China in der Klimakrise
China soll grüner werden. Mit dem Schutz des Planeten aber hat das viel weniger zu tun als mit Interessenpolitik und Machterhalt in Peking. Europa stellt dies vor enorme Heraus- forderungen – es darf die Kontrolle über die industriellen und technologischen Hebel nicht verlieren, mit denen das globale Energiesystem transformiert wird.
Klimaschutz ist wichtiger als Politik“, sagte John Kerry bei seinem jüngsten Besuch in Tianjin Anfang September. Amerikas oberster Klimaschützer warb erneut um Zusammenarbeit zwischen den USA und China beim Kampf gegen die Erderwärmung. In Chinas Führungsriege um Staats- und Parteichef Xi Jinping scheint man dies jedoch anders zu sehen: Klimaschutz ist Politik. Und damit wird die Sache kompliziert.
Viele Jahre hat Europa mal mehr und mal weniger gemeinsam mit den transatlantischen Partnern versucht, China dazu zu bewegen, sich ambitionierte Klimaziele zu setzen und seine Emissionen zu reduzieren. Die Tatsache, dass Europa die wirtschaftliche Logik des Klimaschutzes durch klare Zielvorgaben verändert hat, hat die internationale Dekarbonisierungs-Debatte seit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 geprägt.
Im September 2020 war es so weit: In einer Rede vor der UN-Generalversammlung erklärte Xi, China wolle bis spätestens 2030 den Punkt des höchsten Kohlendioxidausstoßes überwinden und dann bis 2060 gänzlich CO2-neutral wirtschaften. Die Ankündigung kam überraschend.
Schnell begannen die Spekulationen darüber, wie ernst es Xi sei. Ferne Ziele ohne verlässlichen Umsetzungsplan, mangelnde Klarheit im folgenden Fünfjahresplan und die Ankündigung neuer Kohlekraftwerke, die den postpandemischen Aufschwung beschleunigen sollen, all dies sprach vordergründig eine andere Sprache. Blufft Peking? Versucht es lediglich, Konzessionen in anderen Politikbereichen zu erzwingen und nebenbei sein internationales Image aufzupolieren?
Aus den USA wurden Warnungen laut, dass wahrer Klimaschutz anders aussehe und China eine tatsächliche Emissionsreduktion durch Zugeständnisse bei politischen Streitthemen erkaufen wolle. Nur harter Wettbewerb und Zwangsmaßnahmen wie Grenzzölle würden Peking zum Handeln zwingen.
Auch in Europa, wo man sich wie in kaum einer anderen Weltgegend die Vorreiterrolle bei der grünen Transformation auf die Fahnen geschrieben hat, ist die Skepsis groß, dass Peking seine langfristig gesteckten Ziele mit der derzeitigen Politik erreichen kann oder will. Dennoch werden Partnerschaft und multilaterale Kooperation in Klimafragen weiterhin großgeschrieben, müsse doch China schneller seine Emissionen reduzieren.
Es sind nur wenige Felder geblieben, in denen Europa glaubt, mit China einen gemeinsamen Nenner zu finden. Man brauche Pekings Kooperationsbereitschaft als weltweit größten Emittenten eben dringend für wirksamen Klimaschutz, lautet das Mantra. Doch auch an dieser Logik werden Zweifel laut: Wieviel Zusammenarbeit ist mit Xis China bei der Bewältigung der Klimakrise noch möglich?
Peking setzt auf eine Doppelstrategie
Es lohnt sich der genauere Blick. Denn was in China tatsächlich passiert, ist komplexer als „Klimaschutz ja oder nein“. Xi setzt auf eine Doppelstrategie: Kurzfristiges Wachstum nach Corona, dazu keine zu strenge Festlegung auf klare Ziele, um politischen Spielraum zu erhalten – aber parallel dazu eben auch eine umfangreiche Dekarbonisierungs-Initiative, getrieben durch die Politik, verstärkt durch den Markt.
