Bohrende Fragen
Der Wind im Nahen Osten hat sich gedreht. Doch trotz der Freilassung der letzten von der Hamas festgehaltenen israelischen Geiseln: Ein stabiler Frieden braucht mehr als Trumps 20-Punkte-Plan – das gilt sowohl für die Region als auch für Israel im Innern. Lange hat sich Netanjahus Regierung wenig um das Ansehen des Landes in der Welt geschert, aber sehr wohl versucht, dem eigenen Volk den Krieg in Gaza als einen moralischen zu verkaufen. Dass das zu Lasten der Pressefreiheit geschieht, ist kein Geheimnis. Dabei war das Verhältnis von Medien und Öffentlichkeit nie ganz einfach.
Die zehn Tage zwischen dem Neujahrsfest Rosch ha-Schana und dem Versöhnungstag Jom Kippur Anfang Oktober gelten im Judentum als Tage der Reue und Umkehr. Für gläubige Juden ist es die Zeit, sich mit ihren Sünden auseinanderzusetzen. Für alle anderen zumindest ein Anlass zu Ruhe und Reflexion. Der Journalist und Autor Yossi Klein Halevi nimmt die Hohen Feiertage zum Anlass, um seine jüdischen Landsleute aufzufordern, sich endlich als Gemeinschaft einigen sehr unangenehmen Fragen zu stellen, welche die bisher wohl komplexesten Dilemmata der jüdischen Geschichte darstellten und auf keinen Fall einem eindimensionalen Diskurs überlassen werden dürften.
Es gehe nicht darum, der Hamas oder antisemitischen Protestgruppen Futter zu geben, beschwichtigt er seine Leser, sondern darum, die moralische Glaubwürdigkeit als Volk zu wahren, gemäß jüdischer und zionistischer Werte – und damit ganz im Gegenteil die Terroristen zu entwaffnen, die den Judenstaat am 7. Oktober 2023 so brutal attackiert haben und ihrerseits die Moralvorstellungen der Welt instrumentalisieren.
Die Fragen, die er im Newsletter der Times of Israel als Hausaufgabe für die Feiertage stellte, entsprechen den Fragen, mit denen derzeit die ganze Welt auf den Konflikt blickt.
Es geht um die Hungerkrise und die Zerstörung in Gaza; um die vielen zivilen palästinensischen Opfer; um Kriegsverbrechen durch die israelische Armee; um die fehlende Untersuchung dieser Verbrechen; um die Legitimation für einen Krieg, der längst nichts mehr mit dem Recht auf Selbstverteidigung zu tun hat; einen Plan für danach. Und auch darum, ob das eigene Trauma durch den 7. Oktober und die andauernde Sorge um die israelischen Geiseln die Gesellschaft in ihrem Denken und Handeln verroht hat.
Im Zusammenhang mit der Hungerkatastrophe in Gaza feuert Halevi gleich noch eine Frage nach: „Wieso haben wir, die israelische Öffentlichkeit, so lange dazu geschwiegen?“
Die linksgerichtete Tageszeitung Haaretz – eines der wenigen israelischen Medien, die durchgehend über das Leiden der Palästinenser sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland berichtet – hatte darauf schon im Mai eine Antwort: „Die meisten Israelis sind sich nicht bewusst, was in Gaza vor sich geht und was in ihrem Namen getan wird. Und einer der Hauptschuldigen an dieser Vertuschung, die so verheerende Folgen hat, sind die Mainstream-Medien in Israel.“
Die Kommentatorin Anat Saragusti, die in Israels Journalisten-Union für das Thema Pressefreiheit zuständig ist, klagt diese Mainstream-Medien an. Damit sind in Israel vor allem die Fernsehsender gemeint, die ihren Job nicht machen: Die Zuschauer würden nicht über die tatsächliche Lage informiert. Ein seltener Moment, schreibt sie, seien die schrecklichen Bilder gewesen, die gezeigt wurden, nachdem bei einem israelischen Luftangriff in Khan Yunis neun der zehn Kinder der Familie al-Najjar umkamen.
