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01. Juli 2016

Bedingt lernfähig

Russland und die EU werden so bald keinen neuen Modus Vivendi finden

Innerhalb der EU hoffen viele darauf, im Verhältnis zu Russland wieder zur Tagesordnung übergehen zu können. Dabei mangelt es bei den Europäern nicht nur an Reflexion darüber, was auf EU-Seite zur Eskalation geführt hat. Was das Wesen des russischen Regimes angeht, übt man sich in vielen Hauptstädten weiter in Wunschdenken.

Mit der Ukraine-Krise hat sich das Misstrauen zwischen der EU und Russland vertieft, der Hang zu Fehlinterpretationen ist gewachsen. Der Grad der Entfremdung macht es schwer, Vertrauen wieder aufzubauen und Kommunikationsprobleme zu beseitigen.
Nicht wenige europäische Politiker haben gefordert, einen neuen Modus Vivendi zu schaffen und die seit der Krim-Annexion bestehenden Sanktionen schrittweise aufzuheben. Niemand weiß jedoch so richtig, wo man beginnen könnte und auf welchem Weg sich das erreichen ließe.

Wenn zugunsten einer Neukonfigurierung der Beziehungen zu Russland Prinzipien, Institutionen und Formen der Kommunikation neu definiert und begründet werden müssen, dann ist es eher hinderlich, sich ganz auf die Lage in der Ostukraine und die Umsetzung von „Minsk 2“ zu konzentrieren. Beide Seiten müssten aber solche neuen Grundlagen anerkennen, soll es zu einer Verbesserung der Beziehungen kommen. Ein solcher Prozess ist mit hohen Kosten und potenziellen Rückschlägen verbunden.

Eskalation mit Vorgeschichte

Die Eskalation des Konflikts um die Ukraine ist keineswegs aus dem Nichts gekommen ist, sondern hatte eine lange Vorgeschichte der Fehlinterpretationen und Entfremdung. Die Europäische Union und Russland haben in den vergangenen 15 Jahren eine Gipfeldiplomatie gepflegt, die ihresgleichen suchte, die aber genau das Gegenteil dessen bewirkt hat, was beabsichtigt war.

Anstatt mehr Vertrauen und Belastbarkeit zu schaffen und die Angleichung von Standards, Normen und Zielen zu erreichen, sind Misstrauen und Differenzen in fast allen Bereichen gewachsen. Anstelle vertiefter Integration als Ergebnis wachsender Interdependenzen zeigte sich lediglich eine Imitation einer strategischen Partnerschaft. Zu solchen Fehlentwicklungen gehören immer zwei. Die EU-Mitgliedstaaten haben daran jedenfalls einen wesentlichen Anteil.
Was will die EU eigentlich?

Es war von Anfang an ein Grundproblem der Beziehungen, dass die EU-Mitgliedstaaten nie eine gemeinsame Vision ihrer Ostpolitik hatten, keine gemeinsamen Interessen gegenüber der Region definieren konnten und damit sehr unterschiedliche Botschaften in Richtung Moskau und der anderen postsowjetischen Staaten ausgesandt haben. Während Deutschland, Frankreich und Italien stark auf die Wirtschafts- und Energiebeziehungen zu Russland setzten, traten Polen, Schweden und die baltischen Staaten als Anwälte der anderen postsowjetischen Staaten auf, insbesondere der Ukraine, Georgiens und Moldaus.

Die großen EU-Staaten entwickelten die Europäische Nachbarschaftspolitik nach den Erweiterungsrunden von 2004 und 2007 als Instrument, um die östlichen Nachbarn zu stabilisieren, sie vor allem aber außerhalb der EU zu halten. Dagegen setzten Polen und Schweden auf eine stärkere Integration dieser Staaten – gegen Moskau. Dabei ging es auch um eine Pufferzone zwischen Russland und den östlichen EU-Mitgliedern. Dieser Gegensatz ist nie richtig geklärt worden, verschärfte sich immer wieder an bestimmten strittigen Punkten wie der Ostsee-Pipeline (Nord Stream) und verhinderte eine gemeinsame Russland- und Ostpolitik der EU.