China soll grüner werden. Aber nicht deshalb, weil die Kommunistische Partei über Nacht zum globalen Klimaretter mutiert wäre und sich die Begrenzung der Erderwärmung zum Schutz des Planeten zum Ziel gemacht hätte. Xis Handeln ist innenpolitisch motiviert und von klarer Interessenpolitik getrieben. Die absehbaren Kosten des Klimawandels können wirtschaftliches Wachstum vernichten und vor allem Küstenregionen in ihrer Existenz gefährden. Zudem birgt eine Häufung extremer Wetterereignisse, Fluten oder Dürren gesellschaftliches Sprengpotenzial. Klimaschutz wird damit zu einem Faktor für den Machterhalt der Kommunistischen Partei. China ist bei einem Anstieg der globalen Temperatur direkt betroffen, und es ist verwundbar. Das allein würde für einen nachhaltigen Politikwandel vermutlich nicht reichen, außerdem sind diese Tatsachen seit Jahren bekannt. Die Dekarbonisierungs-Logik fügt sich allerdings inzwischen gut in die strategische Neuausrichtung Pekings ein: China soll unabhängiger von der Welt werden, die Welt aber abhängiger von China.
Die Covid-19-Pandemie wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Viele weltweite Verbindungen sind gekappt, Manager aus dem Ausland können kaum einreisen. Internationale Konzerne müssen chinesischer werden, um sich Marktanteile zu sichern und lukrative Verträge mit wichtigen Staatsunternehmen zu sichern. Aktives Umsteuern weg von fossilen Brennstoffen erhöht mittel- bis langfristig Chinas Energieautonomie. Chinas Energieverbrauch hat sich in den vergangenen 20 Jahren etwa verdreifacht. Die Größe des chinesischen Marktes wird sogar bei einem weit geringeren Wachstum als derzeit 6 Prozent ohne massive Effizienzsteigerung für eine weitere Vervielfachung sorgen. Die Dimension der Herausforderung ist enorm.
Dazu kommt nach den Netto-Null-Zusagen Europas, der USA, Japans und auch Koreas nun noch eine überzeugende Marktlogik: Grüne Technologien sind Zukunftstechnologien, lukrative Exportgüter mit stark wachsender Nachfrage. Das Gleiche gilt für nachhaltige Produktion. Wenn China zum Ziel hat, essenzieller Teil der globalen Lieferkette in der Fertigung zu bleiben, wird dies ohne ein zügiges Umstellen auf grüne Energie und Technologie nicht funktionieren.
Druck der Tech-Riesen
Druck kommt hier nicht nur von amerikanischen Technologie-Riesen wie Apple, die trotz Selbstverpflichtung zur Klimaneutralität bis 2030 gern weiter in China produzieren wollen, sondern auch aus dem heimischen Sektor. Auch deutsche Konzerne spielen eine Rolle. Erst vor wenigen Monaten sicherte sich BASF für den neuen Verbundstandort in Zhanjiang in Zusammenarbeit mit den lokalen Versorgern Zugang zu 100 Prozent erneuerbarer Energie für die Produktion vor Ort.
Guangdong wird den derzeit noch deutlich mehrheitlichen Anteil fossiler Energieträger am Energiemix zurückfahren – weil die Politik, aber eben auch der Markt es so wollen. Die südchinesische Provinz plant, schon bis Ende 2021 vier Gigawatt Offshore Windkraft zu installieren und dies bis Ende 2025 auf 18 Gigawatt auszubauen. Zum Vergleich: In Deutschland waren bis Ende 2020 insgesamt 7,7 Gigawatt Offshore Windkraft installiert; bis 2030 sollen es bis zu 20 Gigawatt werden.
Für den Produktionsstandort China ist die Umsetzung der Vorhaben eine riesige Herausforderung. Peking muss weg vom Fokus auf installierte Megawatt im Bereich der Windkraft und hin zur tatsächlichen Einspeisung von Megawattstunden grünen Stroms in moderne Netze. Das ist alles leichter gesagt als getan: China ist und bleibt weiterhin stark von Kohlekraft abhängig. Die derzeitigen Energieausfälle aufgrund des hohen Kohlepreises zeigen dies deutlich.
Laut einem jüngst erschienenen Bericht des Klima-Thinktanks E3G bleibt es schwierig, die Linie der Zentralregierung eins zu eins auf Provinzebene umgesetzt zu finden. Arbeitsplätze in der Kohleindustrie zu sichern, kurzfristiges Wachstum zu garantieren und gleichzeitig die Transformation zu einer Low-carbon Economy schaffen, wird auch für die chinesische Regierung kein Kinderspiel. Peking setzt derzeit Kurs nicht nur auf Energie aus Wind, Wasser und Sonne zur Emissionsreduktion, sondern auch auf Nuklearkraft.
