Gegen den Strich

03. Jan. 2022

Gegen den Strich: Indo-Pazifik

Kaum eine Asien-Diskussion in Europa kam in den vergangenen Monaten ohne die Forderung aus, man benötige dringend eine umfassende Strategie für die Region. Höchste Zeit, einige Mythen und Meinungen auf den Prüfstand zu stellen. Dabei geht es um Werte, Wirtschaft und die Suche nach den idealen Partnern – und um die Frage, welches Asien denn überhaupt gemeint ist.

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Bild: Unzählige Autos warten vor einem Cosco-Frachter auf ihre Verschiffung
Keine Einbahnstraße: So wichtig der wirtschaftliche Austausch mit China für die Europäer sein mag, so sehr ist umgekehrt Peking für seine Entwicklung, Modernisierung und sein Wohlergehen auf eine gedeihliche Zusammenarbeit mit Europa angewiesen.
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„Das 21. Jahrhundert wird ein asiatisches sein“



Möglich – wenn man nur wüsste, was genau damit gemeint ist. Erstens wird nicht näher ausgeführt, an welche Region hier gedacht wird: Handelt es sich um Nordostasien (Japan, China, Korea), um Ostasien (Nordostasien + ASEAN/Südostasien), um Asien-Pazifik (Ostasien + Ozeanien + pazifisches Amerika) oder doch um das geografische Asien (Ostasien + Südasien + Westasien + Nordasien)? Oder geht es um den Indo-Pazifik – den bewusst vage gehaltenen strategischen Raum zwischen der Ostküste Afrikas und der Westküste Amerikas? Oder wird Asien mit China gleichgesetzt, also ein chinesisches Jahrhundert erwartet? Kurzum, wer vom asiatischen Jahrhundert spricht, sollte präzisieren, welches Asien denn gemeint ist, was zu Asien gehört und was nicht.



Zweitens bleibt rätselhaft, was denn die Prognose eines asiatischen 21. Jahrhunderts überhaupt aussagen soll. Handelt es sich um eine ökonomische Einschätzung, die sich auf Kriterien wie wirtschaftliche Leistungskraft, Wachstumsstärke, Wettbewerbsfähigkeit oder Innovationsvermögen bezieht? Könnte Asien künftig dominieren, wenn es darum geht, globale ordnungspolitische Regeln festzulegen? Wird sich Asien zum kulturellen und zivilisatorischen Trendsetter für die restliche Welt aufschwingen? Oder ist mit der Prognose eines asiatischen Jahrhunderts die Erwartung verbunden, dass ein wie auch immer definiertes Asien politisch wie auch militärisch die Welt beherrscht?



Wahrscheinlich führen alle Versuche einer inhaltlichen Präzisierung ohnehin in die Irre. Denn die These eines asiatischen 21. Jahrhunderts soll vor allem eine politische Botschaft aussenden: Es geht um die Selbstvergewisserung asiatischer und chinesischer Eliten, dass die Zeit Asiens gekommen sei und dass der Westen sich in einem unabwendbaren Abstieg befinde. Die Prognose vom Aufstieg Asiens wäre damit vor allem die Wiederholung des alten Slogans „Demise of the West, Rise of the Rest“. Für Amerika impliziert die These vom asiatischen Jahrhundert eine Rollenverteilung, wonach die USA nicht Teil der asiatischen Erfolgsgeschichte seien. Und an Europa richtet sich die Botschaft, dass sich der Alte Kontinent künftig etwas bescheiden solle.



Ist die These eines asiatischen Jahrhunderts also nur ein politischer Slogan? Nicht ganz. Harte Fakten untermauern die These, dass sich die wirtschaftlichen und politischen Gewichte vom atlantischen Raum in den Indo-Pazifik verschoben haben und dass dieser Trend auch noch geraume Zeit anhalten wird. Es sei nur darauf hingewiesen, dass Ostasien seit 1981 die Weltregion mit den alljährlich höchsten Wachstumsraten ist und dass seit 2020 alleine die beiden Großregionen Ostasien und Südasien mehr als die Hälfte der kaufkraftbereinigten Weltwirtschaftsleistung generieren.