Doch selbst bei so einer Tragödie konzentrierten sich die Fernsehkommentatoren darauf, dass Israel die internationale Bühne vernachlässigt habe und es nicht gelungen sei, der Weltgemeinschaft die „israelische Seite“ zu vermitteln.
Natürlich, schreibt Anat Saragusti, könnten sich Israelis ihre Informationen auf anderen Kanälen besorgen, aber die meisten machten es eben nicht; offen sei, ob das daran liegt, dass sie zu tief in ihrem eigenen Trauma und Kriegserleben steckten oder weil sie überzeugt sind, dass es in Gaza keine unschuldigen Palästinenser gibt.
Es ist kein Geheimnis, dass Israels Medienlandschaft unter ständiger Attacke und Bedrohung von Zensur oder Sanktionen durch die Netanjahu-Regierung steht. Einer, der sich dazu immer wieder äußert, ist der Autor Oren Persico. Er gehört zur Redaktion der unabhängigen Website The Seventh Eye, die im Namen der journalistischen Transparenz die israelischen Medien durchkämmt und kommentiert.
So soll beispielsweise der öffentlich-rechtliche Sender Channel 11, bekannt unter anderem für hochwertige Dokumentationen, demnächst privatisiert werden. In der Netanjahu-Regierung wird er als „Propagandasender“ bezeichnet, der „der nationalen Moral des Staates Israel schadet“.
Gegen Haaretz wurde im November 2024 ein wirtschaftlicher Boykott verhängt. Netanjahu persönlich rief Zuschauer und Werbekunden des Nachrichtensenders Channel 12 zum Boykott auf und bezichtigte ihn, „Fake News“ und Antisemitismus zu verbreiten. Unter einer neuen, Netanjahu nahestehenden Nachrichtenchefin wurde zuvor eine investigative Sendung auf Channel 13 abgesetzt. Der verantwortliche Journalist hatte in der Vergangenheit Skandale rund um den Premierminister und andere Politiker aufgedeckt.
Channel 14 dagegen gilt bereits seit langer Zeit als Haussender des Regierungschefs: Die Palästinenser finden hier nur als Ziel nationalistischer und rechtsextremer Äußerungen statt.
Ein direktes Sprachrohr der Regierung stellt auch die Tageszeitung Israel Hayom dar. Sie wird gratis verteilt und entsprechend viel gelesen. Manche nennen sie sogar „Bibiton“, ein Sprachspiel aus dem Spitznamen des Premiers und dem hebräischen Wort für Zeitung.
Die arabische Presse innerhalb Israels dagegen zensiere sich selbst, schreibt Oren Persico – aus Angst vor Sanktionen durch die Regierung.
Ein später Sinneswandel
Es waren nur zwei kurze Kommentare, die Yonit Levi, Sprecherin einer der meistgesehenen Nachrichtensendungen Israels, Ende Juli im Abendprogramm des Channel 12 abgab. Die aber hatten es in sich. Haaretz wertete es als Zeichen, dass die moralische Verantwortung für die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen endlich auch in die Mainstream-Medien durchsickere. Der Kanal sendete einen Bericht über Israels anhaltenden Kampf, die globale Berichterstattung über den Gazastreifen zu beeinflussen. Es ging um die Herausforderungen, die es für proisraelische Aktivisten darstellt, sich zu den drastischen Bildern aus dem Gazastreifen zu äußern und Israels Vorgehen zu verteidigen.
