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15. Okt. 2024

Berlins neue Härte in der EU

Einigkeit in der EU galt für die deutsche Europapolitik über lange Zeit als per se erstrebenswertes Ziel, für das man auch Kompromisse machen muss. Doch in den vergangenen Wochen hat sich der Ton aus Berlin geändert. Eine ganze Reihe von Gründen führt dazu, dass die Bundesregierung in Brüssel härter auftritt – notgedrungen, zumindest aus Sicht des Kanzleramts.

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Bild: Händedruck zwischen Scholz und Macron
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Die Entscheidung fiel am Tag der deutschen Einheit. Am 3. Oktober entschied Olaf Scholz mit seiner Richtlinienkompetenz als Kanzler, dass Deutschland bei der Abstimmung in der EU über Strafzölle auf importierte Elektroautos aus China mit Nein stimmen würde. Dies ist das sichtbarste Zeichen dafür, dass der Kanzler in der Europapolitik einen härteren Kurs einschlagen will – notfalls gegen eigene Koalitionspartner, notfalls gegen die EU-Kommission, notfalls auch gegen wichtige EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich. 

Die Grünen-Co-Fraktionschefin Katharina Dröge kritisierte auf der Plattform X, dass „das Nein von Scholz … geopolitisch, europapolitisch & wirtschaftspolitisch falsch ist“. Diese Haltung passt zu der seit Jahrzehnten bestehenden öffentlichen Erwartung, Deutschland müsse als größter EU-Staat immer eine vermittelnde Rolle einnehmen. Seit Langem dominiert die Grundüberzeugung, dass Übereinstimmung per se gut ist – gerade im deutsch-französischen Verhältnis. Ständig wurde und wird der Puls der Beziehungen zwischen Paris und Berlin gemessen. Dissonanzen zwischen Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gelten als Problem – und werden in deutschen Medien oft dem Kanzler angelastet. 
 

Mahnungen aus vergangener Zeit

Doch die Appelle der Grünen und anderer Beobachter, die EU-Staaten müssten unbedingt eine einheitliche Linie auf Basis der Vorschläge der EU-Kommission einnehmen, um stark nach außen zu sein, wirken mittlerweile wie eine Mahnung aus einer alten, vergangenen Zeit. Denn es haben sich drei Dinge fundamental geändert.

Erstens ist die EU der 27 nicht mehr der Konsensklub wie früher. Rechtspopulistische Regierungen demonstrieren immer offener, dass sie keine Lust mehr haben, sich an die Spielregeln der EU zu halten. Sicherlich gab es auch früher Abweichungen: Eklatant war etwa der offene Bruch der EU-Stabilitätsregeln durch Frankreich und Deutschland zu Zeiten von Kanzler Gerhard Schröder. Aber spätestens seit der Migrationskrise 2015 ist offensichtlich, dass ein neues Niveau erreicht ist. Viele Regierungen ziehen ihre nationalen Interessen immer ungeschminkter einer europäischen Verständigung vor.

Zweitens ändert sich der Zeitgeist und dreht sich gegen eine Art von regulierender Europapolitik, die die vergangenen zwei Jahrzehnte dominierte. Sichtbarstes Zeichen ist der „Green Deal“, der in der Amtszeit der neuen EU-Kommission abgelöst werden soll von einer klareren Ausrichtung auf mehr Wettbewerbsfähigkeit – weil die Welt sich geändert hat und Europa im Wettstreit etwa mit den USA und China eher ins Hintertreffen gerät. Nur ist bisher aus Sicht etwa von Teilen der Bundesregierung die Botschaft in Brüssel noch nicht angekommen. Das erklärt die zunehmende Kritik an der Vorgabendichte der EU.  

Drittens nehmen die ökonomischen, finanziellen und politischen Krisen in einzelnen EU-Staaten zu. Je größer die Krise, desto stärker sind nationale Reflexe, desto stärker ist die Expansion populistischer Kräfte – nun auch in Deutschland. Früher konnte es sich Deutschland als wirtschaftliches Kraftzentrum der EU leisten, aufgrund seiner finanziellen Stärke Kompromisse zu schließen und über nicht oder schlecht funktionierende EU-Politiken hinwegzusehen. Doch diese Zeit ist nach dem zweiten Jahr ohne Wachstum vorbei. Vier Beispiele.
 

