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02. März 2018

Bauboom in Melbourne

Doch ohne Investitionen aus China wird der Ausbau nicht machbar sein

Seit Jahrzehnten floriert die australische Wirtschaft ungebrochen. Hauptgewinner dieses Wachstums, das ohne die große Zuwanderung nicht möglich wäre, ist Melbourne, wo 17 neue Stadtteile entstehen sollen. Doch es mehren sich einwanderungsfeindliche Stimmen; und die Abhängigkeit von China wirft sicherheitspolitische Probleme auf.

Als das Geschäft mit Pferdewetten ­bereits viele Jahre blühte, profitierten die Betreiber der Rennbahn im Melbourner Stadtteil Flemington von einem unglaublichen Vorteil. Für das Gelände des ­Bundesstaats Victoria, auf dem seit 1840 Pferde um die Wette galoppieren, stand ein Pachtzins von drei Pfefferkörnern. Das Geläuf sei anfangs wirklich nicht viel mehr als drei Pfefferkörner wert gewesen, spottete Egon Erwin Kisch, Journalist und Autor, der auf seinen Weltreisen in den 1930er Jahren nach Melbourne kam. Bald gewann das Areal an Wert; dennoch weigerten sich die Rennbahnbetreiber, einen Kaufpreis zu entrichten.

Die Regierung von Victoria wollte die in der Bevölkerung beliebten Pferderennen aber nicht verbieten. So kam es zu jenem schier unglaublichen Handel, der den Aufstieg Melbournes zur Millionenstadt befeuern sollte: Für drei Pfefferkörner ließ die Regierung von Victoria Flemingtons „Lotterie mit vierbeinigen Losen“ weiterleben. Die Rennbahn wiederum lockte an manchen Tagen bis zu 130 000 Besucher an und sicherte somit der Staatskasse wichtige Steuereinnahmen. 

„Wer auf den neu entdeckten Goldfeldern Glück gehabt hatte, kam nach Melbourne zum Rennen, um das Glück von neuem auf die Probe zu stellen“, schrieb Kisch, der einstige Prager Polizeireporter und spätere Globetrotter. Er ­porträtierte Melbourne als Stadt voller Goldgräber, die von Pferden und Jockeys im Grunde nichts verstanden und dennoch mit hohen Einsätzen hantierten. Heute ist der Name Flemington ein Synonym für den Melbourne Cup, das Langstreckenrennen mit dem weltweit höchsten Preisgeld. Jedes Jahr gibt Victoria seiner Bevölkerung einen Tag frei, um mitzuzocken. Die Einsätze sind hoch wie nie zuvor, wenngleich Aus­tralier und Investoren aus Übersee inzwischen bevorzugt auf dem Immobilienmarkt der Stadt spekulieren.

Seit Jahren steigen die Preise für Einfamilienhäuser und Wohnungen – und das scheinbar unermüdlich. Die einen warnen vor einer „housing bubble“, vor zu hohen Einsätzen. Wiederholt war vom baldigen Platzen einer Seifenblase die Rede. Andere Beobachter des Geschehens meinen, zu einer „subprime mortgage crisis“ wie in den USA, die die Weltfinanzkrise 2008 auslöste, könne es überhaupt nicht kommen. Denn erstens seien die australischen Banken besser reguliert, und zweitens würde die Bonität ihrer Kunden ­besser geprüft.

Die Optimisten sind sicher, dass Australiens scheinbar endloser Wirtschaftsaufschwung weitergeht. Mit 104 rezessionsfreien Quartalen in Folge (seit 1991) hat der Inselkontinent 2017 den bisherigen Rekord der Niederlande (1982 bis 2008) eingestellt. Wirtschaftskolumnisten wie Ian Verrender mahnen jedoch, dass ein beständiges Wachstum ohne beständige Zuwanderung gar nicht möglich gewesen wäre. 

Die Tür bleibt offen

Um den Bestand der Zuwanderung braucht sich bislang aber niemand zu sorgen. Australien war, ist und bleibt ein Kontinent der Immigranten. Nach dem Zweiten Weltkrieg ­kamen überwiegend Briten und Iren, aber auch Griechen und Türken. Seit den 1970er Jahren stieg die Zahl von Einwanderern aus Südostasien und dem Mittleren Osten.

Als Australien infolge des Rohstoffhungers der aufstrebenden chinesischen Volkswirtschaft ab den Jahr 2000 besonders ­prosperierte, verzeichnete das Land sogar Zuwächse von bis zu einer halben Million Einwanderern pro Jahr.