Yonit Levi, die solche Berichte als Moderatorin normalerweise nur mit einem Einzeiler zusammenfasst, um zum nächsten Programmpunkt überzuleiten, kommentierte stattdessen: „Vielleicht ist es an der Zeit zu verstehen, dass es sich hier nicht um ein PR-Versagen handelt. Es ist ein moralisches Versagen, und dort müssen wir ansetzen.“ In derselben Sendung hatte sie bereits einen anderen Bericht, anscheinend unabgesprochen, kommentiert: Dabei ging es um humanitäre Hilfslieferungen im Gazastreifen und die Behauptung ihres Kollegen, die davon öffentlich gezeigten Bilder seien ein Sieg für die Hamas. Levi warf ein: „Es sieht nicht nur schlecht aus. Es ist schlecht.“
Laut Haaretz-Autorin Rachel Fink markierten ihre Äußerungen einen überraschenden Sinneswandel Levis, die sich öffentlich sonst weitgehend an die offizielle Narrative zum Gaza-Krieg gehalten habe. Von Seiten der rechten Anhänger der Regierung wurde sie daraufhin in sozialen Medien und Artikeln als „Hamas-Pressesprecherin“ denunziert.
Journalisten anderer Medien wiederum merkten den Widerspruch an, der zwischen Levis Kommentaren und der Haltung ihres eigenen Senders klafft. So kommentierte beispielsweise Einat Schiff, die ihrerseits für die große Tageszeitung Jediot Acharonot schreibt, sarkastisch: „Ein ungewöhnlicher Moment bei Channel 12 News. Vielleicht kennt sie eine einflussreiche und vielgesehene Sendung, die in der Angelegenheit helfen könnte.“
Dass endlich ein Wandel in der Berichterstattung stattfindet, schreibt Rachel Fink in Haaretz nicht nur dem Druck durch die weltweit wachsende Empörung über die humanitäre Lage im Gazastreifen zu, sondern der Arbeit von israelischen Protestgruppen – dabei allen voran der NGO Standing Together. Die arabisch-jüdische Organisation setzt sich seit Jahren für soziale Gerechtigkeit und Koexistenz innerhalb Israels sowie allgemein für Frieden mit den Palästinensern ein. Seit dem 7. Oktober gehört sie zu den treibenden Kräften der Proteste für die Freilassung der israelischen Geiseln und gegen den Krieg in Gaza.
Im August stürmten Mitglieder der Bewegung eine Live-Aufnahme der israelischen „Big Brother“-Show für Channel 13. Sie trugen T-Shirts mit der Aufschrift „Raus aus Gaza“ und riefen: „Der Krieg muss ein Ende haben, er bringt uns alle um.“ In einem Statement erklärte die NGO: „Während die Geiseln ihrem Tod überlassen werden und Kinder nur eine Autostunde von den Big Brother-Studios entfernt verhungern, berichten die Medien der Nation nicht, was in Gaza vor sich geht, sondern vermitteln den Bürgern, dass alles seinen gewohnten Gang geht.“
Gegen den Krieg oder für Gaza
Gideon Levy, der Leserschaft von Haaretz vor allem durch seine Berichte über die Lage der Palästinenser im besetzten Westjordanland bekannt, kritisierte in einem Meinungsstück auch Hunderttausende Israelis, die jede Woche in Tel Aviv gegen den Krieg demonstrieren. Wenn es sich um einen moralisch motivierten Protest handeln würde, müssten sich die Demonstrierenden nicht nur ein Ende des Krieges zugunsten der Rückkehr der Geiseln auf die Fahnen schreiben, sondern dabei gleichermaßen das Leiden der Palästinenser anprangern. Seiner Meinung nach stünde nur eine kleine, mutige Bewegung innerhalb der Proteste dafür ein, dass alle Menschen gleichermaßen schützenswert sind. Die große Masse sei zwar besser als die Regierung und ihre Anhänger, ignoriere aber die Tatsache, dass ihr Land unschuldige Menschen töte.