Beispiel eins: die Migrationspolitik 

Am deutlichsten wurde dieser Wandel in den vergangenen Monaten durch das Vorgehen der Bundesregierung in der Migrationspolitik. Nach den Morden in Mannheim und Solingen sowie den starken Wahlergebnissen von AfD und BSW in ostdeutschen Bundesländern geriet die deutsche Politik unter Druck. Innerhalb weniger Monate brachte die Ampelregierung massive Verschärfungen in der Flüchtlingspolitik auf den Weg, die noch vor einem Jahr undenkbar gewesen wären. Bei den Grenzkontrollen nahm die deutsche Debatte eine solche Eigendynamik an, dass am Ende ein nationaler Alleingang stand – angefeuert von der oppositionellen Union, die mit der kompletten Zurückweisung von Flüchtlingen an den deutschen Grenzen sogar eine noch größere Härte gegenüber den Nachbarstaaten fordert. Kanzler Olaf Scholz kündigte am 8. Oktober an, dass die Grenzkontrollen zu den Nachbarstaaten „noch sehr lange“ bestehen bleiben würden – obwohl diese eigentlich regelmäßig bei der EU-Kommission notifiziert und von dieser genehmigt werden müssen. 

Damit änderte die Bundesregierung den von ihr eingeschlagenen Kurs drastisch. Denn zuvor hatte Innenministerin Nancy Faeser bei der Reform der europäischen Asylpolitik noch auf eine einvernehmliche gemeinsame Lösung gesetzt. Die GEAS-Reform (Gemeinsames Europäisches Asylsystem) war dann 2023 tatsächlich als großer Durchbruch gefeiert worden. Aber das Inkrafttreten erst Mitte 2026 reicht vielen angesichts der innenpolitischen Debatte nun nicht mehr. 

Plötzlich wird in Deutschland ganz offen diskutiert und parteiübergreifend anerkannt, dass das Dublin-System bereits seit Jahren nicht mehr funktioniert. Danach müssten Asylverfahren eigentlich in den EU- und Schengen-Außengrenzstaaten durchgeführt werden. Dass die Flüchtlinge in Deutschland Schutz suchen, dürfte also angesichts der geografischen Lage nur in Ausnahmefällen vorkommen. Nur hatte die Umgehung dieses Systems durch viele EU-Staaten jahrelang kaum jemanden gestört – auch Bundesinnenminister und CSU-Chef Horst Seehofer sorgte bis Ende seiner Amtszeit 2021 nicht für große Reformschritte. Aber jetzt wird das Nichtfunktionieren europäischer Regeln plötzlich als so großes Problem identifiziert, dass sofort mit nationalen Maßnahmen reagiert werden muss. 
 

Beispiel zwei: die Handelspolitik

Eine ähnliche Situation gibt es in der Handelspolitik. Seit Monaten mahnt Scholz öffentlich immer deutlicher, dass die EU in der neuen geopolitischen Weltlage schon aus strategischen Gründen mehr Freihandelsabkommen abschließen solle. Mehrfach hat der Kanzler die Kommission mittlerweile öffentlich gerügt, dass die Mitgliedstaaten ihr die Kompetenz für die Handelspolitik nicht ohne Grund übergeben hätten: So solle die EU-Kommission endlich für den Abschluss von mehr Freihandelsabkommen sorgen. Immer wieder erwähnt er dabei vor allem das Mercosur-Handelsabkommen mit den Staaten Südamerikas.

Bereits Anfang Juni hatte er mit Blick auf Freihandelsabkommen kritisiert: „Da muss mehr kommen. Die Dinge dauern zu lange, das ist nicht in Ordnung.“  Scholz ergänzte, nach der Europawahl müsse über einen schlankeren Prozess beraten werden, um ausgehandelte Abkommen auch abzuschließen. Dies hänge immer wieder an der mühsamen Ratifizierung in allen 27 EU-Ländern mit teils noch föderalen Strukturen, sagte er mit Blick etwa auf Belgien: „Das geht nicht.“ 

Der Kanzler versteckt seinen Frust nicht mehr. „Ich bin vielleicht neben der Chefin der WTO (Welthandelsorganisation) einer der letzten beiden Freihändler auf der Welt“, sagte er beim Verband der Chemischen Industrie am 12. September 2024. Am 2. Oktober sprach er dann schon von einer „unheilvollen Entwicklung“, weil immer mehr Staaten versuchten, sich zum Schutz ihrer Wirtschaft abzuschotten. Scholz macht der Kommission mittlerweile konkrete Vorschläge: Künftig sollten Handelsabkommen grundsätzlich als sogenannte „EU-only"-Abkommen ausgehandelt werden. Wenn etwa keine Investitionsbereiche betroffen sind, dann wäre eine Ratifizierung auch ohne die 27 EU-Mitgliedstaaten und nur durch das Europäische Parlament möglich. 
 