„Doch was passiert“, fragt der Wirtschaftskolumnist Ian ­Verrender, „wenn wir die Tür schließen?“ Die Frage ist eher rhetorisch gemeint und die Antwort darauf einfach – die Tür bleibt offen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die seit 2013 regierende national-konservative Koalition keine Bootsflüchtlinge mehr aufnimmt, die über den Indischen Ozean nach Australien kommen. Denn diese sind nur eine kleine Gruppe von Zuwanderern. Die in Europa zuweilen verbreitete Schlussfolgerung, Australien sei ein „wehrhaftes Land“, weil es keine Ausländer mehr ins Land lasse, fußt auf profunder Unkenntnis. 

Die jüngste Bevölkerungsstatistik macht die tatsächlichen Verhältnisse in puncto Zuwanderung deutlich. Demnach sind nur 15,6 Millionen der heute rund 25 Millionen Einwohner in Australien geboren. Und nicht einmal dieser Bevölkerungsteil kann als alteingesessen gelten, denn etwa 500 000 gebürtige Australier haben chinesische Eltern oder Großeltern, weitere 450 000 sind indischer Abstammung. Andere Australier sind Nachfahren eingewanderter Philippiner, Vietnamesen, Malaysier, Sri-Lanker, Libanesen, Indonesier, Iraker, Thailänder, Iraker, Pakistaner, Iraner oder Nepalesen – um nur einige der größten Bevölkerungsgruppen zu nennen. Die australische Demografie lässt sich auf folgende Formel bringen: Australier sind Einwanderer und Nachfahren von Einwanderern, die aus fast allen Ländern der Erde kamen. 

Jedes Jahr wächst Australien um eine Großstadt mit 350 000 bis 400 000 Menschen – in der Summe doppelt so schnell wie die USA, drei Mal so schnell wie Großbritannien, vier Mal so schnell wie Frankreich. Bleibt es bei diesen Quoten, wird das Land im Jahr 2050 rund 38 Millionen Einwohner haben. Scott Morrison, Minister für Finanzen, umwirbt die Wählerinnen und Wähler gelegentlich mit der plakativen Aussage, die Regierung schaffe „jeden Tag 1000 neue Jobs“. Das klingt gut. Doch Morrison verschweigt einen nicht ganz unwichtigen Zusatz. 390 000 Menschen wanderten zwischen Juli 2016 und Juli 2017 nach Australien ein – also mehr als 1000 pro Tag. Würde die Wirtschaft nicht prosperieren, hätte die Regierung ein Problem: 1000 neue Arbeitslose, an jedem neuen Tag.

Rasantes Bevölkerungswachstum

Die meisten Zuwanderer zieht es in den Südosten des Kontinents, insbesondere in die beiden größten Städte, Sydney und Melbourne. Womit wir zurück wären in Melbourne mit seinen „urban sprawls“, wie die Auswüchse der Vorstädte hier genannt werden. Mit oder ohne Rennbahn, der einstige Vorort Flemington ist längst kein wertloser Grund am Rande der Stadt mehr. Vier Kilometer von Downtown Melbourne entfernt liegt Flemington heute mittendrin im Meer der Einfamilienhäuser.

Derzeit leben rund 4,8 Millionen Menschen in der Stadt, etwas weniger als in Sydney. 2050 jedoch wird Victorias Hauptstadt – mit dann acht Millionen Einwohnern – ­Sydney überholt haben, davon gehen Bevölkerungs­statistiker aus. Paul Bloxham, Chef­ökonom für Australien und Neuseeland bei der Großbank HSBC, sagt, die Nachfrage auf Sydneys Immobilienmarkt habe den Höhepunkt bereits überschritten. In Melbourne hingegen müssten Investoren im ersten Halbjahr 2018 mit einem nochmaligen Preisanstieg von bis zu 9 Prozent rechnen.

Melbournes dynamische Entwicklung brachte die Regierung Victorias 2017 in Zugzwang, ein umfassendes Konzept zur Stadterweiterung vorzulegen. Nach diesem Konzept entstehen gerade 17 neue Stadtteile am Reißbrett. Aufgrund seiner geografischen Lage im Halbkreis rund um die riesige Port Phillip Bay, die etwa doppelt so groß ist wie der Naturhafen von Sydney, kann sich Melbournes Metropolis noch relativ problemlos ausbreiten, insbesondere nach Norden und Westen. Einige der 17 geplanten Stadtteile sind aber rund 50 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die Regierung Victorias hat 20 Milliarden australische Dollar, umgerechnet 13 Milliarden Euro, für Infrastrukturmaßnahmen bereitgestellt. Alle Neubaugebiete sollen S-Bahn-Anschluss bekommen und Downtown Melbourne ein U-Bahn-Netz.