Bemerkenswert ist, dass die großen Erfolge in der globalen Armutsbekämpfung vor allem in Asien erzielt wurden und werden, sodass heute schon etwa die Hälfte der Mittelschichten der Welt in Asien lebt. Auch geopolitisch stehen Asien beziehungsweise der Indo-Pazifik im Zentrum des Weltgeschehens. Der für die internationale Politik zentrale sino-amerikanische Großmächtekonflikt wird zuvorderst in Asien ausgetragen, und so liegt der Schwerpunkt der US-Außen- und Sicherheitspolitik inzwischen eindeutig im Indo-Pazifik.



Doch unbenommen der wachsenden geopolitischen und wirtschaftlichen Bedeutung Asiens wirkt die These eines asiatischen 21. Jahrhunderts ein bisschen wie aus der Zeit gefallen. Implizit wird damit nämlich unterstellt, dass regionale wirtschaftliche Leistungskraft, militärische Fähigkeiten und Großmachtpolitik die entscheidenden Faktoren der internationalen Politik seien. Völlig außer Acht gelassen werden die großen Herausforderungen wie die Bewältigung des Klimawandels, der Schutz vor globalen Pandemien, die Sicherung der Welternährung oder die Unterbindung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen.

Diese grundlegenden Menschheitsprobleme lassen sich aber nur in Koopera­tion lösen. Globale Führungsfähigkeit wird sich künftig vor allem bei der Bewältigung der globalen Probleme und Konflikte erweisen müssen. Der Zwang zur Zusammenarbeit wird Asien und die anderen Weltregionen zusammenführen, nicht in einem Wettstreit entzweien.



„Statt einseitig auf China zu setzen, sollte Europa mehr mit den demokratischen Ländern in der Region zusammenarbeiten“

Da ist was dran. Sicherlich wird China – angesichts seiner Größe und Gravitationskraft – bis auf Weiteres der natürliche Schwerpunkt des wirtschaftlichen Engagements Deutschlands und Europas in Asien bleiben. Aber Europas Industrie und Dienstleistungswirtschaft wären gut beraten, angesichts der von China ausgehenden Risiken und Bedrohungen stärker auf Diversifizierung zu setzen. Politisch sind die demokratischen Länder der Region ohnehin die für Europa naheliegenden Partner. Mit ihnen teilen wir unsere Werte; ihre Interessen sind den unseren ähnlich.



Aus zu großer Abhängigkeit vom chinesischen Markt sind substanzielle, schwer ausrechenbare betriebs- und volkswirtschaftliche Risiken erwachsen. So müssen in China tätige Unternehmen mit dem Zwang zum Technologieabfluss und Daten-Sharing klarkommen. Sie müssen sich durch die Zusammenarbeit mit dem Unterdrückungsapparat eines immer totalitärer auftretenden Regimes kompromittieren. Sie sind Regelverletzungen durch lokale Wettbewerber und den chinesischen Staat ausgesetzt und leiden unter einem unfairen Wettbewerb mit hochsubventionierten chinesischen Staatsunternehmen, in wachsendem Maße auch in Drittmärkten und in Europa.



Hinzu kommen politische Risiken. So muss die Wirtschaft befürchten, infolge politischer Friktionen mit Lieferboykotten, einem Importembargo oder individuellen Strafaktionen konfrontiert zu werden. Unternehmen aus Japan, Korea, Kanada, Australien, den Philippinen und jüngst Litauen können ein Lied davon singen.



