Das Ende der Atomwaffenkontrolle?
Die Eiszeit zwischen Russland und den USA gefährdet das Abrüstungsregime
Seit einem halben Jahrhundert spielt die nukleare Rüstungskontrolle eine zentrale Rolle in den Beziehungen zwischen Washington und Moskau. Sie hat einen erheblichen Beitrag zur amerikanischen, sowjetischen und russischen Sicherheit geleistet. Inzwischen wirkt das nukleare Rüstungskontrollregime allerdings immer brüchiger.
Die ernsten Spannungen zwischen Russland und den USA wirken sich auch auf die nukleare Abrüstung aus. Mehrere Streitpunkte belasten die bestehenden Abrüstungsverträge; über neue Schritte der Rüstungsbegrenzung wird erst gar nicht gesprochen. Washington wirft Moskau vor, mit der Erprobung und Stationierung von verbotenen Marschflugkörpern den Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF) von 1987 zu verletzen. Kongress und Regierung beschlossen daraufhin, ebenfalls eine neue Mittelstreckenrakete zu entwickeln. US-Präsident Donald Trump zweifelt offenbar auch den Wert des 2010 geschlossenen New-START-Vertrags über Maßnahmen zur weiteren Reduzierung und Begrenzung der strategischen Angriffswaffen an. Europa und Asien schweigen sich zu allem aus. Auch das hilft nicht. Sollte das nukleare Rüstungskontrollregime zerfallen – was leider eine reale Möglichkeit ist –, wird die Welt unsicherer und gefährlicher werden.
Die Verhandlungen zwischen amerikanischen und sowjetischen Amtsträgern über die nukleare Rüstungskontrolle begannen Ende der 1960er Jahre. Vier Jahrzehnte lang führten sie zu Übereinkommen mit Abkürzungen wie SALT, INF und START. Als Folge dieser Verträge und einseitiger Abrüstungsschritte sind die Atomwaffenarsenale der USA und Russlands zwar immer noch groß, aber nur ein Bruchteil dessen, was sie im Kalten Krieg betrugen. New START war die bisher letzte Vereinbarung. Sie verpflichtet die USA und Russland, jeweils nicht mehr als 1550 strategische Gefechtsköpfe auf nicht mehr als 700 strategischen Raketen und Bombern zu stationieren. Diese Obergrenzen treten in vollem Umfang im Februar 2018 in Kraft. Beide Länder sind offenbar auf gutem Wege, sie zu erreichen.
Nach der Unterzeichnung von New START hatte der damalige US-Präsident Barack Obama eine neue Runde von Abrüstungsverhandlungen vorgeschlagen, um auch nichtstrategische Atomwaffen und nichtstationierte strategische Waffen einzubeziehen. Dies hätte für Washington und Moskau bedeutet, zum ersten Mal über ihr gesamtes Atomwaffenarsenal zu verhandeln. Die russische Seite stimmte jedoch nicht zu, sondern machte Vorbehalte gegen die amerikanische Raketenabwehr und gegen konventionelle Angriffswaffen geltend. Sie rief auch dazu auf, die nächsten Verhandlungen multilateral zu führen, obwohl die Nukleararsenale der USA und Russlands noch immer mehr als zehnmal so groß sind wie die jedes anderen Staates. Während der Amtszeit von Obama gelang es beiden Ländern nicht, eine Formel für neue Verhandlungen zu finden. Seit dem Amtsantritt von Donald Trump hat es nur eine einzige Gesprächsrunde zwischen Amerikanern und Russen über strategische Stabilität gegeben, bei der nicht viel herausgekommen ist.
Die Aushöhlung des INF-Vertrags
Das Schicksal des INF-Vertrags ist die unmittelbarste Herausforderung für das Atomwaffen-Kontrollregime. Mit diesem Vertrag, der im Dezember 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnet wurde, verzichteten die USA und die Sowjetunion auf sämtliche ballistische Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern. Bis Mitte 1991 hatten beide Staaten etwa 2700 Raketen zerstört.
2014 warf die Regierung Obama Russland vor, den Vertrag durch den Test eines verbotenen, bodengestützten Marschflugkörpers mittlerer Reichweite verletzt zu haben. Nach Angaben von US-Vertretern begann Russland 2017 mit der Stationierung dieser Rakete, die das russische Kennzeichen 9M729 trägt. Amerikanische Militärs haben sie die SSC-8 genannt.