Städtebau ist Australiern eine Herzensangelegenheit. Mit sorgfältig designten Häuserfassaden, Straßenverläufen und Parkanlagen kompensiert man die Tatsache, dass es in Down Under kaum historisch gewachsene Strukturen gibt. Für den Betrachter aus der Alten Welt wirken solche Kunstwelten zuweilen ein wenig aufgesetzt. Immerhin können sich die Australier zugute halten, dass sie Bausünden europäischer ­Banlieues und Trabantenstädte bislang vermieden haben. Melbournes rasantem Bevölkerungswachstum hält die Planung jedoch seit vielen Jahren nicht mehr stand. 1,6 Millionen neue Häuser und Wohnungen brauche Melbourne bis 2050, mahnt die Regierung Victorias, die sich von der Politik in Canberra im Stich gelassen fühlt und dies mit amtlichen Zahlen belegen kann: Nur 7 Prozent des föderalen Infrastruktur­etats kommen im Bundesstaat Victoria an, in dem ein Viertel der australischen Bevölkerung lebt.

Eine Geldanlage für Chinesen

In dieser misslichen Lage sind ausländische Investitionen willkommen. Überwiegend fließen diese momentan aus der Volksrepublik China. Laut einer Studie der Australia and New Zealand Banking Group (ANZ) erwerben Ausländer zwischen 15 und 25 Prozent der Neubauten. Ein niedriges Zinsniveau und Steuervergünstigungen der aus­tralischen Bundesregierung für Hauskäufer haben diesen Trend gestützt.

Seit 2013 stieg der Anteil der ­Chinesen um das Drei- bis Vierfache. Die chinesische Mittel- und Oberschicht sieht in Australien und Melbourne laut der Studie „einen sicheren Hafen für eine Geldanlage“. Immobilien in Melbourne und Sydney wurden verstärkt zu Spekulationsobjekten.

Laut Recherchen der University of Sydney und von KPMG Australia erreichten chinesische Investitionen in Australien 2016 das höchste Niveau seit der Weltfinanzkrise 2008. Chinesen investieren in Australien gleichermaßen in private wie in Ge­werbe­immobilien. Hans Hendrischke, Professor des China Studies Centre in Sydney, ist einer der Autoren der oben genannten wissenschaftlichen Untersuchung.

Diese enthält erstaunliche Zahlen: Mit umgerechnet 58,5 Milliarden Euro seit 2007 ist Australien der weltweit zweitgrößte Profiteur chinesischer Direktinvestitionen, hinter den USA mit 65 Milliarden Euro. Deren Bevölkerung ist jedoch 15 Mal größer als die australische. 57 Prozent der Anleger aus China und Hongkong sagten in einer Umfrage der Financial Times, sie wollten künftig noch mehr auf dem fünften Kontinent ­investieren.

Vielen Australiern geht das zu weit, sie sehen sich als Verlierer dieser Entwicklung. Rechtsradikale Parteien protestieren gegen eine „Invasion des australischen Immobilienmarkts“. Zuletzt erhitzten sich Debatten über das richtige Maß an Zuwanderung und über die Rechte der Einwanderer. Während die Regierungskoalition Australien gelegentlich als Musterland für multikulturelle Integration preist, begegnet die australische Gesellschaft Immigranten mit verstärkter Ablehnung. Vielerorts macht sich eine ungute, feindselige Grundstimmung breit. Fremdenhass und Rassismus weiten sich aus.

Sinkende Nachfrage

Lange wähnten sich die Australier aufgrund des Rohstoffreichtums ihrer Heimat in einer Art Schlaraffenland. Doch seit 2013 fallen die Preise wichtiger Rohstoffe. Obwohl es zwischenzeitlich wieder leicht aufwärts ging, rechnen Fachleute jedoch durchaus auch mit weiteren Preisrückgängen. Nirgends spürt man das mehr als in ­Melbourne, dem Hauptsitz weltweit agierender Rohstoffkonzerne wie BHP Billiton und Rio Tinto. Stahlkocher brauchen Kohle und Erz als Zutaten, doch die sinkende Nachfrage aus China wird bis 2019 nach Analystenmeinung zu Preis­abschlägen von rund 10 Prozent beim Eisenerz und bis zu 30 Prozent für Kraftwerkskohle führen.

