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30. Apr. 2011

China: einfach unerlässlich

Auch wenn es in Zukunft für ein ausgewogeneres Wachstum sorgen muss

Chinas Wirtschaft wächst weiter in beeindruckendem Umfang, die Finanz- und Wirtschaftskrise hat das Land unbeschadet überstanden. Doch selbst, wenn neue Führungskräfte demnächst für ein nachhaltigeres Wachstum sorgen müssen, bleibt der generelle Trend bestehen: Globale Ordnungspolitik gegen China wird kaum noch möglich sein.

Chinas wirtschaftlicher Aufstieg ist die epochale weltwirtschaftliche Strukturveränderung unserer Zeit. Gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten von alljährlich zehn Prozent über nunmehr 30 Jahre haben das 1,3 Milliarden Einwohner zählende Land auf Platz zwei der Weltwirtschaftsmächte und auf Platz eins der Exportnationen vorgeschoben. War China in den siebziger Jahren noch eine Volkswirtschaft unter Autarkiebedingungen, so ist sie heute die zentrale Industriewerkstätte der Welt. China ist sowohl die sehr breit angelegte Industrialisierung als auch die Transformation von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft gut gelungen. Bravourös bewältigt hat es so unterschiedliche und komplexe Entwicklungsschritte wie die Modernisierung der Landwirtschaft, die Öffnung des Landes für Handel und Direktinvestitionen, die Privatisierung der staatseigenen Betriebe, den Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur, die Reform des Finanzsektors, die Ausweitung der Wachstumsdynamik auf die Inlandsprovinzen und die Entwicklung von institutionellen Kompetenzen in Gesetzgebung, staatlicher Verwaltung und makroökonomischer Steuerung.
Im Zug dieser Entwicklung ist auch die Zahl der absolut Armen in China deutlich zurückgegangen – nach den revidierten Schätzungen der Weltbank um 407 Millionen Menschen allein im Zeitraum 1990 bis 2004.1  Im Land entsteht eine wachsende Mittelschicht. Bemerkenswert ist ferner, dass China dank seiner kontinuierlich hohen Handels- und Leistungsbilanzdefizite inzwischen Währungsreserven in Höhe von 2,85 Billionen Dollar2  angehäuft hat und zum weltweit größten Nettogläubiger geworden ist. Mit seinen Überschüssen finanziert China einen beträchtlichen Teil des amerikanischen Fiskal- und Leistungsbilanzdefizits, vergibt inzwischen mehr Entwicklungshilfekredite als die Weltbank und investiert weltweit aktiv in Energie- und Rohstoffprojekte.

Chinas anhaltend hohes Wirtschaftswachstum ist die notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für den Aufstieg des Landes zur globalen wirtschaftlichen Macht. Denn letztendlich speist sich die internationale Macht Chinas, sowohl in ihrer harten als auch in ihrer weichen Variante, aus der ökonomischen Potenz des Landes. Ohne entsprechende fiskalische Ressourcen wäre Chinas wachsende Fähigkeit zur Verteidigung und zur Projektion militärischer Macht kaum finanzierbar. Ohne eigenen ökonomischen Entwicklungserfolg wäre das autoritäre chinesische Modell kaum attraktiv in der Dritten Welt. Und ohne seinen großen attraktiven Binnenmarkt und seine gewaltige Finanzkraft hätte China auch keine wirtschaftlichen Druckmittel gegen Dritte. Die Fortsetzung seines internationalen Machtzuwachses ist also an die Fortführung des bisherigen Wirtschaftswachstums gebunden.