Mit der kleinen, mutigen Bewegung dürfte Gideon Levy die Aktivisten von Standing Together meinen, die im Juli mit Fotos hungernder Kinder aus Gaza in Tel Aviv auf die Straße gingen; auch in den großen wöchentlichen Protesten sichtet man inzwischen eine Gruppe von Demonstranten mit Porträts von getöteten palästinensischen Kindern. Alon Lee, Co-Direktor von Standing Together, sagte in einem Artikel, dass er durchaus eine Art Erwachen unter den Protestierenden sehe. „Die Leute verstehen, dass das Realität ist, dass es sich nicht um Propaganda handelt, wie manche Journalisten oder Politiker behaupten. Es herrscht Hunger.“
Auf dem englischen Instagram-Kanal der NGO, die mit 200 000 Followern inzwischen auch international vielen Menschen als Informationsquelle dient, fing die Organisation die Kritik an der Protestbewegung kürzlich mit einigen Slides ab: „Ja, viele Israelis unter uns protestieren hauptsächlich für die Geiseln – und genauso sieht eine breite Widerstandsbewegung aus.“ Es sei kein Vergehen, aus eigenem Interesse zu handeln. Es sei vielmehr der Schlüssel, um diese albtraumhafte Realität zu beenden.
Dass sich etwas tut im Umgang der israelischen Bürger mit ihrem moralischen Dilemma nach beinahe zwei Jahren Schockstarre – auch wenn es bei Weitem nicht genug sein mag –, zeigte sich über den Sommer nicht nur in den Mainstream-Medien. Kleine Signale waren es, die aber umso mehr Symbolkraft haben: So trommelte beispielsweise das israelische Modehaus „Comme il faut“ für eine Social-Media-Kampagne ein Dutzend Persönlichkeiten aus Israels kulinarischer Szene zusammen. Sie ließen sich mit leeren Kochtöpfen ablichten, um ein Zeichen gegen die Aushungerung des Gazastreifens zu setzen und hielten dabei buchstäblich ihre Köpfe hin. In Tel Aviv traten einige Musiker aus der Indie-Szene bei einem Fundraising-Konzert auf, um Geld für ein Hilfsprojekt im Gazastreifen zu sammeln.
Aus der Geschichte lernen
Zurück zu Yossi Klein Halevi, der die Feiertage zum Anlass nahm, seinen Lesern zu vergegenwärtigen, dass das israelische Volk sich an einem moralischen Scheideweg befindet. Bis zum Massaker durch die Hamas-Terroristen habe Israel zwei strategische Katastrophen erlebt: Die erste war der Jom-Kippur-Krieg 1973, als das Land von einem unter-
schätzten Feind überrascht wurde. Die zweite war der Libanon-Krieg 1982, als Übergriffe durch das israelische Militär die Nation spalteten und Israel seine moralische Glaubwürdigkeit sowohl bei Freunden im Ausland als auch innerhalb der Gesellschaft in Teilen verlor. Am 7. Oktober habe Israel eine noch schlimmere Version des Jom-Kippur-Krieges erlebt. Jetzt befürchte er, schreibt Halevi, dass eine weitaus schlimmere Version des Libanon-Krieges bevorstehe.
Es war der Vorabend des jüdischen Neujahrsfests 1982, als christliche Milizen im Libanon in dem Flüchtlingslager Sabra und Schatila Hunderte Palästinenser massakrierten. Israelische Soldaten bewachten die Lager, ohne zu wissen, was darin vor sich ging. Trotzdem, so Halevi, demonstrierten daraufhin Hunderttausende von Israelis und forderten eine Untersuchungskommission.
Die Kommission befand damals Verteidigungsminister Ariel Scharon für schuldig: Er hätte das Massaker vorhersehen müssen. Scharon wurde zum Rücktritt gezwungen. Auf diese Weise die Verantwortung für ein Massaker zu übernehmen, das Israel gar nicht selbst begangen hatte, das sei ein Höhepunkt in der moralischen Geschichte des Staates gewesen.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2025, S. 116-119
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