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05. Jan. 2018

Bitte keine Fakten

Auf Lesbos zeigen sich die Versäumnisse des EU-Türkei-Abkommens

Heute sind weltweit 20 Millionen Menschen mehr auf der Flucht als in den vergangenen Jahrzehnten. Doch anstatt endlich legalen Zugang zu ermöglichen, u.a. als Arbeitsmigration, schließen die Staaten Europas aus innenpolitischen Gründen ihre Grenzen. Sie setzen auf den EU-Türkei-­Deal, der zu desaströsen Bedingungen führt.

Am Rande Europas sind die Folgen der europäischen Asylpolitik am deutlichsten zu sehen. Im November habe ich die griechische Insel Lesbos besucht. Die Situation im Registrierungslager für Flüchtlinge Moria ist desaströs. Der so genannte Hot­spot ist für 2000 Personen ausgestattet. Als ich vor Ort war, lebten dort 6500 Menschen, darunter sehr viele Kinder. Die täglichen Zugangszahlen sind seit Oktober auf 200 gestiegen. Absolut gesehen und angesichts der Situa­tion in den Herkunftsländern der meisten Flüchtlinge – Syrien, Irak und Afghanistan – ist das immer noch wenig.

Hält man die Menschen auf der Insel fest, spitzt sich die ­Situation schnell zu. Etwa 1500 Menschen mussten Anfang November bereits in nicht beheizbare Sommerzelte ausweichen. Hygienische Mindeststandards können nicht eingehalten werden, die medizinische Versorgung ist genauso wenig gewährleistet wie die Sicherheit von Frauen. Nicht wenige Flüchtlinge sitzen hier schon seit 18 Monaten fest. Mitglieder lokaler Unterstützungsgruppen beschreiben die Situation als explosiv: Ungewisses Warten, Überbelegung, Unterversorgung, Furcht vor Abschiebung und die Undurchschaubarkeit des Verfahrens führen zu hoher Anspannung.

Der Leiter des UNHCR und die Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen berichten mir, ihre Mitarbeiter seien hier häufiger von Burn-out betroffen als bei Einsätzen in akuten Krisengebieten. Woran liegt das? Vielleicht daran, dass dieses Elend vermeidbar ist, politisch verursacht und indirekt politisch gewollt. Einzelne Missstände liegen in der Verantwortung des Migrationsministeriums; aber die Tatsache, dass die Menschen hier festsitzen, ist die direkte Folge der EU-Türkei-Vereinbarung.

Der Aufenthalt der Asylsuchenden wird auf die Inseln beschränkt, um den Zugriff für Rückführungen in die Türkei zu sichern und Menschen grundsätzlich von der Flucht nach Europa abzuschrecken. Bei seinem Griechenland-Besuch Ende Oktober machte der Vizepräsident der EU-Kommission in einem Interview mit der Zeitung Kathimerini deutlich: Flüchtlinge aufs Festland zu lassen, sende ein falsches Signal in die Welt. Nicht nur die Inselbewohner fürchten, die Ägäis solle zur geografischen Barriere werden und die griechischen Inseln zu Aufbewahrungsorten für Flüchtlinge, die sich der Rest Europas vom Leib halten will.

Noch ist ein großer Teil der Bevölkerung solidarisch mit den Gestrandeten, aber Abwehrhaltungen nehmen zu, berichteten mir besorgte lokale Aktivistinnen. Aktuell befinden sich mindestens 8000 Flüchtlinge auf der Insel. Das sind 10 Prozent der Bevölkerung bei gleichbleibender Infrastruktur. Angesichts von Plänen, einen weiteren Hotspot auf Lesbos einzurichten, rief der Bürgermeister am 20. November zum Generalstreik auf. Auch der UNHCR und viele andere internationale NGOs fordern, dass die Beschränkung des Aufenthalts auf die Insel aufgehoben und Lesbos entlastet wird.

Migrationsminister ­Ioannis Mou-zalas setzt genau wie die EU-Kommission und der Europäische Rat auf schnelle Rückschiebungen in die Türkei, die jetzt verstärkt einsetzen könnten. Er ist ein Verfechter der EU-Türkei-Vereinbarung, wobei mir im Gespräch nicht klar wurde, ob diese Haltung und viele restriktive Maßnahmen, die von ihm zu verantworten sind, der Überzeugung oder der Not entspringen. Griechenland droht der Ausschluss aus dem Schengen-Raum, sollten wieder mehr Flüchtlinge von dort aus weiterziehen. Das Land kann aber die rund 60 000 Flüchtlinge, die es derzeit beherbergt, immer noch nicht adäquat versorgen, und das vereinbarte europäische Umsiedlungsprogramm wurde nur zu 30 Prozent erfüllt, bevor es auslief. Einzig Malta hat seine Umsiedlungsquote erfüllt. Trotz dieser Situation und des unstreitigen Drucks aus Brüssel und Berlin wurden von meinen Gesprächspartnern in Athen und Lesbos die Handlungsspielräume der griechischen Regierung sehr unterschiedlich beurteilt.

