Internationale Presse

01. Juli 2017

Besorgte Hüter der Wahrheit

Das Deutschland- und Europabild in den russischen Staatsmedien

Rina Soloveitchik | „Das neue Phänomen in der internationalen Politik ist die Russland-Phobie. Sie ist der neue Antisemitismus des Westens. Die Russen sind die Juden der Gegenwart.“ Das verkündet Moderator und Medienmogul Dmitri Kisseljow an einem Sonntag Anfang Juni 2017 bei „Vesti Nedeli“ („Nachrichten der Woche“), die auf dem Ersten Kanal laufen, einem der größten Staatssender Russlands.

Mit begeisterter Zustimmung gibt er damit Äußerungen Wladimir Putins wieder, die Russlands Präsident beim Wirtschaftsgipfel in Sankt Petersburg in der Woche zuvor gemacht hatte. Die Botschaft, die vermittelt werden soll, ist klar: Es ist der Westen, der den Konflikt mit Russland sucht; er ist es, der den Informationskrieg führt. Es ist eine Umkehrung, die typisch für das Weltbild ist, das die russischen Staatsmedien daheim und in der Welt konstruieren: All das, was der Westen Russland vorwirft, tut er tatsächlich selbst.

Seit Jahren erschaffen die russischen Staatsmedien das Weltbild eines manipulativen, unfreien, von Angst und Terror gebrochenen Deutschlands und Europas. Ob international mit Russia Today (RT) und Sputnik oder daheim mit NTV, Rassija 1 und dem Perwy Kanal formen sie die Meinungen von Millionen Russen in und außerhalb Russlands.

„Fake news“ sind in diesem Weltbild Auswüchse der westlichen Medien – Unwahrheiten, die vor allem darauf zielen, Russland zu diskreditieren. Das russische Außenministerium unterhält auf seiner Website sogar eine Rubrik, deren einzige Aufgabe darin besteht, angebliche „fake news“ zu Russland zu „entlarven“ (http://www.mid.ru/ru/nedostovernie-publikacii). Und auch die russischen Staatsmedien geben sich als besorgte Hüter der Wahrheit. So findet sich auf der Startseite des deutschsprachigen Webangebots von RT ein Quiz, bei dem man Nachricht von Falschmeldung trennen soll („Fakecheck: Fakt oder Fake?“).

Im März startete das englischsprachige RT ein Onlineprojekt, das vorgibt, Nachrichten auf ihre Komponenten herunter zu brechen und detailliert zu analysieren, was an ihnen „Fälschung“ ist („RT separates facts from fakes in new online project“, 15.3.) – samt Umfrage im April, bei der RT-Zuschauer bewerten sollten, wie große ihre Sorge über „fake news“ ist.

Während die russischen Staatsmedien also für die Wahrheit und nichts als die Wahrheit streiten, gilt ihnen Deutschland als Europas Vorreiter in Sachen antirussischer Desinforma­tion. Die ARD wird zum Beispiel regelmäßig als korrupter, manipulativer Sender dargestellt. Immer wieder gibt es Berichte über Programmbeschwerden wegen „Meinungsmache“ und „manipulativer Nachrichtengestaltung“ (z.B. RT Deutsch, „Programmbeschwerde gegen ARD-Tagesschau: Systematische Irreführung über den Krieg gegen Jemen“, 29.5.). Als Kronzeuge dient RT Deutsch dabei oft der frühere ARD-Redakteur Volker Bräutigam, der die angeblichen Mängel als „institutionell bedingt“ bezeichnet. Die ARD verwende grundsätzlich nur Informationen von Organisationen und Personen, die dem deutschen Staat unkritisch gegenüberstünden. So sei man immer auf der Staatsseite, sagte Bräutigam im Mai in einer Sendung von RT.

Der Sender ist Meister begrifflicher Verrückung: So wird aus Regulierung Repression, wenn es heißt, die SPD wolle Facebook & Co. „zwingen“, öffentlich-rechtliche Medien zu bevorzugen (19.5.), und aus investigativem – wenn auch fragwürdigem – Journalismus wird Spionage, wenn es zu einem Bericht des Netzwerks Correctiv über die angeblich anrüchige Vergangenheit einer AfD-Politikerin heißt, jetzt werde „auch schon im Schlafzimmer spioniert“ (RT Deutsch, „Knallhart recherchiert“, 3.5.). Kurz: In Deutschland kontrolliere der Staat Medien und Internet, von ihnen eingesetzte „Kontrolleure“ verletzten die Privatsphäre.