Gleichzeitig hat die EU-Kommission in einem technischen Prozess Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft ausgehandelt, die zu einem immer größeren politischen Konflikt mit Russland führten, der zur Jahreswende 2013/14 in der Ukraine endgültig eskalierte. Moskau hat die EU-Nachbarschaftspolitik als gegen Russland gerichtet aufgefasst. Die EU-Staaten wiederum haben nie offen mit Moskau über die geopolitischen Konsequenzen dieser Prozesse gesprochen, weil sie sie nicht zur Kenntnis nahmen. Dass die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Interessen im Osten Europas nie klar definiert und kommuniziert haben, hat maßgeblich zur Verschlechterung der Beziehungen mit Moskau beigetragen.

EU-Nachbarschaftspolitik ist immer mit Blick auf das entwickelt worden, was innerhalb der EU kompromissfähig ist, nicht aber, was in der Nachbarschaft nötig oder möglich ist. Dass die Staaten des ehemaligen Ostblocks sich in NATO und EU integrierten, konnte die russische Führung akzeptieren. Mit den baltischen Staaten, wo zum Teil bedeutende russische Minderheiten leben, war aber eine Schmerzgrenze erreicht.

Dass das postsowjetische „nahe Ausland“ eine zentrale Rolle im Selbstverständnis der russischen Eliten spielt, ist von der EU lange absichtlich oder unabsichtlich ignoriert worden. Russlands Selbstdefinition als Großmacht beruht wesentlich auf dem Verständnis seiner Rolle als Regionalmacht im postsowjetischen Raum. Jedes Engagement anderer in dieser Region führt zu Konflikten mit Moskau; dies hätte bei allen Aktivitäten und Angeboten einkalkuliert werden müssen.

Die Modernisierungspartnerschaft mit Russland, von Berlin konzipiert und 2010 auf EU-Ebene gehoben, ist weder von Moskau noch von den östlichen Mitgliedstaaten so interpretiert worden, wie von der Bundesregierung beabsichtigt. Zwar war die russische Führung an Technologietransfer interessiert, nicht aber an politischem oder gesellschaftlichem Wandel. Dass die Intensivierung von Wirtschaftsbeziehungen aber auch politische und gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen kann, hat Wladimir Putin bei den Massendemonstrationen gegen seine Rückkehr ins Präsidentenamt Ende 2011/Anfang 2012 zu spüren bekommen.

Aus Sicht der östlichen EU-Mitgliedstaaten war die Modernisierungspartnerschaft – ähnlich wie die Ostsee-Pipeline – vor allem ein deutsch-russisches Projekt, um über ihre Köpfe hinweg Geschäfte zu machen und Moskau mehr Einfluss auf EU-Politik zu gewähren. Diese Ängste, ob begründet oder nicht, wurden ignoriert, und das hat das Misstrauen der Ostmitteleuropäer weiter geschürt.

Dass Mechanismen zum Ausgleich unterschiedlicher Interessen in der Russland-Politik der EU-Mitgliedstaaten fehlten, hat zu einer Blockade von echten Fortschritten in der Russland- und Osteuropa-Politik der EU beigetragen. Die Ankündigung von Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel Ende Oktober 2015 in Moskau, dass er sich darum bemühen werde, dass Nord Stream 2 betreffende rechtliche Fragen „in der Kompetenz der deutschen Behörden“ blieben, um „Einmischung von außen zu beschränken“, bestätigen diese Ängste. Zugleich hinterlassen solche und ähnliche Einlassungen Gabriels bei der russischen Führung den Eindruck, dass die Bundesregierung ihre Position verändert habe bzw. gespalten sei – und dass dies auch für die Lösung des Ukraine-Konflikts gelte.

Grenzen bilateraler Beziehungen

Die EU ist ein seltsames Wesen, das die russische Führung nie richtig verstanden hat; sie hat allerdings gelernt, sie zu einem gewissen Grad zu manipulieren.

Der Versuch, über die großen Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich und Italien Entscheidungsprozesse im russischen Sinne zu beeinflussen, hat jedoch nur begrenzt funktioniert. Da Entscheidungen der Europäischen Union auf Kompromissen und Konsensfindung beruhen und selbst kleine Mitgliedstaaten diese beeinflussen oder blockieren können, werden auch Absprachen, die Moskau mit einzelnen großen EU-Mitgliedern getroffen hat, in der Kompromissmaschine EU zerrieben und verändert. Dies hat die russische Führung immer missverstanden und als Unzuverlässigkeit oder Teil eines Machtspiels interpretiert.

