Brief aus...

29. Aug. 2022

Von Sirenen und wilden Hühnern

Der Krieg ist nun bis nach Tel Aviv gekommen, auch in „gemischte“ Orte, die zuvor für friedliche Koexistenz standen.

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Bild: Zeichnung eines Hochhauses in der Innenstadt von Tel Aviv
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Als ein Fernsehbericht letztens von Banden sprach, die durch die Straßen von Jaffa ziehen, ging es nicht um den Konflikt oder Clan-Fehden – sondern um Hähne. „Niemand kann sie kon­trollieren. Sie attackieren Kinder“, hieß es. „Es ist wirklich ein Dschungel da draußen“, sagte ein Anwohner. Ein jüdischer Anwohner, muss man hinzufügen. Denn natürlich geht es in Israel doch immer um den Konflikt …



So wollte ich eigentlich in diesen Text einsteigen, um zu erzählen, was Tel Aviv diesen Sommer weit mehr beschäftigt als das Scheitern der Regierung und die damit verbundene Sorge, dass ein korrupter Netanjahu wieder an die Macht kommt: nämlich die Mietpreise und Lebenshaltungskosten in einer der teuersten Städte der Welt. Die wachsende soziale Kluft und die rasante Gentrifizierung. Und dazu gehören im weiten Sinne eben auch die wilden Hühner von Jaffa.



Dann brummt mein Telefon. Mein Freund schreibt, es könne in der Nacht Raketenalarm geben. Wenige Minuten später höre ich auch schon ein dumpfes „Bumm“. So klingt es, wenn das Abwehrsystem Iron Dome Raketen abschießt. Die Explosion muss über dem Meer vor der Stadt Bat Yam stattgefunden haben, etwas südlich von Tel Aviv. Wir wohnen nicht sehr weit davon, in Jaffa – der alten arabischen Hafenstadt, die längst vom jungen Tel Aviv einverleibt wurde.



2014 war ich gerade nach Tel Aviv gezogen, als der ­Gaza-Krieg ausbrach. Ich wohnte in einer Art Bungalow auf einem Flachdach im Herzen der Stadt, und wegen der wackligen Außentreppe blieben wir bei Alarm einfach sitzen. Mit einem Bier in der Hand verfolgten wir am ­Himmel die Schweife der Abwehrraketen und wussten: Nur wenige Kilometer den Strand hinunter gibt es keinen Iron Dome. Die israelischen Bomben treffen zielgenau.



Als 2021 die Zwangsräumungen in Ostjerusalem einen weiteren Krieg provozierten, war mein Fell schon wesentlich dünner. Nach sieben Jahren Nahost konnte ich mir nun besser vorstellen, wie es zeitgleich da drüben in Gaza aussieht. Ich saß mit den Nachbarn im Treppenhaus und die Sirenen zerrten an den Nerven. In diesem Sommer ist alles anders. Ich habe jetzt eine drei Monate alte Tochter. Mein erster Gedanke: Wie halte ich ihr die Ohren zu, wenn ich nachts ins Treppenhaus laufe?



Die Sirenen bleiben stumm in Tel Aviv, aber ich liege lange wach. Im letzten Jahr ist der Krieg erstmals bis zu uns gekommen. Und ich meine nicht die Raketen. Viel schlimmer als die Nächte im Treppenhaus war das, was in meiner Nachbarschaft passierte: Es loderten neue Brennpunkte auf, und zwar in den „gemischten“ Orten, die bislang für friedliche Koexistenz standen. Auch in Jaffa wurden Autos angezündet, und schließlich sogar ein arabisches Haus. Wobei nicht klar war, ob versehentlich von Arabern – oder von Juden. Zeitgleich nämlich organisierte die jüdische Ultrarechte Schlägertrupps und Lynchmobs.



„Als sie durch unsere Straßen zogen und ‚Tod den Arabern‘ riefen, kam keine Polizei“, erzählte mir eine junge Palästinenserin. Und als ihr Auto brannte, fragte der Beamte nur, ob sie denn Araberin sei oder Jüdin. Erst als Adrieh mit anderen Frauen und Kindern eine friedliche Demo gegen den Gaza-Krieg führte, war die Polizei zur Stelle – mit Lärmgranaten. „Für uns ist Gaza nicht dieses abstrakte Ding“, sagte sie: „Das ist unsere Familie.“ Und sie meint es wörtlich, 1948 sind viele Palästinenser aus Jaffa nach Gaza geflohen. Adrieh führt ein Geschäft in der Hauptstraße von Jaffa und verkauft Kunsthandwerk. Es ist eines der wenigen arabischen Geschäfte im Viertel. Ihren „Hilweh Market“ hat sie nach dem vergessenen arabischen Namen der Straße benannt. Sie wolle das palästinensische Jaffa wieder auf der Karte verorten, erklärte sie. Die Altstadt von Jaffa wurde zwar vor vielen Jahren renoviert. Doch dann lockte man jüdische Künstler mit günstigen Mieten in die alten Gemäuer, um die vernachlässigte Gegend aufzuwerten. Heute gilt das Viertel mit seinen (jüdischen) Boutiquen, Bars und Cafés als eine der hippsten Nachbarschaften der Welt – wobei es den Hipstern schon zu schick wird.

 

Es ist ein Klassen- und Kulturkampf

Und jetzt lande ich doch bei den Hühnerbanden. Die freilaufenden Hähne wurden wie die Rufe des Muezzins und der Hummus bei Abu Hassan zum Symbol für die arabische Identität Jaffas. Die Huhngegner repräsentieren wohlhabende Zugezogene aus dem Norden Tel Avivs. Der Hahnenkampf ist also eigentlich ein Klassen- und Kulturkampf. Einst lag Jaffa im Schatten der weißen Stadt mit ihrem Bauhaus-Erbe und den Bürotürmen der Start-up-Nation. Doch die Schattengrenze verschiebt sich beinahe monatlich gen Süden.



Auch ich gehöre zu dieser Karawane. Seit dem Raketensommer auf dem Flachdach bin ich sieben Mal umgezogen. Die Mietverträge laufen in Tel Aviv höchstens ein Jahr. Dann werden üblicherweise ein paar Hundert oder inzwischen sogar Tausend Schekel draufgeschlagen. Tel Aviv ist so teuer geworden, dass es sich nur noch leisten kann, wer in der Hightech-Szene arbeitet. Diesen Juni schlugen deshalb einige junge Städter ihre Zelte auf Tel Avivs Prachtstraße auf, dem Rothschild Boulevard, um gegen die Lebenshaltungskosten zu demonstrieren. Doch für die arabischen Israelis geht es nicht nur um ein bezahlbares Leben. Sie haben Angst, dass ihre kulturelle Identität und die Geschichte des palästinensischen Jaffas endgültig verschluckt werden.



Am nächsten Tag hören wir am Himmel nur das Knattern der Helikopter auf ihrem Weg nach Gaza. Als am Abend dann doch die Sirene losheult und ich ins Treppenhaus laufe, schläft meine Tochter einfach weiter in meinen Armen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 114-115

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Agnes Fazekas berichtet seit 2014 aus Israel und Palästina. Sie ist Mitglied bei Weltreporter.net und RiffReporter.de.