Manipulierte Wahlen

Wenn jemand Wahlen manipuliert, sind das die anderen, erfährt man beim englischsprachigen RT („Berlin not accusing Moscow of interfering in elections – German Foreign Minister“, 9.3.), das sich auf eine Pressekonferenz von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel beruft. Dass russische Hacker das Wahlkampfteam Emmanuel Macrons angriffen und ihre Beute als „Macron-Leak“ am Vorabend der Stichwahl ins Internet stellten, diese Nachricht wurde als die „übliche“ leere Beschuldigung gegen Russland abgetan. Wer Urheber dieser Aktion gewesen sei, sei unklar, so die russischen Staatsmedien – bis Russlands Präsident Wladimir Putin einen Monat später erklärte (wie auch von RT gemeldet), der russische Staat beteilige sich natürlich nicht an Hackerangriffen, aber es könne in Russland „patriotische Enthusiasten“ geben, die solche verübten.

Sonst aber zitieren russische Medien mit Vorliebe amerikanische oder europäische Politiker und Publikationen mit Statements, die ins gewünschte Bild passen – so Äußerungen des britischen Außenministers Boris Johnson, dass russische Hacker zwar die Kapazitäten hätten, sich in britische Wahlen einzumischen, es dafür aber keine Beweise gebe (RT, „‚No evidence‘ Russia trying to disrupt UK democracy, but they can – Boris Johnson“, 12.3.).

Zwar sind solche „Nachrichten“ offensichtlich einseitig, doch verleiht ihnen das Zitieren westlicher Quellen eine Scheinneutralität – ebenso wie das Sortieren kaum unterscheidbarer Beiträge in Rubriken wie Analysen, Kommentare und Nachrichten, was wohl Seriosität vortäuschen soll. So wird den Formen nach Unabhängigkeit suggeriert, obgleich die Inhalte von Pro-Kreml-Propaganda tief durchdrungen sind.

Gescheiterte Demokratie

Ein wiederkehrendes Narrativ ist, dass in Deutschland und Europa die Demokratie scheitere. Millionenspenden an CDU, FDP und SPD seit Jahresbeginn, „Unregelmäßigkeiten“ bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen – so wird den Zuschauern das deutsche Parteiensystem nahegebracht (RT Deutsch, „Unregelmäßigkeiten bei NRW-Wahl: Linke lässt Anfechtung der Landtagswahl überprüfen“, 26.5.). Andere europäische Staaten schneiden nicht besser ab. Emmanuel Macron und seine Führungsmannschaft galten den russischen Medien im Wahlkampf vor allem als lächerlich und unerfahren. Ob Macron mit Eiern beworfen wurde oder eine ehemalige Pornodarstellerin auf der Liste seiner Partei stand – in Russland war das stets eine Schlagzeile wert. Auch über Macrons Verbindungen zu internationalen Businesseliten, deren zynischer Agent er sei, wurde fleißig berichtet.

Zur institutionellen Korruption und Zersetzung kommt die selbstverschuldete Überforderung durch die Flüchtlingskrise. Täglich erscheinende Schlagzeilen wie „Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fehlen tausende Fingerabdrücke“ (RT Deutsch, 2.6.) oder „CDU lenkt ein: Abschiebungen nach Afghanistan werden vorerst eingeschränkt“ (RT Deutsch, 1.6.) suggerieren immer wieder, dass die deutsche Bürokratie die Situation weder unter Kontrolle hat noch in der Lage ist, wenn nötig durchzugreifen. Ende Mai und Anfang Juni wimmelte es zudem von Meldungen über falsche Berliner Bombenalarme, geplante Selbstmord­anschläge und aus Terrorangst abgesagte Konzerte.

