
Einstellungen dieser Art betrachtet werden (in Washington
werden sie im besten Fall als utopisch, im schlimmsten als
verräterisch eingeordnet), ist es um so bemerkenswerter,
dass diese Gruppen in der Hauptstadt präsent sind, dass
sie in der nationalen Diskussion gelegentlich, wenn auch nur
gedämpft Gehör finden und dass sie nicht
vollständig von den eher konventionellen
Meinungssträngen getrennt sind.

Der Wahlkampf von Howard Dean für die
Präsidentschaft als ein Anti-Kriegs-Kandidat, der das
Internet als Kommunikationsmittel zum Sammeln von Spenden und
zur Stimmenwerbung nutzte, ist ein gutes Beispiel dafür,
was möglich sein könnte – auch wenn die
etablierten Parteiführer es letztlich geschafft haben,
einen Kandidaten zu Fall zu bringen, von dem sie
fürchteten, dass er sich ihrer Kontrolle entziehen
könnte.

Kirchen in Opposition

Die Kirchen oder doch einige Kirchen bilden eines der
Sammelbecken für oppositionelle Gruppen. Der
römisch-katholischen Kirche gehören 25 Prozent der
Bevölkerung an, und sie verfügt mit ihren alten und
neuen Zuwanderern – Iren, Deutschen, Italienern und
Slawen auf der einen, Lateinamerikanern auf der anderen Seite
– und mit ihren Verbindungen zur Weltkirche über
eine Art naturgegebene internationale
„Sensibilität“. Ihr Glaube an die Heiligkeit
der Gemeinschaft, ihre kritische Einstellung gegenüber der
Herrschaft des Marktes und ihre Verpflichtung auf die
Integrität der Person machen sie zu einer Verteidigerin
der Menschenrechte. Es stimmt, dass die Einwanderer sich oft
bemüht haben, ihren Newcomer-Status durch eine Betonung
der Bindung an ihre neue Heimat zu kompensieren. Katholiken,
und zwar nicht nur diejenigen aus Ländern unter
kommunistischer Herrschaft, waren eifrige Befürworter des
Kalten Krieges. Eine neue Generation von Bischöfen und
Theologen, erzogen in der Tradition des II. Vatikanischen
Konzils, wurde aber zu einer Stimme der Kritik am
amerikanischen Imperialismus und, erst kürzlich, am Krieg
in Irak.

Ihr schloss sich die größte Gruppe des
amerikanischen Protestantismus an, der Nationale Kirchenrat,
dessen Mitglieder zwei Drittel der amerikanischen Protestanten
repräsentieren. Die Protestanten, die sich einstmals
vorwiegend der Missionsarbeit im Ausland und der Bekehrung,
beispielsweise der Chinesen, zu Calvin und zu Sauberkeit
gewidmet hatten, beharren heute darauf, dass die USA eine
Politik verfolgen müssen, die den Ländern der Dritten
Welt hilft. Beide großen Kirchen warnen vor einem
übermäßigen Vertrauen in militärische
Macht als Mittel zur Lösung globaler Probleme. Ihre
Ansichten stehen im heftigen Widerspruch zur Verherrlichung der
Güte der Nation und der Verkündung ihres Rechtes, der
Welt eine moralische Ordnung aufzuzwingen, wie sie im
protestantischen Fundamentalismus zum Ausdruck kommen.

 Dieses fundamentalistische Publikum, etwa 20 Prozent
der Bevölkerung, verschlingt gierig apokalyptische
Bücher, die eine eigenartige Darstellung der
Weltgeschichte enthalten: Danach sind die USA die
Verkörperung des absolut Guten und kämpfen
allüberall gegen große und kleine Feinde,
Säkularisierer zu Hause, Muslime und andere im Ausland,
und natürlich die dekadenten Europäer, die sich seit
langem schon von ihren christlichen Traditionen entfernt haben
– ausgenommen natürlich José Maria
Aznár, Silvio Berlusconi und Tony Blair. Das
amerikanische Judentum, das etwa zwei Prozent der
Bevölkerung ausmacht, einstmals eine religiöse Gruppe
mit der energischen Forderung nach weltumfassender
Gerechtigkeit, hat eine bemerkenswerte Verengung seines
Horizonts durchgemacht, in erster Linie auf Grund seiner
zunehmend erbitterten und unkritischen Verteidigung der
Interessen Israels. Natürlich können in all diesen
Fällen die Theologen nur Vorschläge machen; ihre
Gemeinden können sie verwerfen, und nur wenige von ihnen
sind in Lebenswelten zu Hause, die vollkommen im Einklang mit
ihren Kirchen stehen.