Russische Regierungsvertreter bestreiten, dass sie den Vertrag verletzt haben und werfen stattdessen den USA Verletzungen in drei Fällen vor. Zwei davon sind offensichtlich unbegründet; aber Moskaus Behauptung, dass das Trägersystem für „Aegis Ashore“ den Vertrag verletzt, ist nicht ganz unbegründet. Aegis Ashore ist ein mit SM-3-Abfangraketen bestücktes Trägersystem in Rumänien (und demnächst auch Polen). Seine Senkrecht-Start-Technik kann, wenn sie von US-Kriegsschiffen aus eingesetzt wird, nicht nur für SM-3-Raketen, sondern auch für Marschflugkörper und andere Waffen verwendet werden. Nach russischen Angaben könnte Aegis Ashore auch für bodengestützte Marschflugkörper, die nach dem INF-Vertrag verboten sind, genutzt werden.
Mit ausreichend politischem Willen in Moskau und Washington könnten diese Probleme gelöst werden. Doch bislang erkennen die Russen nicht einmal an, dass ihr Verhalten Fragen nach ihrer Vertragstreue aufwirft. Drei Jahre lang bemühte sich die Obama-Regierung, Russland zu überzeugen, den Vertrag wieder einzuhalten. Sie scheiterte. Inzwischen hat die Regierung Trump eine Überprüfung des Vertrags eingeleitet. Auch die Republikaner im Kongress haben eine robuste Reaktion gefordert. Auf ihre Initiative hin wurde das Gesetz für das Verteidigungsbudget um eine Passage ergänzt, die das Pentagon ermächtigt, die Entwicklung eines bodengestützten Marschflugkörpers in die Wege zu leiten. Wegen der russischen Vertragsverletzungen konsultierten US-Vertreter auch ihre Verbündeten in der NATO.
Am 8. Dezember 2017 – dem 30. Jahrestag der Unterzeichnung des INF-Vertrags – erklärte die Trump-Regierung, dass sie an dem Vertrag festhalte und eine Gesamtstrategie verfolge, um Russland dazu zu bringen, ihn wieder einzuhalten. Demnach würden die USA eine diplomatische Einigung anstreben, auch mithilfe der im Vertrag vorgesehenen Besonderen Beratungskommission. Zugleich würden sie die Forschung und Entwicklung einer amerikanischen bodengestützten Mittelstreckenrakete einleiten (die Entwicklung würde den INF-Vertrag noch nicht verletzen, wohl aber ein Flugtest). Schließlich sollten Wirtschaftssanktionen gegen alle russischen Einrichtungen verhängt werden, die die SSC-8-Rakete entwickelt und produziert haben.
Die Verbündeten der USA in Europa und Asien haben sich bisher öffentlich kaum zu den russischen Vertragsverletzungen geäußert. Dabei geht es um eine Rakete, die entwickelt und gebaut wurde, um Ziele in Europa und Asien zu treffen, nicht in den USA. Dieses Schweigen der verbündeten Regierungschefs sendet Moskau die falsche Nachricht. Sie bedeutet, dass die Vertragsverletzung für den Kreml nur ein Punkt unter vielen auf einer bereits stark belasteten Agenda mit Washington ist, und kein gravierendes Problem in Russlands Beziehungen zu seinen Nachbarn. Übrigens wird auch die Regierung Trump dem Wunsch ihrer Verbündeten nach Bewahrung des Vertrags nur wenig Gewicht beimessen, solange die Regierungschefs in Berlin, Rom, Den Haag, Brüssel, Tokio und anderen Hauptstädten nicht heftiger gegen die russische Verletzung protestieren.
Die Regierung Trump und New START
Sollte der INF-Vertrag scheitern, würde auch der New-START-Vertrag unter Druck geraten. New START läuft vereinbarungsgemäß im Jahr 2021 aus, kann aber um bis zu fünf Jahre verlängert werden. Einige in Washington dürften sich gegen die Verlängerung von New START stellen, falls der INF-Vertrag scheitert oder Russland ihn fortdauernd verletzt. Tatsächlich haben mehrere republikanische Politiker bereits einen Anlauf unternommen, für diesen Fall die Gelder für die Verlängerung von New START zu blockieren.
Amerikanische Regierungsvertreter sagen, dass die Frage einer Verlängerung von New START geprüft wird, wenn klar ist, was im Februar 2018 geschieht (wird Russland dann tatsächlich die in New START fixierten Obergrenzen respektieren?) und nachdem die „Nuclear Posture Review“, die von der Regierung in Auftrag gegebene umfassende Überprüfung der amerikanischen Nuklearwaffen, abgeschlossen ist. Die militärische Führung dürfte sich für eine Verlängerung aussprechen. Sie hat bereits im Kongress ausgesagt, dass New START im Interesse der USA liegt. Besonders nützlich sei die Transparenz, die der Vertrag für die strategischen Streitkräfte Russlands durch Datenaustausch, Benachrichtigungen und Inspektionen schaffe.
