IP

01. Okt. 2008

Das ideale Niemandsland

Brief aus ... Brüssel

Deutsche, Holländer oder Franzosen müssen ihre nationale Identität aufgeben, wollen sie Europäer werden. Die Belgier nicht, die sind das schon von Natur aus

Als Kind war ich der Überzeugung, Belgien liege auf der Grenze zwischen den Niederlanden und Frankreich. Eine Grenze, die wir immer dann überschreiten mussten, wenn wir in die Ferien fahren wollten. Jeweils am Anfang unserer Sommerferien überquerten wir sie ohne anzuhalten. Nachts. Auf der Autobahn brannte überall Licht. Es war still. Mir war feierlich zumute, wenn wir so durch Belgien fuhren. Ich erinnere mich an die Lichter im Hafen. Die Lichter der Fabriken. Belgien schien eine einzige große Fabrik zu sein, aber in dieser Fabrik war kein einziger Arbeiter. Gab es die Belgier überhaupt? Konnten sie sich unsichtbar machen?

1988 zog ich nach Brüssel, um an der Université Libre europäisches Recht zu studieren. Dort lernte ich Menschen aus ganz Europa kennen, aber nicht einen einzigen Belgier. Brüssel war für mich so ganz anders als Belgien. Brüssel war die Hauptstadt Europas, umgeben von Wallonien und Flandern, die miteinander nichts zu tun haben wollten. Ich wusste, dass auch Belgier in Brüssel arbeiteten, denn ich sah sie morgens aus dem Hauptbahnhof strömen und abends – in hohem Tempo, als wollten sie keinen Augenblick länger als nötig in dieser Stadt bleiben – in der Gegenrichtung wieder hinein. Zurück nach Belgien. In ihre „fermettes“, wo sie die Rollläden herunterließen, sobald sie zu Hause eintrafen. Nachts gehörte Brüssel denen, die geblieben waren. Mir fiel keine Bezeichnung ein, die auf alle passte. Brüssler?

Größere Individualisten als die Belgier gibt es nicht. Wenn Türken oder Italiener ein Fußballländerspiel gewinnen, dann rasen sie laut hupend und Fahnen schwingend durch Brüssel. Haben die Belgier gewonnen, merkt man nichts davon. Vielleicht, weil die „Rode Duivels“ (Roten Teufel) vor allem aus Afrika stammen. Und auch, weil sie nur noch selten gewinnen.

Als 1993 König Boudewijn starb, sah ich zum ersten Mal, dass die Belgier eine Einheit waren. Das heißt, ich sah, dass sie sich danach sehnten, eine Einheit zu sein. Aus ganz Belgien kamen sie nach Brüssel, um unter der sengenden Sonne vor dem Königlichen Palast Blumen niederzulegen. Sie trauerten um ihren verlorenen König, vielleicht weil er der einzige gewesen war, der sie noch miteinander verband.

Ein paar Jahre nach dem Tod des Königs zogen dieselben Leute – Wallonen, Flamen und Brüssler – in den so genannten „weißen Märschen“ gemeinsam trauernd durch die Hauptstadt. Nicht nur der verlorene Vater, sondern auch die verlorenen Töchter erweckten die Sehnsucht der Belgier nach Zusammengehörigkeit. Nach ein paar Monaten erlosch diese Sehnsucht wieder. Wo ging sie hin, die geteilte Freude?

In Flandern wünschen sich heute die meisten Wähler mehr Autonomie für den niederländischsprachigen Landesteil, während im französischsprachigen Wallonien und Brüssel die Mehrheit der Bewohner das föderale System erhalten wollen. Der wunde Punkt sind die Finanzen. Die Flamen finden, dass zu viel Geld nach Brüssel und Wallonien strömt. Wo bleibt die Solidarität? Die Flamen finden auch, dass sie zu hart für die faulen Wallonen arbeiten müssen, die übrigens nicht im Traum dran denken, die holländische Sprache zu lernen. Extrem links und extrem rechts streben eine Unabhängigkeit Flanderns an. Und das Königshaus wollen sie auch gleich abschaffen. So ein unabhängiges Flandern wäre ein ziemlich lebensfeindliches Land. Stolz, chauvinistisch und intolerant. Lasst also Belgien, wie es ist, und das Königshaus auch. Vielleicht gerade weil ihr Verhältnis eine Zwangsehe ist. Das Königshaus überzieht alles mit einer gewissen Kontinuität, Trägheit und Sanftmut. Es verbindet, obwohl sich fast jeder darüber ärgert.

Die Belgier verfügen nur über schwaches Nationalbewusstsein, geschweige denn über Nationalstolz. Sie haben sich die Natur zerhacken und verbauen lassen, sie haben voll Bedauern zugesehen, wie ihre Architekturmeisterwerke abgerissen wurden, unfähig sich gemeinsam gegen die Abrissbirnen zu wehren. Aber Stolz wächst nur langsam, und die Belgier sind ein junges Volk.

Belgien ist Europa en miniature. Eine Ansammlung von Individuen, die sich sehr unterscheiden, die sich fremd sind, deren Individualität nicht unter der Bürde einer gemeinschaftlichen Kultur oder Geschichte leidet. Eigentlich sind sie aus diesem Grund die idealen Europäer. Die Holländer sind so holländisch, die Deutschen so deutsch, die Franzosen so französisch – sie sollten sich schleunigst von ihrer nationalen Identität lösen und richtige Europäer werden. Die Belgier sind das schon von Natur aus, frei und unbelastet. Ein Belgier kann alles sein. Ich mag Menschen, die alles sein können. Nur Faschisten glauben an die Wahrheit von Blut und Boden.

Ein paar Mal stand ich kurz davor, mich um die belgische Staatsangehörigkeit zu bewerben. Ein belgischer Pass würde mich endlich von aller Nationalität befreien. Dann würde ich mich ganz offiziell wie ein Fremder fühlen, mitten im Herzen von Europa, in einem Land, das ein Niemandsland ist, in einem Land, das niemandem gehört, sondern allen. So sieht für mich die ideale Welt aus. Wie Belgien also.

Übersetzung: Ira Wilhelm

OSKAR VAN DEN BOOGAARD, ist Schriftsteller und Kolumnist der belgischen Zeitung De Standard. Er lebt in der Nähe von Brüssel und Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2008, S. 14 - 15

Teilen