Im September beginnt der Test eines neuen, noch recht kleinen Thorium-Flüssigsalz-Reaktors, der vermeintlich „saubere“ und effizientere Nuklearenergie verspricht. Die Technologie ist nicht vollständig neu, konnte sich am Markt aber noch nicht durchsetzen. Der Standort, der Rand der Wüste Gobi, macht die Vorteile der Flüssigsalz-Kühlung deutlich. Eine Nähe zu Flüssen oder zum Meer ist nicht notwendig. Ein Erfolg der Technologie ist indes alles andere als garantiert, auch die Frage nach der Endlagerung des radioaktiven Materials bleibt ungeklärt. Dennoch ist dies ein Beispiel dafür, dass die chinesische Führung mit allem, was die Wissenschaft zu bieten hat, experimentiert, dass sie massiv investiert – und dass eine wirklich grüne Transformation der Wirtschaft nicht dasselbe ist wie ein reiner Fokus auf Dekarbonisierung.
Es wäre deshalb leichtsinnig, die chinesischen Ambitionen nicht ernst zu nehmen. Gerade weil kein überwölbendes ideologisches Ziel hinter der neuen Politik steht, sondern ökonomische Logik, Sicherheit und Machterhalt, ist der Erfolgsdruck hoch. Dies erinnert an den Moment, an dem Xi Jinping im Jahr 2013 in Kasachstan den Startschuss für die Belt and Road Initiative (BRI) gab. Was als eurasische Vision zu beginnen schien, wurde innerhalb kurzer Zeit ein globales Projekt, das Chinas Machtprojektion – politisch und ökonomisch – signifikant erweitert hat. Die USA und Europa versuchen inzwischen seit Jahren beinahe krampfhaft, die richtige Antwort darauf zu finden. Noch ist dies nicht überzeugend gelungen.
Gleichzeitig ist die BRI auch für den Klimaschutz von hoher Relevanz. Chinas Investitionen in Energie und Infrastruktur von Zentralasien über den Westbalkan bis Afrika und Lateinamerika gestalten hier die Zukunft der Wirtschaft global mit. Laut Xis jüngster Ankündigung bei der UN-Generalversammlung im September 2021 wird China künftig keine neuen Kohlekraftwerke im Ausland mehr bauen und finanzieren. Dies ist erneut ein deutliches Signal.
Chinas Erfolg bei der Dekarbonisierung im eigenen Land und als globaler Investor ist eine Grundbedingung, um noch eine Chance zu haben, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Europa sollte alles dafür tun, dass dies erreicht wird. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstrich dies in ihrer „State of the Union“-Rede im September erneut: „Die Welt wäre erleichtert, wenn China zeigen würde, dass die Emissionen schon bis zur Mitte dieses Jahrzehnts ihren Höchststand erreichten und sich von der Kohle, daheim und auf internationaler Ebene, verabschieden würde.“ Der Ansatz ist richtig und wichtig – und führt trotzdem zu fundamentalen Zielkonflikten.
In Berlin beschworen die Bewerberin und die Bewerber um die Nachfolge im Kanzleramt den magischen Geist des grünen Wachstums. Sie projizierten dorthinein nicht nur eine verantwortungsvolle Politik als Antwort auf den Klimawandel, sondern auch eine Chance für Deutschland und Europa, sich wirtschaftliche Vorteile durch technologischen Fortschritt und schnelles Handeln in der grünen Wirtschaft von morgen zu sichern.
Entgegen der Hoffnung, die sich aus Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation vor 20 Jahren ergab, ist Chinas Wirtschaft weiterhin weit davon entfernt, eine offene Marktwirtschaft zu sein. Bei der Energieversorgung spielt staatliches Handeln eine große Rolle – nicht nur in China. Die Steuerungsmöglichkeiten, die sich daraus auf dem riesigen chinesischen Binnenmarkt ergeben, sind enorm. China verzeichnet Rekordzuwächse bei Wind- und Solaranlagen, und chinesische Konzerne dominieren dieses Feld immer stärker. Sie beherrschen den chinesischen Markt bereits so stark, dass europäische Hersteller wie Siemens Gamesa sich vollständig aus dem Onshore-Geschäft zurückziehen. China sei „ein Markt für heimische Hersteller“, so die Feststellung. Fairer Wettbewerb – Fehlanzeige.