Kurzum, die gewachsene ökonomische Interdependenz mit China hat sowohl Unternehmen als auch Staaten hochgradig verwundbar gemacht. Die adäquate Reaktion darauf sollte nicht das Heimholen von Produktion und Lieferketten sein, weil man sich dadurch nur selbst schädigt. Sinnvoller wäre eine Diversifizierung des wirtschaftlichen Engagements in der indo-pazifischen Region. Ein solches Vorgehen ist nicht nur für die Wirtschaft strategisch sinnvoll, es dient auch Deutschlands und Europas außenpolitischen Interessen in der Region.



Unternehmen können durch Diversifizierung die Resilienz ihrer Lieferketten stärken, ihren Absatzraum vergrößern und ihre wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Die Verwundbarkeiten gegenüber China wären nicht ganz so groß. Die Wirtschaft würde etwas wehrhafter sein gegenüber wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen Pekings, gegenüber politischem Druck und staatskapitalistischen Einflüssen. Politisch stärkt die Diversifizierung den handels- und außenpolitischen Einfluss Deutschlands und Europas in der Region. Mehr Präsenz in der Fläche bringt auch mehr Einflussmöglichkeiten. Ohnehin wird europäisches Engagement in der Region gerne gesehen, wirkt es doch der Gefahr einer einseitigen Abhängigkeit von China entgegen, sei sie wirtschaftlicher oder politischer Natur.



Etwas schräg mutet hingegen die Begründung für eine intensivere Zusammenarbeit mit den demokratischen Ländern Asiens an, der in dieser These mitschwingt. Der Zusatz „Statt einseitig auf China zu setzen“ unterschlägt, dass eine gute Zusammenarbeit mit den demokratischen Ländern der Region bereits existiert und dass Wirtschaft und Politik die von China ausgehenden Herausforderungen und Risiken längst erkannt und teilweise begonnen haben, umzusteuern. Die langjährige G7-Zusammenarbeit mit Japan, die Freihandelsabkommen mit Südkorea, Japan, Singapur und Vietnam, vor allem aber die erfolgreiche Marktbearbeitung des Indo-Pazifik-Raums durch deutsche Unternehmen geben davon beredtes Zeugnis. Leider sind all diese Maßnahmen und Schritte noch nicht ausreichend und kamen oft zu spät oder zu zögerlich.



„Aber wenn wir zu intensiv mit Pekings Nachbarn zusammenarbeiten, könnten wir unseren wichtigsten Wirtschaftspartner in Ostasien brüskieren“

Falsch. Richtig daran ist nur, dass China auch künftig als das Land mit der weltweit zweitgrößten Wirtschaftsleistung und dem größten Einzelbeitrag zum globalen Wirtschaftswachstum der natürliche Schwerpunkt des wirtschaftlichen Engagements in der Region bleiben dürfte. Es müsste schon zu extremen Trendbrüchen kommen, damit China nicht mehr Deutschlands und Europas wichtigster Handels- und Wirtschaftspartner in Asien wäre. Chinas herausragende Spitzenposition im Handels- und Wirtschaftsverkehr wird selbst dann Bestand haben, wenn die hohen Wachstumsraten der Volksrepublik in den kommenden Jahren – wie zu erwarten ist – nachhaltig abflachen und das Land sich im Zuge der jüngst verkündeten neuen Strategie der dualen Wirtschaftskreisläufe etwas vom internationalen Wirtschaftszusammenhang abkoppelt.



Falsch ist aber die Schlussfolgerung, die sich an dem alten Sprichwort orientiert, wonach man die Hand nicht beißen solle, die einen füttert. Diese Ermahnung könnte nur dann richtig sein, wenn mindestens drei notwendig zugrunde liegende Annahmen zutreffen. Diese Annahmen sind jedoch höchst fragwürdig, wenn nicht gänzlich falsch.