Ein Spaltpilz im Binnenmarkt

Zudem schlug Scholz vor, dass Teile der Abkommen, wenn sie doch national zustimmungspflichtig sein sollten, so abgeschlossen werden, dass sie für unterzeichnende Länder sofort in Kraft treten, auch wenn noch nicht alle EU-Staaten ratifiziert haben. Das klingt nach dem Ende einer Blockademöglichkeit durch einzelne Länder. De facto bedeutet dies aber, einen Spaltpilz in den EU-Binnenmarkt zu treiben, weil dann unterschiedliche Regelungen für unterschiedliche Volkswirtschaften gelten würden.

Scholz‘ Ungeduld lässt sich einmal dadurch erklären, dass er schon vor der erneuten Nominierung von der Leyens als Kommissionpräsidentin mehr Freihandel gefordert hatte – und die Kommission nicht auf dem Weg dorthin sieht. Vor allem aber kommt nun eine ungewöhnlich schwere wirtschaftliche Krise Deutschlands dazu. Die deutsche Wirtschaft kann es sich bei der tektonischen Verschiebung des Welthandels schlicht nicht mehr leisten, auf einen Schub durch Freihandelsabkommen zu verzichten.

Das doppelte Problem, das Scholz aus politischen Gründen nicht offen ansprechen will: Es gibt zwei Mitschuldige an der Situation. Das ist zum einen die Ampelkoalition selbst, weil Grüne und SPD-Linke darauf gedrungen hatten, das eigentlich ausgehandelte Mercosur-Abkommen nur mit zusätzlichen Garantien Brasiliens zum Amazonas-Schutz zu verabschieden. Scholz konnte sich lange nicht gegen den Koalitionspartner durchsetzen. Aber ein Jahr vor dem regulären nächsten Wahltermin hat der SPD-Politiker nun angekündigt, mehr Klartext zu reden.
 

Das Problem Frankreich

Das zweite Problem ist ausgerechnet der engste Partner Frankreich. Präsident Emmanuel Macron hat die Verabschiedung immer wieder verzögert, um Konkurrenz für die französischen Bauern und die Fleischindustrie abzuwehren. Auch der neue Ministerpräsident Michel Barnier hat Berlin wissen lassen, dass er den französischen Widerstand nicht aufgeben will. Schon unter Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte es in Berlin immer wieder Kritik daran gegeben, dass sich Macron zwar gerne als europäischer Präsident präsentiere, in entscheidenden Fragen aber allein französische Partikularinteressen vertrete. 

Das will Scholz bei aller deutsch-französischen Freundschaft nicht länger hinnehmen, weil es die geostrategischen Interessen der EU und Deutschlands unterminiert.  Der Frust über Frankreich an dieser Stelle ist auch deshalb so groß, weil sich Macron und Scholz eigentlich darüber einig waren, dass die EU ihre Abhängigkeiten reduzieren muss – auch von China. Dafür müssen aber die Bande mit allen anderen Handelspartnern verstärkt werden.
 

Beispiel drei: Strafzölle gegen China

Dies erklärt zum Teil auch die Entscheidung des Kanzlers, sich in Brüssel gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagenen und von Staaten wie Frankreich, Italien oder Polen unterstützten Strafzölle zu stellen. Scholz sieht eine gefährliche Tendenz, dass sich auch in der EU die protektionistischen Kräfte immer mehr durchsetzen – zum Schaden der deutschen Wirtschaft. Nichts anderes steckt aus seiner Sicht hinter der Verhängung der Strafzölle.

Dass die EU-Kommission trotz der Warnungen aus Berlin das Thema weiter forcierte und auch noch ein undurchsichtiges Verfahren wählte, bei dem auf importierte Autos der US-Firma Tesla weniger Strafzölle erhoben werden als etwa auf Autos einiger deutscher Hersteller, hat die Entscheidung noch beflügelt. Auch wenn Scholz die Entscheidung nicht mehr umstoßen konnte:  Das Nein ist eine deutliche Kampfansage an Ursula von der Leyen zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit. Der größte Mitgliedstaat hält das Vorgehen für falsch – und Scholz ist sich darin auch noch mit CDU-Chef Friedrich Merz einig.
 