So hat Berlin zwar mit Moskau im Zusammenhang mit dem Meseberg-Memorandum vom Juni 2010 mehr Kompromissfähigkeit bei der Lösung des Konflikts um Transnistrien als Gegenleistung für ein EU-Russland-Sicherheitsformat ausgehandelt. Die Bundesregierung konnte diese Übereinkunft dann aber u.a. aufgrund fehlender Absprachen bzw. eines Konsenses innerhalb der EU nicht durchsetzen.

Ähnlich verhält es sich mit Versprechungen Gabriels, die Umsetzung von Nord Stream 2 zu beschleunigen. Der Wirtschaftsminister verschweigt dabei, dass diese Entscheidung in Brüssel getroffen wird und die für Energiefragen zuständige EU-Kommission sowie andere Mitgliedstaaten noch ein Wörtchen dabei mitreden werden. Solche nichterfüllbaren Zusagen befremden Moskau und führen zu dem Eindruck, hier bewusst vorgeführt zu werden. Das stärkt nicht gerade das Vertrauen.

Moskau versucht wohl regelmäßig, die EU-Mitgliedstaaten im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen, erreicht jedoch selten das gewünschte Ziel. Putin mag sich mit Ungarns Viktor Orbán oder dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras treffen und dabei strategische Partnerschaften und eine Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen ankündigen: Die Reichweite solcher Initiativen ist jedoch begrenzt. Tatsächlich sind es in erster Linie die Regierungen dieser EU-Staaten, die mit diesen Treffen demonstrieren wollen, dass es eine Alternative zur EU gibt. Dass Putin alle Möglichkeiten nutzt, die EU vorzuführen, kann man ihm in diesem Zusammenhang kaum vorwerfen.

Russland fehlt es letztlich jedoch an echten Partnern in der Europäiuschen Union. Moskau kann Mitgliedstaaten gegeneinander ausspielen oder mit populistischen Gruppen die bestehende Anti-EU-Debatte anheizen. Was es aber nicht kann: eine positive, integrative Agenda für beide Seiten setzen.

Dabei sind alle Vorschläge Moskaus für einen gemeinsamen Wirtschafts-, Energie- und Sicherheitsraum in Zeiten ignoriert worden, als die russische Führung noch zu Verhandlungen und Kompromissen bereit war. Jetzt, in dieser tiefen Vertrauenskrise, das Ziel eines gemeinsamen Wirtschaftsraums wieder auszupacken, wie es die Bundesregierung getan hat, wirkt in Moskau unglaubwürdig und liegt nicht mehr in dessen Interesse.

Instrumentelle Kooperation

Ein typisches Muster deutscher Russland-Politik besteht darin, über die Kooperation in „weichen“ Bereichen schwierige Fragen der Beziehungen zu Moskau zu bearbeiten. So soll ein EU-Dialog mit der Eurasischen Wirtschaftsunion (EWU) helfen, das Verhältnis mit Russland im Kontext der Ukraine-Krise zu verbessern.

Bei der Modernisierungspartnerschaft ging es darum, über die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen politischen und gesellschaftlichen Wandel in Russland zu fördern. Nun soll der Bau eines dritten und vierten Stranges der Ostsee-Pipeline nach Auffassung einiger deutscher Politiker helfen, verlorenes Vertrauen in Russland wieder zurückzugewinnen.

All das wird nicht funktionieren, wenn es kein gemeinsames Wertefundament gibt. Instrumentelle Kooperation ist etwas, was in Moskau durchaus als solche erkannt wird. Wenn die EWU von Russland als Instrument entwickelt worden ist, um den EU-Einfluss auf postsowjetische Länder einzudämmen, dann kann gerade solch ein Dialog nicht gelingen. Kooperations- und Kommunikationsangebote müssen nicht nur ernst gemeint sein, sondern auch einen Minimalkonsens über gemeinsame Interessen beinhalten.