Die erste Annahme besagt, dass Deutschland von China hochgradig wirtschaftlich abhängig und daher auch entsprechend verwundbar sei. Implizit wird damit auch unterstellt, dass China bereit und imstande sei, der deutschen Wirtschaft Schaden zuzufügen. Nun ist es zweifellos richtig, dass der wirtschaftliche Austausch mit China einen bedeutsamen Beitrag zur deutschen Wertschöpfung leistet und damit auch im eigenen deutschen Interesse liegt. Etwa 10 Prozent des deutschen Exports gehen nach China. Deutsche Großunternehmen erwirtschaften teilweise mehr als ein Drittel ihres Konzernumsatzes in und mit China. Volkswagen beispielsweise verkauft nahezu jedes zweite Auto im Reich der Mitte.



Eine gewisse Abhängigkeit und Verwundbarkeit Deutschlands von China wird man also durchaus konstatieren müssen. Aber diese Abhängigkeit und Verwundbarkeit ist wechselseitig. Schließlich ist die EU die wichtigste Importquelle Chinas und der nach den USA zweitwichtigste Absatzmarkt. Etwa ein Drittel des chinesischen Technologieimports stammt aus Europa, überwiegend aus Deutschland.



Ähnlich wie in Europas Handels- und Wirtschaftsbeziehung zu den USA besitzt die EU also auch gegenüber China ihre eigenen Stärken und muss ein Diktat aus Peking nicht einfach so hinnehmen. Anzumerken ist ferner, dass das Narrativ der Abhängigkeit und Verwundbarkeit Deutschlands eines ist, das in erster Linie Peking bei der Durchsetzung der eigenen Interessen nützt. Daher wäre es richtig und auch angemessen, diesem für Peking nützlichen Narrativ entgegenzuhalten, dass China für seine Entwicklung, Modernisierung und Wohlergehen nach wie vor auf eine gedeihliche wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Europa angewiesen ist.



Fragwürdig ist zweitens die sehr allgemein gehaltene Annahme, dass eine zu intensive Zusammenarbeit mit Chinas Nachbarländern zum Schaden der Volksrepublik wäre und daher von China missbilligt würde. Wie kann es denn sein, dass eine Intensivierung des Außenwirtschaftsverkehrs und der weiteren wirtschaftlichen Kooperation mit Japan, Korea, Indien, Russland, der Mongolei und mit den ASEAN-Staaten überhaupt zum Schaden Chinas wäre? Ebenso wäre darzulegen, welchen Nachteil China durch eine intensivere politische Zusammenarbeit Deutschlands mit Chinas Nachbarstaaten erleiden würde.



Wie diese intensivere Zusammenarbeit aussehen soll, ist präzise in den Leitlinien der Bundesregierung zum Indo-Pazifik spezifiziert worden. Als Gestaltungsfelder genannt werden der Klima- und Umweltschutz, die Stärkung von Multilateralismus, Freihandel, Sicherheit und Stabilität sowie die Bereiche Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Digitalisierung, Kultur und Wissenschaft. Auch hier ist erklärungsbedürftig, wieso eine engere Zusammenarbeit mit den Nachbarländern Chinas in diesen Feldern zum Schaden Pekings wäre. Natürlich ist es richtig, dass die in den Leitlinien genannten politischen Ziele und Ambitionen Deutschlands nicht unbedingt die vorrangigen Interessen Chinas widerspiegeln. Aber es ist eben auch richtig, dass Deutschland und Europa ihre globalen Ziele und Ambitionen auch weltweit verfolgen sollten.



Drittens enthält die Aufforderung, Peking nicht zu brüskieren, die implizite Annahme, dass Chinas Wohlwollen nur durch vorauseilenden Gehorsam zu erlangen sei. Eine derartige Einschätzung von Mentalität und Kalkül der chinesischen Partei- und Staatsführung ist aber schlichtweg naiv und falsch. Tatsächlich dürfte Peking für vorauseilenden Gehorsam nur Verachtung übrighaben. Die leninistisch geschulten Kader der KPCh denken primär in Kategorien der Macht. Daher kann es im Umgang mit Peking nicht darum gehen, durch eigenes Verhalten Wohlwollen zu gewinnen. Aus Sicht Peking zählen allein beidseitige Vorteile („win-win“) und ­Verhandlungsstärke.