In der Dimension und Geschwindigkeit ist die Wachstumsperformance Chinas historisch einzigartig. Zwar bilden die nachholenden Wachstumsprozesse Japans (1955–1973), Südkoreas (1962–1983) und Taiwans (1958–1985) nordostasiatische Präzedenzfälle. Aber die Zeiträume waren jeweils kleiner, die durchschnittlichen Wachstumsraten niedriger und es handelte sich um deutlich kleinere Volkswirtschaften. Wie konnte der rasante und gewaltige Wiederaufstieg Chinas von weltwirtschaftlicher Peripherie zurück zur alten Größe3  in einem derart kurzen Zeitraum überhaupt funktionieren? Offensichtlich ist in China zweierlei gelungen: die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen für außerordentlich hohe wirtschaftliche Wachstumsraten nicht nur zu schaffen, sondern auch dauerhaft zu gewährleisten. Und große Wachstumseinbrüche infolge makroökonomischer Anpassungskrisen, innenpolitischer Instabilität oder außenpolitischer Konflikte zu vermeiden. Lediglich im Zuge der Tiananmen-Krise von 1989 halbierten sich zwei Jahre lang die Wachstumsraten. Aber sowohl die Asien-Krise 1997/98 als auch die globale Finanzmarktkrise nach 2008 durchlief China ohne größere Blessuren. Dank entschlossenem Gegensteuern der Fiskal- und Geldpolitik in Form eines vier Billionen Renminbi schweren Konjunkturpakets und einer massiven Kreditexpansion erfuhr Chinas Wirtschaft 2009 mit einem Plus von 9,2 Prozent nur eine kleine Wachstumsdelle, während die anderen großen Weltwirtschaftsmächte in diesem Jahr eine deutlich schrumpfende Wirtschaftsleistung verzeichnen mussten. Aufgrund seiner weiterhin kräftigen Importe von Energie, Rohstoffen und industriellen Vorleistungen avancierte China in der Krise gar zur Konjunkturlokomotive der Weltwirtschaft.

Die einfache Feststellung, dass in China während der vergangenen Jahre die Rahmenbedingungen für hohes nachhaltiges Wachstum vorlagen, ist zwar zutreffend, aber zunächst wenig aufschlussreich. Analytisch zielführender ist ein Rückgriff auf die ökonomische Wachstumstheorie. Grundlegend unterscheidet diese tautologisch zwischen zwei Wachstumsbeiträgen. Erstens erhöht sich der wirtschaftliche Output eines Landes durch die Zunahme der Produktionsfaktoren wie Sach- und Humankapitalinvestitionen oder Bevölkerungszunahme. Und zweitens durch eine Verbesserung der ökonomischen Effizienz aufgrund von Produktivitätssteigerungen, die auf technischem und organisatorischem Fortschritt beruhen. Im Fall Chinas sind zweifellos beide Faktoren für das hohe Wachstum der vergangenen Jahre verantwortlich. Hohe Investitionsquoten, die demografisch bedingte Verbesserung des Ausbildungsniveaus, die Zunahme des Arbeitskräftepotenzials und intersektorale Arbeitskräftewanderungen (von der Landwirtschaft in die Industrie) beschreiben das inputgetriebene Wachstum Chinas. Die Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktivität beruht auf Privatisierungen von Land und Produktionsmitteln, der Aneignung und Adaption von im Ausland entwickeltem Know-how und den in China selbst realisierten technisch-organisatorischen Fortschritten.

Wie nachhaltig ist Chinas Wachstum?