Faktor Bundestagswahlkampf

Beschleunigt wird der Trend durch den heraufziehenden Bundestagswahlkampf, in dem sich vor allem die SPD und Scholz in der industriellen Krise die Rettung von Industriearbeitsplätzen auf die Fahnen geschrieben haben. Das erklärt, warum der Kanzler bei einem in der Ampel durchaus sensiblen Thema wie China nicht nachgeben wollte und will. Den Grünen wird – auch von der FDP – vor allem eine eher ideologische Haltung vorgeworfen, die über den gemeinsamen Wunsch nach Diversifizierung der Wirtschaft hinausgeht. Es sei eine schwierige Haltung, wenn die Grünen glaubten, dass sie besser als die Autokonzerne wüssten, was gut für die sei, heißt es. Scholz weist übrigens den Vorwurf einer China-Blindheit zurück. So hat er der Kommission gleichzeitig vorgeschlagen, sie möge gegen Peking doch lieber im Stahlsektor vorgehen, wo die Vorwürfe eines unfairen Wettbewerbs zutreffender seien.     

Dass Scholz dennoch Kritik einstecken musste, kümmert ihn weniger. Im Kanzleramt sitzt der Eindruck fest, dass Medien und andere Regierungen ohnehin mit zweierlei Maß messen. Wenn Macron mit Dutzenden Wirtschaftsvertretern nach Peking fliegt, löst dies wenig Kritik aus. Aber als Scholz auf seiner jüngsten China-Reise bewusst auf Milliardenaufträge verzichtete, um sich erst gar nicht der Kritik auszusetzen, in den deutsch-chinesischen Beziehungen herrsche Normalität, erntete er plötzlich Spott, weil „nur“ Abkommen zu Äpfeln oder Schweinefleisch unterzeichnet wurden.  Schon 2023 hatte er mit seiner Richtlinienkompetenz gegen Grüne und FDP den Einstieg der Staatsreederei Cosco in die Betreibergesellschaft eines der vier Container-Terminals im Hamburger Hafen durchgesetzt. Scholz hält wenig davon, einen der größten Handelspartner Deutschlands ständig zu verprellen. 
 

Beispiel vier: die Wirtschaftspolitik

In der Wirtschaftspolitik zieht das Industrieland Deutschland dagegen in der Kritik an der Kommission mit Frankreich an einem Strang. Einig sind sich Scholz und Macron vor allem darin, dass die EU-Kommission mit ihrer Regulierungspolitik in den vergangenen Jahren über das Ziel hinausgeschossen ist. Gemeinsam forderten sie mehrfach von Kommissionspräsidentin von der Leyen, dass sie nicht nur, wie zugesagt, 25 Prozent der EU-Vorschriften abschaffen, sondern möglichst auf neue Auflagen verzichten sollte.  

Die Fronten haben sich geändert. Genaugenommen schwenken Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck jetzt auf den Kurs einiger osteuropäischer Staaten wie Ungarn ein, die seit Langem beklagen, dass die EU den Mitgliedstaaten zu viele Vorschriften mache – auch wenn Viktor Orbán dies eher auf Rechtsstaatskriterien bezieht. Aber die unter anderem mit der Weltwirtschaft hadernde deutsche Industrie beklagt immer lauter, dass sie von einer immer weiter fortschreitenden EU-Regulierungsmaschine erdrosselt werde.

Auch hier überspielt die Vehemenz der Kritik an der Kommission, dass es gerade deutsche Regierungen unter Beteiligung von Union, SPD, Grünen und FDP waren, die selbst Vorhaben wie das Lieferkettensorgfaltsgesetz erst auf nationaler und dann auf europäischer Ebene gepusht hatten.  
 

Warum Scholz nicht nachgeben wird

Ob die Mahnungen viel nutzen, ist noch unsicher. Denn nun rollt auf die Firmen beispielsweise die nationale Umsetzung der sogenannten NIS-2-Richtlinie zu, die ein hohes gemeinsames Cybersicherheitsniveau in der EU schaffen soll. Im deutschen Gesetzentwurf zu NIS-2 heißt es, dass der höhere jährliche Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft rund 2,2 Milliarden Euro betrage. Dazu käme ein einmaliger Aufwand von rund 2,1 Milliarden Euro. So sinnvoll die Richtlinie auch nach Ansicht etwa der DIHK ist: Die zusätzlichen Belastungen liegen deutlich über den Entlastungen, die die Ampelregierung durch das beschlossene Bürokratieabbau-Paket gerade erreicht – was das Grundproblem in der EU derzeit im Wettbewerb mit den USA und China zeigt. Deshalb dürfte sich die Tonlage von Scholz in der Europapolitik vorerst nicht wieder verändern.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Online Exklusiv, 15. Oktober 2024

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Dr. Andreas Rinke ist Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

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