Nicht anders sieht es laut russischen Medien im übrigen Europa aus. Jeder Terroranschlag – ob „erfolgreich“ oder nicht – wird in Dauerschleife dokumentiert und analysiert. Der Kontinent, so die Botschaft, sei gefährlich geworden. „Bis zuletzt galt Eu­ropa als eine stille und ruhige Ecke, wo man Frieden und Wohlstand genießen konnte. In den vergangenen zwei Jahren kann man von der Alten Welt aber wohl nicht mehr sagen, dass sie eine Art Paradies auf Erden wäre“, zitiert Sputnik die Web­site der russischen Zeitung Lenta.ru. Der Eindruck, der erweckt werden soll: Terror bestimmt den europäischen Alltag.

„Geheime Aufrüstung“

Ein anderer Schwerpunkt ist die Bundeswehr, aus Sicht der russischen Staatsmedien die zentrale Institution der Bundesrepublik. Seit Monaten häufen sich Berichte über deren tatsächliche und vermeintliche Aufrüstungsvorhaben. In den vergangenen Wochen las man immer wieder von „geheimen“ Plänen, dass man „waffentaugliche Drohnen“ anschaffe (laut deutschen Medien: von Israel mietet) und über den angeblich großen Erfolg der Web-Video-Serie „Die Rekruten“. Die Bewerberzahlen seien bereits um 20 Prozent gestiegen (laut einem NDR-Bericht war kein Zuwachs zu verzeichnen).

Zugleich wird über jedes Anzeichen organisatorischer oder moralischer Schwäche berichtet. Der Skandal um den rechtsextremen Bundeswehr-Oberleutnant Franco A., der sich eine Flüchtlingsidentität zulegte und offenbar einen Terroranschlag plante, war dementsprechend eine Top-Story in den russischen Staatsmedien. Die Bundeswehr sei attraktiv für Rechtsextreme, berichtete Sputnik Deutschland („Der Fall Franco A.: „Das Militär ist ein Attraktionsort für Extremisten“ – Experte“, 4.5.). Und dass im Laufe der Ermittlungen Wehrmachtsdevotionalien in einer Bundeswehrkaserne gefunden worden seien, schaffte es sogar in die russischen Wochennachrichten des Staatssenders Rassija1.

Zwischen Macht und Ohnmacht

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird gleichzeitig als finster entschlossen und machtlos porträtiert. Deutschland ist im Tenor dieser Berichterstattung die gefallene Großmacht, der der Partner USA abhandenkommt. Merkels Münchner „Bierzeltrede“ und ihre Bemerkung, Europa müsse sein Schicksal in die eigene Hand nehmen, dominierte die russischen Schlagzeilen wie lange keine Merkel-Meldung mehr.

In der Lesart von RT, Sputnik und Co. versucht die Bundeskanzlerin einerseits krampfhaft, die Beziehungen zu Russland zu verbessern, andererseits bastelt sie „in aller Stille“ an einer Europäischen Armee – unter deutschem Kommando, wie RT Deutsch unter Verweis auf Foreign Policy berichtete („Wie Deutschland in aller Stille eine EU-Armee unter seiner Befehlshoheit aufbaut“, 23.5.). Viel Aufmerksamkeit wird auch den NATO-Einheiten in Polen und den baltischen Staaten geschenkt.

Auf diese Weise vermitteln Russlands Medien ein Bild des Westens, der medial gegen Russland hetzt und es militärisch herausfordert, der seine Wertvorstellungen verrät und an Flüchtlingskrise und Terrorismus scheitert. Westliche Werte wie Demokratie und Pressefreiheit werden nicht abgelehnt, sondern vereinnahmt und gegen den Westen gewandt; es ist übrigens immer nur der Westen selbst, der diese Werte verrät.

So soll westlichen Kritikern der Boden entzogen werden. Den Zuschauern und Website-Lesern wird vermittelt: Wie können westliche Politiker Russland „fake news“ und Verletzungen der Meinungsfreiheit vorwerfen, wenn sie diese selbst dauernd mit Füßen treten? Das lässt zumindest eine gewisse Verwirrung zurück: Wer hat denn nun Recht? Wer manipuliert hier wen? Am Ende sollen die Zuschauer zu dem Schluss kommen, dass es verschiedene, einander ebenbürtige Versionen der Wahrheit geben muss. Würde dies gelingen, wäre das der russische Erfolg, den Europa wirklich fürchten müsste.

Rina Soloveitchik ist freie Autorin und arbeitet u.a. für die ZEIT.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2017, S. 130 - 133

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