Weltliche Gruppen

An der Seite der kirchlichen Gruppen arbeitet eine ganze
Reihe von weltlichen Gruppen. Viele haben sich spezialisiert
auf Themen wie Bürger-, Menschen- und Frauenrechte,
Konfliktlösung und Rüstungsbegrenzung,
Entwicklungshilfe oder Umweltschutz. Die Gewerkschaften sind
besonders aktiv im Kampf für Arbeitsrechte – und
gegen die Auswüchse eines ungezügelten Kapitalismus.
Viele dieser Gruppen haben mitgewirkt an der Aufdeckung der
vielen Skandale, in die Amerika durch die Unterstützung
autoritärer Regime  (und die aktive Komplizenschaft
mit ihnen) verwickelt war. Eine Schwierigkeit besteht darin,
dass diese Bemühungen durch keinen gemeinsamen Nenner
dauerhaft zusammengehalten werden. Wenn sie im Kongress oder in
der Öffentlichkeit auf Resonanz stoßen, dann
gewöhnlich nur im Zusammenhang mit einem besonderen
Ereignis und nicht in ihrem Kampf gegen eine Politik, die
Kriminalität und Ausbeutung, die Verschwendung von
Ressourcen und die Beschneidung der menschlichen Entwicklung
unausweichlich erscheinen lässt.

Es gibt einige Ausnahmen in Gestalt einiger prominenter
Mitglieder von Kongress und Senat (man denke an Senator Edward
Kennedy), des   Black Congressional Caucus
(Vereinigung Schwarzer Kongressabgeordneter) und des
Progressive Caucus of the Congressional Democrats
(Parteiausschuss der fortschrittlichen Demokraten im Kongress).
Deren Aktivitäten sind jedoch nach wie vor beschränkt
auf Minderheiten, oftmals ohne nennenswerten Zugang zur
Öffentlichkeit als Ganzes.

Gibt es überhaupt so etwas wie eine
„amerikanische Öffentlichkeit“? Angesichts
unserer niedrigen Wahlbeteiligung, komplexer und
widerstreitender kultureller Ausrichtungen und um sich
greifender Privatisierung ist diese Idee – die ihre
Wurzeln in einer frühen Phase der Demokratie hat –
vielleicht nicht mehr so leicht umsetzbar. Jede
Beschäftigung mit einem spezifischen Problem mündet
in das übergreifende Problem: das demokratische Defizit
Amerikas. Unsere Bürger scheinen nicht in der Lage zu
sein, ihren Gemeinsinn und ihre Intelligenz sowie ihre
bemerkenswerte Kritikfähigkeit und ihre Skepsis
gegenüber der Autorität einzusetzen in einem
beständigen Kampf zur Umverteilung von Macht und Reichtum
innerhalb der Gesellschaft. Das gleiche gilt für den
Bereich der Außenpolitik, wo eine sich selbst erneuernde
und sich selbst nützende Elite beansprucht, im Namen eines
Volkes zu sprechen, das sie ganz gewiss nicht gewählt hat.
Die gegenwärtige Diskussion über die ungeheure
Niederlage, die die Vereinigten Staaten in Irak erleiden, zeigt
die Grenzen der heutigen Möglichkeiten für Abhilfe,
geschweige denn für einen Wechsel auf. Wir sind ein nur
teilweise demokratisches Imperium, das sich der drohenden
Gefahr gegenübersieht, den Autoritarismus zu
institutionalisieren. Für die vorhersehbare Zukunft ist es
schwierig zu erkennen, was die Nation in die Lage versetzen
könnte, aus ihrer jetzigen Umklammerung auszubrechen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2004, S. 53-67

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