Während sich also Chinas Wachstum inhaltlich eindeutig auf die ablaufenden Industrialisierungs-, Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse zurückführen lässt, ist die kritische Frage nach dem Beitrag des Produktivitätsanstiegs unter Wachstumsökonomen höchst strittig.4  Die Frage ist zentral: Im Fall eines kumulativen Wachstums der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit, der nicht von einer parallelen Zunahme von ökonomischer Effizienz begleitet wäre, müssten die Investitionen aufgrund des Gesetzes der abnehmenden Grenzerträge notwendigerweise zurückgehen und langfristig gegen Null tendieren. Skepsis in Bezug auf Chinas investitionsgetriebenes Wachstum ist hier durchaus angebracht. Wenn auch die Messergebnisse nicht eindeutig sind, so macht die Wachstumstheorie den kritischen Punkt Nachhaltigkeit (von Chinas Wachstum) deutlich. Offen sind folgende Fragen: Ist der Wachstumsbeitrag des Faktors Arbeit auch nach 2015 noch positiv, wenn die demografische Dividende5 weggefallen ist? Wie effizient sind eigentlich die Bruttoanlageinvestitionen der großen Staatsunternehmen? Müssen nicht angesichts der niedrigen Kreditzinsen gigantische Fehlallokationen befürchtet werden? Und kann es China gelingen, nicht nur erfolgreich Technologie aus dem Ausland zu adaptieren, sondern auch selbst technischen Fortschritt zu generieren?6
Im Augenblick darf man in Bezug auf Chinas Wachstum allerdings durchaus optimistisch sein. Die Chancen stehen gut, dass es sich noch geraume Zeit fortsetzen wird, selbst wenn die Demografie künftig als Wachstumsbremse wirken sollte. Das Potenzial für nachholendes, auf Inputkumulation basierendes Wachstum, ähnlich wie vormals in Japan, Südkorea und Taiwan, ist reichlich vorhanden. Weiterhin sind beträchtliche Produktivitätsgewinne realisierbar. Chinas großer dynamisch expandierender Heimmarkt wird auch in Zukunft ein Wettbewerbsvorteil sein: Die Binnennachfrage wird die Entstehung leistungsfähiger, global agierender Großunternehmen anstoßen, für intensiven Wettbewerb sorgen und industrielle Innovationen stimulieren. China, das bereits heute der weltweit größte Stahl- und Kraftfahrzeugproduzent ist, wird immer mehr zum Standort kapital- und wertschöpfungsintensiver Fertigungen werden.7

Neue Führungskräfte, neue Schwerpunkte

Es wäre aber leichtfertig davon auszugehen, dass Chinas künftige Entwicklung gradlinig dem bisherigen Verlauf weiter folgen wird. Politische und ökonomische Trendbrüche sind eher wahrscheinlich. Auf der politischen Ebene dürfte die kommende fünfte Führungsgeneration nach ihrem Machtantritt auf dem 18. Parteitag im nächsten Jahr wohl neue Prioritäten und Schwerpunkte setzen. Auf der wirtschaftlichen Ebene sind insbesondere die makroökonomische Verzerrung der Faktormärkte und die davon ausgehende investitionslastige Wachstumsstrategie problematisch.8  Sie hat eine historisch einmalige makroökonomische Schieflage entstehen lassen. Während in der vergangenen Dekade die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote von 36 auf 48 Prozent (erstes Halbjahr 2010) anstieg, ist die Konsumquote spiegelbildlich auf 36 Prozent gefallen.9  Dieser Prozess hat zwar zweistellige Wachstumsraten generiert, aber zu einem hohen Preis: Geringe (und abnehmende) Effizienz der Investitionen (insbesondere bei den Staatsunternehmen), Entstehung von Überkapazitäten, Verschwendung von Energie, Ressourcen und Kapital, Raubbau an der Umwelt,
zurückbleibendes Beschäftigungswachstum und eine verzögerte Einkommensentwicklung. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die wachsenden Widerstände des Auslands, das sich zu Recht durch die Subvention der Kapitalkosten in China, die Unterbewertung der chinesischen Währung und die Diskriminierung beim Marktzugang herausgefordert sieht.

Die bisherigen wirtschaftspolitischen Anstrengungen Chinas, auf einen gleichgewichtigen Wachstumskurs einzuschwenken, sind fruchtlos geblieben. Weder die Abschaffung der antiquierten Landwirtschaftssteuer noch die massive Steigerung der Sozial- und Bildungsausgaben oder die Umsteuerung in der Kreditallokation haben eine nachhaltige Änderung bewirken können. Letztendlich wird wohl nur eine Anpassung der makroökonomischen Preise eine wirkliche wirtschaftspolitische Trendwende bringen: Kapitalkosten und Löhne müssten steigen, der Renminbi müsste aufwerten. Diese Maßnahmen hätten natürlich erhebliche Strukturanpassungskosten zur Folge und treffen daher auch auf vehemente innenpolitische Widerstände. Aber Chinas Staats- und Parteiführung bleibt eigentlich keine Wahl. Die Einhegung der sozialen Konflikte, die Bewältigung der Umweltprobleme, die Vermeidung von Schieflagen im Finanzsystem und wohl auch die dauerhafte Legitimation der Partei- und Staatsführung dürften nur über einen gleichgewichtigen Wachstumspfad gelingen. Tatsächlich wurden bereits 2010 mit dem Anstieg der Kreditzinsen, der Durchsetzung kräftiger Lohnerhöhungen im verarbeitenden Gewerbe und der Rückkehr zu einem „managed floating“ die ersten Anpassungsschritte vollzogen. Und der neue Fünfjahresplan (2011–2015) setzt die Priorität auf die Rückkehr zum gleichgewichtigen Wachstum und erstmalig nicht auf hohes Wirtschaftswachstum. Gelingt der chinesischen Wirtschaftspolitik aber nicht selbst der Wandel, werden früher oder später die Märkte die makroökonomischen Anpassungsprozesse erzwingen.