Wertlose Exklusivität

Russlands West- und Eurozentrismus wird von einigen großen EU-Staaten durch eine „Russia first“-Politik beantwortet. Die gesamte Politik gegenüber der östlichen Nachbarschaft bis zur chinesischen Grenze ist seit dem Ende des Kalten Krieges unter dem Gesichtspunkt „Wie könnte Moskau darüber denken?“ behandelt worden. Die russische Führung hat neben der 2005 von Brüssel begonnenen Europäischen Nachbarschaftspolitik mit den vier „gemeinsamen Räumen“ (Wirtschaft; Freiheit, Sicherheit und Justiz; äußere Sicherheit; Forschung und Bildung sowie kulturelle Aspekte) eine exklusive Politik erhalten. Unter diesem Gesichtspunkt haben Deutschland und Frankreich auch eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens verhindert, um Moskau nicht zu provozieren.

Diese Politik hat die Länder der Region in ihrer Annäherung an EU und NATO in der Schwebe gehalten. Gleichzeitig sind weder diese Länder noch Russland jemals in funktionierende Institutionen integriert worden, die allen Sicherheit garantierten. Das Ergebnis war, dass Moskau den Eindruck hatte, alle exklusiven Angebote seien nur Lippenbekenntnisse. Zugleich hat der „Russia first“-Fokus dazu geführt, dass in den Zwischenländern keine echten Veränderungen gefördert worden sind.

Dabei hat Russland Treffen mit EU-Vertretern, die auf europäischer Seite als technischer Dialog mit Bürokraten geführt worden sind, vor allem wegen ihrer Exklusivität und hochkarätigen Besetzung zeitweise ernst genommen. Die Diskrepanz von Zielen, Prioritäten und Wahrnehmung des bilateralen Dialogs hat zu Frustration geführt. Moskau wollte auf höchster Ebene von gleich zu gleich über Interessen reden und Deals schließen, die EU-Vertreter haben vor allem eine schrittweise Annäherung zur Integration Russlands im Rahmen der Acquis communautaire verhandelt.

Das Normandie-Format zur Bearbeitung des Konflikts um die Ostukraine kommt den russischen Befindlichkeiten und dem Wunsch nach Exklusivität erneut entgegen. Moskau sieht sich nicht als Konfliktpartei und weist jegliche Verantwortung für den von ihm inszenierten Krieg zurück. Die teilnehmenden EU-Staaten Deutschland und Frankreich wiederum sind nicht in der Lage, für alle Mitgliedstaaten zu sprechen und einen Deal mit Moskau auszuhandeln. Auch hier wird Exklusivität also nur imitiert: Die russische Seite ist nicht bereit, an einer Lösung zu arbeiten, und Berlin und Paris haben kein ausreichendes Mandat.

Moskau wünscht sich im Grunde klassisches „bargaining“ unter Großmächten. In einer multipolaren und globalisierten Welt ist dies aber kaum umsetzbar. „Minsk 2“ ist in einer kleinen Runde zwischen den Staats- und Regierungschefs des Normandie-Formats ausgehandelt worden. Doch die Vereinbarung ist nicht nur in Teilen zu unpräzise und die vorgesehene Reihenfolge bei der Umsetzung kaum machbar. Sie ist auch unrealistisch, weil man die ukrainische Bevölkerung als handelnde Größe nicht berücksichtigt hat.

Eliten versus Zivilgesellschaften

Ähnliches gilt für die russische Bevölkerung: Die EU hat über Gipfeltreffen, Modernisierungspartnerschaft und Wirtschaftskontakte den Elitendialog mit Moskau gepflegt. Aber die russische Gesellschaft ist als eigenständiger Akteur nie ernsthaft ins Blickfeld genommen worden. Es gibt Feigenblätter wie den EU-Russland-Zivilgesellschaftsdialog, Investitionen in den Studenten- und Schüleraustausch oder eine Reihe von NGO-Kooperationen, die vor allem auf Ebene der EU-Mitgliedstaaten gefördert worden sind. Jedoch stehen diese Projekte angesichts ihres begrenzten Umfangs und ihrer geringen Finanzierung in keinem Verhältnis zum Eliten- und Wirtschaftsaustausch.