Neben der Rohstoffbranche gerieten weitere traditionelle Wirtschaftsbranchen ins Wanken. 2017 mussten die letzten verbliebenen ­Autobauer Australiens, darunter Toyota und General Motors, ihre Produktion ­einstellen. Eine Rückkehr zu Haushaltsüberschüssen, wie von der Regierung versprochen, ist derzeit unrealistisch. So hat sich die Brutto­staatsverschuldung in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdoppelt. Ratingagenturen stellten mehrmals Australiens mit AAA bewertete Bonität in Frage.

Australiens Schicksal ist seit der jüngsten Rohstoff-Rallye ganz besonders vom Appetit der Chinesen abhängig. Mit dem Import von Bodenschätzen ist die Volksrepublik im 21. Jahrhundert zu Australiens wichtigstem Wirtschaftspartner aufgestiegen. Zudem bilden rund 170 000 Chinesen seit Jahren die größte Gruppe der Gaststudenten in Down Under; sie studieren überwiegend wirtschafts- und ingenieurwissenschaftliche Fächer und wollen in Australien ihre Englischkenntnisse verbessern beziehungsweise erste Arbeitserfahrungen im Ausland sammeln. Nun werden Stimmen laut, chinesischen Studierenden den Erwerb von Immobilien zu verbieten, um einer weiteren Markterhitzung in den Metropolen gegenzusteuern.

Die chinakritische Stimmung in Australien mündete kurz vor Weihnachten in einen handfesten politischen Streit beider Länder, nachdem bekannt wurde, dass mehrere Abgeordnete und Parteien im Parlament von Canberra Spenden von chinesischen Geschäftsleuten empfangen und teils nicht deklariert hatten. Premierminister Malcolm Turnbull kündigte Gesetzesverschärfungen an, um politische Einflussnahmen aus dem Ausland zu unterbinden. Peking reagierte mit den Worten, Turnbulls Vorgehen hätte die bilateralen Beziehungen „vergiftet“.

Malcolm Davis, Militärexperte des Australian Strategic Policy Institute, sieht in der scharfzüngigen Reaktion der Staatsführung in Peking mehr als einen Interessenkonflikt. Davis spricht von einem „Versuch, Australien einzuschüchtern“, Peking erhoffe sich militärstrategische Vorteile in der Region. „Ziel ist ganz offenbar, dass sich Australien mit China verbündet und die Allianz mit den USA beendet“, sagt Malcolm Davis. „Wir Australier sind gerade dabei, gegen diese Entwicklung anzukämpfen.“

Gescheiterte Projekte als Lehrgeld

Mit welchem Gegenwind chinesische Investoren künftig rechnen müssen, zeigt sich erneut rund um Melbournes Rennbahn, im Stadtteil Flemington. Für umgerechnet 29,3 Millionen Euro hatte die Schanghaier Greenland Holdings vor ein paar Jahren Grundstücke erworben. Der zweitgrößte chinesische Immobilienentwickler hatte Großes vor: Mächtige Apartmentblocks für 2200 Menschen sollten entstehen, 14 bis 31 Stockwerke hoch.

Victorias Regierung hatte das ­Projekt vor einem Jahr genehmigt, verlangte nach Protesten der Anwohner jedoch Bescheidenheit von den Planern, und bei 15 Stockwerken müsse Schluss sein. Dem ­Konzept von Greenland fehle zudem eine ­angemessene Verkehrsanbindung, und der Stadtteil würde zu sehr ­verdichtet.

Die Chinesen wollten ihr Projekt nicht zurechtstutzen lassen. Sie haben den Vertrag mit dem Rennbahnbetreiber zwischenzeitlich gekündigt. Offenbar mit der Erkenntnis, dass Projekte in Melbourne – anders als in Schanghai oder Peking – nicht gegen den Willen der Anwohner durchgeführt werden können. „Gescheiterte Projekte sind das Lehrgeld, das wir Chinesen zahlen“, sagte Wang Jianlin, Gründer des Immobilienentwicklers Wanda Group, gegenüber dem Wall Street Journal, „die Hälfte aller chinesischen Auslandsakquisitionen werde scheitern“.

Doch ohne chinesisches Kapital dürfte Melbournes großangelegter Ausbau kaum zu bewerkstelligen sein.

Jörg Schmilewski berichtet seit 2007 als Korrespondent deutscher Medien aus ­Australien und Süd­ostasien.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 112 - 117

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