„Europa überschätzt sich. Weder seine Werte noch seine Machtpotenziale gelten in der Region allzu viel“

Wirklich? Ob Europa sich über- oder unterschätzt in seinem Auftreten in der indo-pazifischen Region, liegt wohl eher im Auge des Betrachters. Für beide Einschätzungen gibt es gute Begründungen. Europa würde sich überschätzen, wenn es davon ausginge, es könnte China oder auch andere Staaten der Region durch politischen Druck oder moralische Belehrungen verändern. Europa würde sich aber unterschätzen, wenn es glauben würde, es hätte überhaupt keinen Einfluss und gar keine Einwirkungsmöglichkeiten.



Richtig ist, dass Deutschland und Europa als geografische Außenseiter in der Region nur über beschränkte sicherheitspolitische Einflussmöglichkeiten verfügen. Außenpolitischer Einfluss gründet sich aber auf weit mehr als militärische Hard Power. Tatsächlich verfügt Europa über wirkungsvolle Instrumente, Fähigkeiten und Ressourcen der Einflussnahme.  

Da wären etwa Handel und Wirtschaft, insbesondere der europäische Wirtschaftsraum. Sowohl der Marktzugang zum EU-Binnenmarkt als auch der Strom europäischer Direktinvestitionen und Technologie sind nach wie vor unverzichtbare Treiber von wirtschaftlicher Entwicklung, Modernisierung und Wirtschaftswachstum für die Region. Der EU-Binnenmarkt verleiht Europa als Handels- und Regulierungsmacht auch in Asien erhebliches Gewicht, etwa bei der Fortentwicklung der globalen Handelsregeln, bei der Gestaltung industrieller Normen und Regulierungen, bei der Definition von Datensicherheit und -schutz. Und sogar in der Sicherheitspolitik kann Europa seine Muskeln spielen lassen – etwa, indem die EU die Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres und des Indischen Ozeans durch militärische Trainingsmaßnahmen oder Rüstungsexporte unterstützt.



Hinzu kommt, dass die Länder der Region europäische Entwicklungs- und Modernisierungsbeiträge wünschen und auch einfordern. Das gilt insbesondere für die Bereiche ­Außenpolitik, Diplomatie, Recht, Entwicklungszusammenarbeit und Technologie, hier vor allem für Grundlagenforschung und industrielle Anwendungstechnologien.



Auch Werte sind last not least ein wertvolles Aktivum für Europas Außenpolitik. Sicherlich kollidieren westliche Normen mit den Machtansprüchen autoritärer Regime und werden von ihnen bewusst in Zweifel gezogen. Gleichwohl besitzen Freiheits- und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als politische Gestaltungsprinzipien auch in Asien eine hohe Attraktivität. Diese gemeinsame Wertebasis sollte man da, wo sie existiert, nicht schlechtreden. Vielmehr kann man sie dort, wo es angebracht ist, konstruktiv als politisches Einflussinstrument einsetzen.



„Eine aktive Menschenrechtspolitik gegenüber China birgt jede Menge innerer Widersprüche“

Das stimmt. Es heißt aber nicht, dass Europa diese Politik auf­geben sollte. Der wiederkehrende Konflikt zwischen einer an Idealen orientierten Menschenrechtspolitik und einer am Erforderlichen ausgerichteten Realpolitik ist nur allzu ­bekannt. Europäische Menschenrechtspolitik gegenüber China ist aber zusätzlich mit besonderen Widersprüchen, Legitimitätsproblemen und Selbstzweifeln konfrontiert, auf die immer wieder hinzuweisen sich Peking nicht nehmen lässt.



Erstens hat der Westen selbst keine weiße Weste beim Thema Menschenrechte. Das gilt nicht nur historisch mit Blick auf Sklaverei, Kolonialismus und Völkermorde, sondern reicht bis in die ­Gegenwart – Abu Ghraib, Flüchtlingskrisen, Black Lives Matter.