Dass Letzteres zu einem gesellschaftlichen Wandel führen könnte, sollte sich spätestens mit der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt 2012 als Illusion herausgestellt haben. Solange die EU die Kernbehauptung des Regimes akzeptiert, dass Putin Russland verkörpere, und solange der russischen Führung die Oberhoheit über zwischengesellschaftliche Kontakte – wie bis vor Kurzem beim Petersburger Dialog – zugebilligt wird, so lange wird EU-Politik in der russischen Zivilgesellschaft wenig Glaubwürdigkeit genießen. Die russische Gesellschaft sollte genauso ernst genommen werden wie die russische Elite. Ein echter Schritt zu gesellschaftlicher Annäherung wäre eine visafreie Einreise in die EU für die breite russische Bevölkerung.

Einflusssphäre abstecken

Ein „Dialog über Gemeinsamkeiten und Unterschiede“, wie ihn Außenminister Frank-Walter Steinmeier vorgeschlagen hat,1 funktioniert nur dann, wenn beide Seiten ein Interesse daran haben. Die russische Führung hat es nicht. Sie will vor allem auf Augenhöhe verhandeln und dann ihre Einflusssphäre abstecken. Das hat nichts mit Dialog zu tun, sondern mit divergierenden Interessen und der Akzeptanz von Unterschieden.

Auf absehbare Zeit werden Misstrauen und die Instrumentalisierung von Schwächen und Gegensätzen jeden Austausch erschweren. Ein Dialog über Differenzen ist nicht nur frustrierend. Ihm fehlt die Grundlage, nämlich ein gemeinsames Verständnis von Fakten, Prinzipien, Regeln und „roten Linien“. Ein Dialog über Unterschiede birgt zudem die Gefahr einer Legitimation des russischen Diskurses über Andersartigkeit, russische Werte, fehlende Vergleichbarkeit von Entwicklungen und russische Besonderheiten. Genau das aber sollte vermieden werden.

Ignorieren und schönreden

Bisher hat die EU eher versucht, die Unterschiede zu Russland zu ignorieren, sie sich als Teile einer Transformationsphase schönzureden oder sogar von einer gesetzmäßigen Entwicklung Russlands in Richtung westlicher Demokratie und Marktwirtschaft auszugehen. Was fehlte, war eine Anerkennung der Realitäten des Systems Putin und der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Russlands. Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine sollten diesen „reality check“ geliefert haben.

Jedoch scheinen eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten weiterhin nicht die Konsequenzen aus der russischen Politik zu ziehen und stattdessen baldmöglichst zu einem beiderseits akzeptablen Modus Vivendi zurückkehren zu wollen. Was, wenn die russische Seite das gar nicht will? Eine solche Haltung ist fortgesetzte Realitätsverweigerung, die der russischen Politik nicht gerecht wird und den Vertrauensverlust weiter befördern wird. Kompromisse mit und Appeasement-Politik gegenüber autoritären Regimen scheitern, da sie ein Zeichen von Schwäche sind und damit neue Aggressionen und erneute Konzessionen herausfordern.

Politik muss nicht über alles einen Dialog führen. Sie kann Unterschiede oder Realitäten anerkennen, ohne sie zu akzeptieren. Entscheidend aber ist, sich klar zu machen, wo die EU und ihre Mitgliedstaaten selbst stehen. Standortbestimmung und Interessendefinition sind zentral, um wieder in einen politischen Austausch mit Russland zu kommen. Dabei braucht es klare Ansagen und Konsequenzen für Nichteinhaltung von Absprachen. Alles andere bleibt Krisenmanagement und Beschwichtigungspolitik, führt aber nicht zu einer Lösung der Konflikte.

Halbherzige oder widersprüchliche Politik wird auch als solche erkannt und provoziert Reaktionen der russischen Führung. Das scheint im Moment der entscheidende Unterschied zwischen dem Kreml und vielen westlichen Regierungen zu sein: Putin ist lern- und anpassungsfähig, unsere Politiker sind es eher nicht.

Dr. Stefan Meister leitet das Programm für Russland, Osteuropa und Zentralasien am Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa der DGAP.

  • 1Vgl. Rede von Frank-Walter Steinmeier beim Egon-Bahr-Symposium, 21.4.2016.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 73-79

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