Unklare Rechtslage

Voraussetzung für die Umsetzung der EU-Türkei-Vereinbarung ist die Einschätzung der Türkei als sicherer Drittstaat. Abgesehen von den völkerrechtlichen Bedenken gegen diese Vereinbarung steht groß die Frage im Raum: Ist die Türkei heute noch ein sicheres Land? Unlängst hat das oberste griechische Verwaltungsgericht die Klage zweier syrischer Flüchtlinge gegen die Abschiebung in die Türkei zurückgewiesen. Diese Entscheidung war bei den beteiligten Richtern umstritten. Der Vizepräsident des Gerichts stellte die Grundlagen der Entscheidung mit klaren Worten infrage: Diplomatische Zusicherungen der türkischen Behörden seien nicht vertrauenswürdig und kritische Lageberichte nicht berücksichtigt worden. Letztlich wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über diesen Fall entscheiden.

Derzeit sind bei den unteren Gerichten noch viele Klagen gegen Rückschiebungsbescheide in die Türkei anhängig. Es ist wahrscheinlich, dass eines dieser Gerichte die Rechtsgrundlage für die Rückschiebungen dem Europäischen Gerichtshof zur Überprüfung vorlegen wird, obwohl sich das oberste Verwaltungsgericht dagegen entschieden hat. Gründe für die Vorlage in Luxemburg gibt es viele: Neben europa- und völkerrechtlichen Problemen liegen inzwischen erste Untersuchungen über die Situation nach Abschiebungen in der Türkei vor.

Die Universität Utrecht und das Robert Schuman Centre der Universität Florenz haben unlängst Studien über die Risiken für zurückgeschobene Flüchtlinge veröffentlicht. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass trotz eines neuen rechtlichen Rahmens ihr Schutz nicht gewährleistet ist und dass mit unrechtmäßigen Inhaftierungen gegen ihre Grundrechte verstoßen wird. Hinzu kommt, dass neue repressive Gesetze auch für Flüchtlinge erlassen wurden. Der faktisch juristisch nicht anfechtbare Verdacht, eine als terroristisch deklarierte Vereinigung zu unterstützen, kann zur sofortigen Inhaftierung ganzer Familien und ihrer Abschiebung führen.

Die EU-Türkei-Vereinbarung trat am 18. März 2016, vier Monate vor dem Putschversuch, in Kraft. Die politischen Veränderungen nach dem Putschversuch führten zu keiner neuen Lagebeurteilung, die umso wichtiger wäre, als ein unabhängiges Monitoring in der Türkei nicht mehr möglich ist. Drei Anwaltsorganisationen, die bisher regelmäßige Recherche betrieben, wurden im Sommer in den Medien derart diffamiert, dass sich ihre Mitglieder aus Sicherheitsgründen zurückgezogen haben. Es kommen inzwischen nicht nur Transitflüchtlinge, sondern auch türkische Flüchtlinge aus der Türkei. Am 23. November wurde bekannt, dass vor Lesbos eine türkische Familie ertrunken ist: Ein Lehrerehepaar, das nach der Entlassungswelle die Inhaftierung fürchtete, hatte sich mit seinen drei Kindern in einem Schlauchboot auf den Weg nach Europa gemacht. Trotzdem soll die Entlastung der Inseln nur in Richtung Türkei ­erfolgen.

Überlastete Verfahren

Ohne Aufhebung der räumlichen Beschränkung könnten zwei Gruppen von Flüchtlingen sofort die Inseln verlassen und auf dem Festland das Asylverfahren durchlaufen: Besonders verletzliche Flüchtlinge und solche, die im Rahmen der Dublin-III-Verordnung Anspruch auf Familiennachzug in andere EU-Mitgliedstaaten haben. Mir wurde berichtet, dass die Antragsfrist hierfür oft verstreicht, weil das überlastete mehrteilige Registrierungsverfahren sich zu lange hinzieht oder die Betroffenen zu schlecht informiert sind. Ähnlich schwierig ist es für besonders Verletzliche, zu ihrem Recht zu kommen. Dazu gehören Opfer von Folter, Vergewaltigung sowie Kriegstraumatisierte, Menschen mit Behinderungen und schweren, auch psychischen Erkrankungen. Besonders in der Kritik steht das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO).

Seit dem Inkrafttreten der EU-­Türkei-Vereinbarung werden Asylsuchende nach der ersten Registrierung einer Befragung unterzogen, in der es ausschließlich darum geht, ob ein Asylverfahren in der EU zulässig ist oder sie in die Türkei zurückgeschickt werden. Die Befragungen führen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des EASO durch und geben eine Empfehlung ab, der die zuständige griechische Behörde mit ihren Bescheiden regelmäßig folgt. Die Befrager sind verpflichtet, die Sicherheit in der Türkei für jeden Einzelfall zu prüfen. Anwälte werfen dem EASO vor, dass die Befragungen gegen Grundsätze fairer Anhörungen verstoßen, nicht standardgerecht sind und nicht geeignet, individuelle Bedingungen wie besondere Verletzlichkeit zu erfassen. Die Auswertung von Befragungsprotokollen führte das European Center for Constitutional and Human Rights (mit Unterstützung von Brot für die Welt) dazu, eine Beschwerde bei der europäischen Bürgerbeauftragten einzureichen, die diese im Juni 2017 angenommen hat. Die EASO-Befragungen werden nun auf administratives Fehlverhalten hin überprüft.