Europäische Konzerne werden langfristig große Probleme damit haben, mehr als eine Randnotiz im Feld der erneuerbaren Energieversorgung in China zu sein. Wenn aber chinesische Anbieter hier und bei anderen grünen Technologien von Elektromobilität bis zu Batterietechnologien den geschützten heimischen Markt dominieren, ergibt sich daraus ein signifikanter Wettbewerbsvorteil, der so einfach nicht aufzulösen ist. Dazu kommt ein folgenschwerer Effekt: Gestärkt durch den fehlenden Wettbewerb daheim verdrängen chinesische Konzerne auf dem globalen Markt die internationale Konkurrenz.
Nun kann man argumentieren, dass es ein enormer Verdienst sei, wenn günstig in aller Welt Solaranlagen verbaut werden können, wenn Windparks on- und offshore zu deutlich geringeren Preisen aufgestellt und vielleicht auch mit dem vollen Servicepaket gewartet werden können. Das Klima freut sich; europäische Konzerne aber werden die Konsequenzen spüren.
Ein grüneres, autoritär geführtes China, das immer weiter von der Idee einer echten Marktwirtschaft und fairem internationalen Wettbewerb abrückt und aggressiv die eigenen Interessen vertritt, ist ein Szenario, das neue Fragen aufwirft, die an die jüngsten Diskussionen um chinesische 5G-Anbieter von Telekommunikationsinfrastruktur erinnern. Wie kann die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Anbieter gesichert werden, ohne in einen Subventionswettstreit zu treten? Welche Technologien muss Europa für seine kritischen Infrastrukturen und mit Blick auf seine strategische Souveränität selbst erhalten? Wo können Kooperationen mit Partnern im Indo-Pazifik transatlantisch notwendige Synergien ergeben, um im Wettstreit um Technologieführerschaft und Marktanteile zu bestehen? Was bedeutet Energiesicherheit im Zeitalter erneuerbarer Energien? Wie können Pfadabhängigkeiten verringert werden?
Deutschlands Führungsrolle
Antworten wird die Europäische Union zwar gemeinsam finden müssen, gleichwohl kommt einer neuen Bundesregierung eine Führungsrolle zu. Es ist leider nicht schwer, sich politische Spannungen in und zwischen den EU-Mitgliedstaaten auszumalen, die eine einheitliche und gemeinsame Politik noch komplizierter machen werden.
Die einzige Möglichkeit, den Zielkonflikt aufzulösen, wird für Europa darin bestehen, China in der Transformation seiner Wirtschaft zu bestärken und gleichzeitig grüne Technologien als strategische Ressource zu definieren. Dafür braucht es einen klugen Mix aus drei Komponenten: erstens aus Industriepolitik, um die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Industrie zu erhöhen; zweitens Schutzmechanismen, um diese zu erhalten; drittens enge Kooperation mit Partnern im Indo-Pazifik und transatlantisch, um gemeinsam Standards zu setzen und Märkte zu erschließen.
Europa kann sich nicht auf vergangenen Erfolgen ausruhen. Es kann es sich nicht leisten, den Anschluss bei grünen Technologien zu verlieren. Hier muss strategisch investiert werden – dies gilt für Forschung und Entwicklung ebenso wie für Ausbildung und Training.
Digitalisierung und grüne Transformation müssen auf europäischer Ebene genauso vernetzt gedacht werden wie die Indo-Pazifik-Strategie oder die Konnektivitätspolitik im Rahmen von Europas neuer „Global Gateway“-Initiative. Denn wirksamer globaler Klimaschutz wird nicht mit dem Erhalt europäischer Prosperität einhergehen, wenn China die wichtigsten industriellen und technologischen Hebel kontrolliert, die für die Transformation des globalen Energiesystems erforderlich sind.
Dr. Janka Oertel leitet in Berlin das Asien-Programm des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR).
Internationale Politik Special 6, November 2021, S. 54-60
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