Ob Präsident Trump sich dieser Sichtweise anschließt, ist ungewiss. Fragen der strategischen Nuklearpolitik scheint er nur teilweise zu begreifen. Als Präsident Wladimir Putin in einem Telefongespräch Anfang 2017 die mögliche Verlängerung von New START zur Sprache brachte, war sich Trump offenbar unsicher, um was für einen Vertrag es überhaupt ging. Dann prangerte er ihn als einen „schlechten Obama-Deal“ an.
Eine Welt ohne Rüstungskontrolle
Wenn alles so weitergeht wie bisher, wird der INF-Vertrag vermutlich nicht mehr lange bestehen. Washington hat sich erneut zu dem Vertrag bekannt, doch der Druck wird steigen, ihn aufzukündigen, wenn die russischen Vertragsverletzungen nicht aufhören. Ein Ende des INF-Vertrags oder fortdauernde Zweifel an der russischen Einhaltung würden aber auch eine Verlängerung des New-START-Vertrags nach 2021 erschweren. So könnte es im Jahr 2021 mit den vertraglich ausgehandelten Obergrenzen für die Atomwaffen der USA und Russlands zu Ende sein. Angesichts von knappen Etats ist es durchaus möglich, dass weder Russland noch die USA die Zahl ihrer strategischen Atomwaffen weit über die Obergrenzen von New START hinaus erhöhen. Doch gäbe es dazu keine vertragliche Verpflichtung mehr.
Das russische Militär möchte eine große ballistische Interkontinentalrakete (ICBM) mit dem Namen Sarmat aufstellen. New START würde es vermutlich erfordern, diese Rakete mit weniger Gefechtsköpfen auszustatten als sie tragen kann. Angenommen, es gäbe keinen New START mehr: Würde das russische Militär wirklich darauf verzichten, die größtmögliche Zahl von Gefechtsköpfen einzusetzen? Auf der amerikanischen Seite setzt die US Navy im Durchschnitt vier bis fünf Gefechtsköpfe für jede der ballistischen Raketen (SLBM) ein, die sie von ihren U-Booten vom Typ Trident-II startet. Eigentlich können die SLBM aber acht Gefechtsköpfe tragen. Ohne New START: Ob das Pentagon in Versuchung kommt, die Zahl der Gefechtsköpfe je Rakete zu erhöhen? Beide Seiten würden empfindlich unter dem Verlust von Transparenz und Informationen leiden, für die New START gesorgt hat. Auf der Grundlage des Vertrags tauschen beide Seiten alle sechs Monate detaillierte Angaben über ihre strategischen Streitkräfte aus. Zudem übermittelt jede Seite jährlich etwa 2000 Benachrichtigungen zu Veränderungen ihrer strategischen Kräfte. Der Vertrag erlaubt es außerdem, jedes Jahr bis zu 18 Inspektionen der stationierten und nichtstationierten strategischen Kapazitäten der anderen Seite vorzunehmen.
Auf der Grundlage dieser Vereinbarungen lassen sich enorm viele Erkenntnisse gewinnen, auch was die Zahl der Gefechtsköpfe auf einzelnen ICBMs und SLBMs auf Stützpunkten und in U-Boot-Häfen betrifft, die inspiziert werden. Auf andere Weise an diese Informationen heranzukommen, wäre schwierig und teuer, und mit weniger Information würde die Unsicherheit wachsen. Beide Seiten würden zu pessimistischen Annahmen über die Größe und Zusammensetzung der strategischen Kräfte der anderen Seite neigen. Damit würde der Druck steigen, auch selbst mehr Geld für die Ausrüstung und den Betrieb der strategischen Streitkräfte aufzuwenden.
Was ebenfalls in Betracht gezogen werden sollte, ist die Reaktion von Drittstaaten. Wenn die USA und Russland die nukleare Rüstungskontrolle aufgeben, was würde das für das Nicht-Weiterverbreitungsregime und für die Bemühungen bedeuten, neue Atommächte zu verhindern? Wenn die beiden atomaren Supermächte ihre Arsenale nicht begrenzen, sind sie dann noch glaubwürdig, wenn sie von anderen Ländern den Verzicht auf Atomwaffen fordern? China hat seine Atomstreitkräfte über Jahre hinweg in mäßigem Tempo aufgebaut, zum Teil auch wegen der Obergrenzen für amerikanische und russische Atomwaffen. Mit Sicherheit hat China die wirtschaftlichen Ressourcen, seine Nuklearmacht sehr viel schneller auszubauen. Wird es in Versuchung geraten, zu den Arsenalen der USA und Russlands aufzuschließen, wenn es keine Obergrenzen mehr gibt?