Für besonders verletzliche Flüchtlinge, die es geschafft haben, eine entsprechende Bescheinigung zu bekommen, gibt es das kommunal ­betriebene Camp Kara-Tepe mit 1000 Plätzen. Der Aufenthalt ist für maximal zwei Monate bis zur Übersiedlung aufs Festland gedacht, wo sie unter besseren Bedingungen das normale Asylverfahren durchlaufen können. Auch diese Übersiedlungen stockten, werden aber aktuell zur Entlastung der Insel beschleunigt.

In ihrem Bericht über die Umsetzung der EU-Türkei-Vereinbarung forderte die EU-Kommission im Dezember 2016, auch besonders Verletzliche nicht mehr von den Rückschiebungen auszunehmen. Dem wurde bislang von griechischer Seite nicht entsprochen. Das könnte sich jedoch ändern. Human Rights Watch berichtet, die griechische Regierung sei im Juni aus Brüssel aufgefordert worden, die Zahl der Bescheinigungen besonderer Verletzlichkeit zu reduzieren. Dieses Ansinnen verweist auf ein Grundproblem der europäischen Flüchtlingspolitik: Sie schert sich wenig um Fakten. Es wird ignoriert, dass in Europas Nachbarländern Krieg und immer mehr Repression herrschen, dass weltweit 20 Millionen Menschen mehr auf der Flucht sind als in den vergangenen 50 Jahren. Die Politik ist aus innenpolitischen Gründen davon getrieben, die Einreise von Flüchtlingen und Migranten zu verhindern. Jeder Mindeststandard für die Flüchtlingsaufnahme wird in dieser Fixierung zum vermeintlichen „Pullfaktor“, den man verhindern müsse.

Europa kann mehr Menschen aufnehmen. Es ist ökonomisch und organisatorisch dazu in der Lage. Im Vordergrund einer rationalen Politik müssen legale Zugangswege stehen, die Flüchtlinge in den Herkunftsländern selbst einleiten können. Humanitäre Visa und Familiennachzug könnten sofort ermöglicht werden. Solange es aber nicht einmal die Chance gibt, sich um einen legalen Zugang zu bemühen, werden Schlepper weiter viel Geld verdienen.

Zu einer rationalen Politik gehört auch die Anerkennung, dass in einer globalisierten Welt Arbeitsmigration nicht dauerhaft einigen wenigen vorbehalten bleiben kann. Mit einer vorausschauenden, rationalen Politik wäre auch das Chaos im Jahr 2015 vermeidbar gewesen. Schon im Sommer 2014 forderte der damalige UN-Flüchtlingskommissar António Guterres die EU auf, ihre Aufnahmeprogramme auszudehnen, weitere legale Einreisemöglichkeiten zu schaffen und Registrierungszentren einzurichten, um unkontrollierte Einreisen in großem Ausmaß und gefährliche Wege mit Schleppern zu vermeiden. Nichts passierte.

Es gibt eine EU-Richtlinie, die eigens für solche Situationen geschaffen wurde, die so genannte Massenzustrom-Richtlinie (2001/55/EG). Sie regelt die Verteilung der Lasten sowie die Aufnahmedauer und -bedingungen, unabhängig von den nationalen Asylgesetzen und jenseits des Dublin-Systems. Aber die Richtlinie wurde nicht angewandt.

Das entstandene Chaos dient heute als Argument für die vermeintliche Alternativlosigkeit der Abschottungspolitik. Nicht die vermeidbaren Ursachen dieses Chaos werden debattiert, sondern nur die Zahl der Flüchtlinge. Will man Rationalität in die Debatte bringen, muss man sich zunächst diese Zahl anschauen. 2015 wurden in der gesamten EU 1,3 Millionen Asylanträge gestellt. Davon erhielten 806 000 Flüchtlinge einen Schutzstatus und damit die Möglichkeit, länger in der EU zu bleiben. (2016 sah es ähnlich aus, seitdem sinken die Zahlen stark.) Das sind 0,16 Prozent Bevölkerungszuwachs, die gut verkraftbar sind. Probleme gab es mit der Verantwortungsteilung und einer schlecht vorbereiteten Administration.

Das Problem der EU ist nicht ein Zuviel an Flüchtlingen und Migranten, sondern das Fehlen einer solidarischen Flüchtlings- und einer schlüssigen Migrationspolitik. Statt diese Probleme zu lösen, werden Abschottung und Abschreckung vorangetrieben.

Barbara Lochbihler ist außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im EU-Parlament und ­Vize-präsidentin des EP-Menschenrechtsausschusses.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2018, S. 94 - 98

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