Zweitens werden Menschenrechte immer wieder außen- und innenpolitisch instrumentalisiert. So richten sich die Vorwürfe des Westens vor allem an Gegner und Rivalen, nicht aber an Verbündete oder regionale Stabilitätsanker wie etwa die Golfstaaten oder Ägypten. Und in der Tat findet ein Abwägungsprozess statt zwischen dem langfristigen strategischen Interesse an der weltweiten Durchsetzung von Menschenrechten und dem kurzfristigen Interesse an regionaler Stabilität. Innenpolitisch geht es bei Menschenrechtsfragen immer auch um Erwartungen und Präferenzen des Wahlvolks, um öffentlichkeitswirksame Inszenierungen.



Und drittens scheint im Falle Chinas bislang keine der angewandten Politikmaßnahmen nachhaltigen Erfolg zu haben: öffentlichkeitswirksame Kritik, stille Diplomatie, politische Sanktionen, das Engagement von Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, Menschenrechtsdialoge, Rechtsstaatsdialoge. Ein echter Durchbruch ist nicht sichtbar, im Gegenteil: Seit dem Amtsantritt von Xi Jinping 2012 müssen wir eine Verhärtung konstatieren.



Trotz all dieser Dilemmata und teils durchaus berechtigter Selbstzweifel sollte die westliche Menschenrechtspolitik gegenüber der politischen Großmacht und dem lukrativen Wirtschaftspartner China fortgesetzt werden. Dafür sprechen mindestens drei Gründe: Erstens ist es um die Lage der Menschenrechte in China wirklich besorgniserregend bestellt: Einschränkung von Meinungs- und Religionsfreiheit, Medien- und Internetzensur, willkürliche Verhaftungen, Todesstrafe, Folter, Umerziehungslager, die Unterdrückung ethnischer Minderheiten in Tibet, Xinjiang und der Inneren Mongolei sind nur einige Beispiele. Die systematische und massenhafte Inhaftierung von Uiguren und Kasachen und die damit verbundene Ausübung von Folter, sexueller Gewalt und Zwangssterilisierungen sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.



Zweitens sind Menschenrechte kein Nebenschauplatz der Außenpolitik. Menschenrechte sind der normative Kern dessen, was den Westen ausmacht. Die Erklärung der Menschenrechte, historisch erstmalig bei der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten und in der Französischen Revolution, sind das historische Projekt des Westens. Diese Normen kollidieren aber mit dem totalitären Machtanspruch der Kommunistischen Partei Chinas, die nicht nur Menschenrechte, sondern das ganze Recht primär als ein Instrument des Machterhalts und der Machtausübung betrachtet. Der Westen verlöre seine politische Glaubwürdigkeit, vielleicht sogar seine innere Balance, wenn er auf die politische Selbstverpflichtung verzichtete, für Menschenrechte weltweit einzutreten, und den universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte aufgäbe.



Drittens wäre das Schweigen gegenüber Chinas Menschenrechtsverletzungen nicht nur beschämend, es würde Peking auch darin bestärken und ermutigen, gegen kritische Meinungsäußerungen auch im Ausland vorzugehen und ausländische Regierungen dazu aufzufordern, die Pressefreiheit zu unterdrücken. Menschenrechtspolitik gegenüber China ist damit gleichsam ein Schutz der eigenen Freiheiten. Europa ist prädestiniert dafür, die Menschenrechtsfrage gegenüber China offenzuhalten und zu vertreten. Denn anders als die Vereinigten Staaten ist Europa nicht der geopolitische Rivale Chinas. Damit besitzt es eine höhere Glaubwürdigkeit in der Verteidigung universeller Menschenrechte.  



Dr. Hanns Günther Hilpert ist Leiter der Forschungsgruppe Asien in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 112-117

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