Das Rüstungskontrollregime erhalten
Washington und Moskau können ein Scheitern der nuklearen Abrüstungskontrolle vermeiden. Es sollte möglich sein, offen darüber zu reden, wie der INF-Vertrag erhalten werden kann. Mit Vorbehalten in Bezug auf die Vertragstreue kann die Besondere Überprüfungskommission (Special Verification Commission) befasst werden. Beispielsweise könnten beide Seiten vereinbaren, dass Russland seine bodengestützten SSC-8-Marschflugkörper vorführt und US-Experten die Details der Waffe erklärt. Genauere Kenntnis könnte diese Experten zu dem Schluss gelangen lassen, dass diese Rakete den Vertrag nicht verletzt. Doch selbstverständlich muss Russland auf sie verzichten, wenn sie eine Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern hat.
Die US-Seite könnte die russischen Vorbehalte gegenüber Aegis Ashore ausräumen, indem sie sicherstellt, dass es erkennbare Unterschiede zwischen den Abschussvorrichtungen für SM-3-Abfangraketen und den Abschussvorrichtungen auf amerikanischen Kriegsschiffen gibt. Am besten wäre es, wenn diese erkennbaren Unterschiede direkt mit der Funktion der Vorrichtungen zusammenhängen würden. Beide Seiten könnten sich auch auf ein Verfahren einigen, um russischen Inspektoren regelmäßige Besichtigungen der Stützpunkte für SM-3-Abfangraketen in Rumänien und Polen zu ermöglichen. Dann könnten sich diese selbst davon überzeugen, dass die Abschussvorrichtungen nur SM-3-Abfangraketen und keine Marschflugkörper enthalten.
Washington und Moskau könnten vereinbaren, New START bis 2026 zu verlängern. Damit würden sie die Vorteile des Vertrags erhalten und Zeit gewinnen, einen Anschlussvertrag auszuhandeln. Natürlich würde die Atmosphäre, in der über eine Verlängerung von New START nachgedacht wird, enorm verbessert, wenn es gelänge, die Bedenken wegen möglicher Verletzungen des INF-Vertrags auszuräumen. Amerikanische und russische Regierungsvertreter könnten die Gespräche über strategische Stabilität auch dazu nutzen, die Chancen für neue Abrüstungsverhandlungen auszuloten. Idealerweise würde es dann auch um die nichtstrategischen Atomwaffen und die nichtstationierten Gefechtsköpfe gehen. Allerdings müsste Washington einwilligen, auch über die Raketenabwehr zu sprechen, was im US-Senat auf Widerstand stoßen dürfte. Doch sind auch unterhalb eines förmlichen Vertrags eine Reihe von Schritten denkbar, die für Moskau interessant wären: eine Übereinkunft zwischen den Regierungen über Transparenz bei der Raketenabwehr, eine Erklärung der NATO, dass sie die Zahl der SM-3-Abfangsysteme freiwillig beschränkt, und/oder eine Entscheidung der NATO, den SM-3-Stützpunkt in Polen fertig zu bauen, aber dort keine Abfangraketen zu stationieren. Diese Zusage könnte man möglicherweise an die Bedingung knüpfen, dass der Iran keine ballistische Rakete mit über 2000 Kilometern Reichweite testet.
Was Drittstaaten betrifft, ist es angesichts der Größendifferenz zwischen den nuklearen Streitkräften der USA und Russlands und den Atomwaffenarsenalen anderer Länder schwer, zu einer belastbaren multilateralen Übereinkunft zu kommen. Das dürfte erst recht gelten, wenn Drittstaaten auf gleichen Obergrenzen für alle bestehen. Aber wenn die USA und Russland sich darauf verständigen könnten, die Obergrenzen von New START weiter zu unterschreiten, könnten auch die Drittstaaten bereit sein, sich zu bewegen. Zumindest Großbritannien, Frankreich und China könnten zu einer einseitigen Zusage bereit sein, die Gesamtzahl ihrer Atomwaffen nicht zu erhöhen.
Das Ende des atomaren Rüstungskontrollsystems würde viele negative Folgen für die USA, Russland und die übrige Welt haben. Die USA und Russland sollten sorgfältig abwägen, wie sie es mit dem INF- und dem New-START-Vertrag halten wollen. Wenn der politische Wille vorhanden ist, kann das Regime nuklearer Rüstungskontrolle erhalten und vielleicht sogar gestärkt werden. Dies erfordert allerdings, dass Washington und Moskau weise Entscheidungen treffen, am besten mit der Unterstützung von Staaten in Europa und Asien. Denn es ist auch ihre Sicherheit, die leiden wird, sollten der INF- und der New-START-Vertrag scheitern.
Steven Pifer ist Nonresident Senior Fellow an der Brookings Institution. Über 25 Jahre stand er im Diplomatischen Dienst der USA und arbeitete u.a. an der Kontrolle von Atomwaffen.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2018, S. 56 - 61