Der Aufstieg Chinas zur globalen politischen Macht ist in erster Linie seinem dauerhaft hohen Wirtschaftswachstum geschuldet. Es ist aus gegenwärtiger Sicht zwar ungewiss, ob es der kommenden Führungsgeneration gelingen wird, auf einen nachhaltigen Kurs umzusteuern. Aber selbst bei künftig flacheren gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten wird Chinas Gewicht in der Weltwirtschaft kontinuierlich wachsen. Damit wird auch globale Ordnungspolitik gegen China kaum noch möglich sein. Die EU und Japan, weniger die USA, müssen eine Marginalisierung befürchten.

Dr. HANNS GÜNTHER HILPERT ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Asien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

  • 1Siehe Shaohua Chen und Martin Ravallion: China is Poorer than we Thought, But No Less Successful in the Fight Against Poverty, Policy Research Working Paper Nr. 4621, The World Bank 2008, Washington D.C.
  • 2Stand zum Jahresende 2010.
  • 3Nach Berechnungen des Wirtschaftshistorikers Angus Maddison erwirtschaftete China 1820 ein Drittel des Weltsozialprodukts, siehe Angus Maddison: Chinese Economic Performance in the Long-Run, Paris, OECD Development Centre, 1998.
  • 4Illustriert sei dieser Punkt durch zwei kontroverse Beispiele: Laut Berechnungen von Barry Bosworth und Susan Collins beruhte in der Periode 1978–2004 3,7 Prozent des jährlichen Wirtschaftswachstums (von durchschnittlich insgesamt 9,3 Prozent) auf Produktivitätsfortschritten. Die mit unterschiedlichen Daten- und Messkonzepten durchgeführten Berechnungen von Harry Wu für etwa den gleichen Zeitraum (1978–2008) gelangten mit einer Zuwachsrate von 0,3 Prozent (bei niedriger angesetztem Wirtschaftswachstum von durchschnittlich nur 7,2 Prozent) auf deutlich niedrigere Wachstumsbeiträge des technischen Fortschritts. Barry Bosworth und Susan M. Collins: Accounting for Growth: Comparing China and India, Journal of Economic Perspectives 1/2008, S. 45–66; Harry X. Wu: Accounting for China’s Growth in 1952–2008: China’s Growth Performance Debate Revisited with a Newly Constructed Data Set, RIETI Discussion Paper Series 11-E-003, Tokio, Januar 2011, S. 1–72.
  • 5Siehe die Erklärung in dem Beitrag von Steffen Angenendt und Wenke Apt, S. 62.
  • 6Siehe den Beitrag von Johannes Gabriel und Ewald Böhlke, S. 44–52.
  • 7Chi-hua Kwan: China as Number One, Tokyo, Toyo Keizai Inc. 2009.
  • 8Yiping Huang: China’s Great Ascendancy and Structural Risks: Consequences of Asymmetric Market Liberalisation, Asian-Pacific Economic Literature 1/2010, S. 65–85.
  • 9Michael Pettis: Chinese Consumption and the Japanese „sorpasso“, China Financial Markets (online) 10.8.2010, http://mpettis.com/2010/08/chinese-consumption-and-the-japanese-%e2%80 %9csorpasso%e2%80%9d/.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, April 2011, S. 34-38

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