Was für ein schlechter Deal
Der Siemens-Konzern hat mit seinem Geschäft bei der umstrittenen Kohlemine Carmichael in Australien enorm an Ansehen verloren. Die Vereinbarung mit dem indischen Rohstoffriesen Adani zur Lieferung von Zugsignaltechnik im Wert von 18 Millionen Euro hat zu massiven Protesten geführt. „Das hätten wir nie machen dürfen“, so Vorstandschef Joe Kaeser. Doch für eine Aufkündigung sei es zu spät.
Worauf hat sich Siemens in Australien bloß eingelassen? Für Tim Buckley vom Institute for Energy Economics and Financial Analysis in Sydney ist die Verpflichtung des Siemens-Konzerns, als Zulieferer für die bei voller Auslastung weltgrößte Kohlemine „Carmichael“ des Adani-Konzerns zu fungieren, schlicht „unfassbar“. Quentin Beresford, Autor des Buches „Adani and the war over coal“, spricht von einem „schrecklichen Fehler“ des deutschen Technologiekonzerns und von einer Steilvorlage für Umweltaktivisten, Siemens' Reputation anzugreifen.
Als im Dezember in Australien ein verheerender Sommer begann, in dessen Verlauf im Südosten des Inselkontinents 130.000 Quadratkilometer Wald abbrannten, überraschte Siemens mit seiner Ankündigung, im Auftrag des indischen Rohstoffförderers Zugsignaltechnik für den Kohletransport zu installieren. Der Ertrag für Siemens: gering. Die Risiken: exorbitant. Nach eigenen Finanzkennzahlen machte die Siemens AG im Geschäftsjahr 2018/19 einen Gesamtumsatz von 86,8 Milliarden Euro. Das Auftragsvolumen für Signaltechnik in Australien beläuft sich auf etwa 18 Millionen Euro. „Das ist kaum lukrativ für ein Großunternehmen“, meint Quentin Beresford.
Schlecht für die Umwelt, schlecht fürs Ansehen
Die geplante Mine Carmichael konterkariert internationale Bemühungen für mehr Klimaschutz; zudem werden durch den Kohleabbau Kultstätten der Aborigines zerstört. Entlang des infolge der Ozeanerwärmung bereits stark geschädigten Great Barrier Reef sollen Frachtschiffe in Richtung Indien kreuzen. Dafür wiederum muss ein Kanal vom Verladehafen durch das Korallenriff gebaggert werden, 38 Millionen Kubikmeter des Meeresbodens will Adani im Gebiet des UNESCO-Welterbes bewegen. Und nicht nur bei diesem Vorhaben droht dem Geschäftspartner Siemens – das ist nicht schwer vorherzusagen – weiterer Ansehensverlust.
„Eine Missachtung von Umweltaspekten können sich führende Unternehmen heute nicht mehr leisten“, sagt Politik-Professor Beresford, der sich intensiv mit dem gesellschaftspolitischen Ringen um eine Ausweitung des Kohleabbaus in Australien befasst hat. Nicht allein bei Klimaaktivisten würde der Adani-Deal nicht gut ankommen, meint Beresford, das hätte der Vorstand des deutschen Technologiekonzerns wissen können. Siemens' zuvor sorgsam gepflegtes Mantra, bis zum Jahr 2030 der weltweit erste klimaneutrale Großkonzern werden zu wollen, ist dahin. Wochenlange Proteste, zunächst in Australien und später anlässlich der Jahreshauptversammlung in München, hätte die Siemens-Führung antizipieren müssen. Tim Buckley, ein früherer Investmentbanker der Citigroup, sieht in dem Vertragsabschluss mit Adani „ein komplettes Versagen der Unternehmensführung von Siemens“ und spricht von „der größten Beschädigung eines Markennamens der letzten Jahre“.
Beim Wirtschaftskongress der Grünen-Bundestagsfraktion Ende Februar räumte Siemens-Chef Joe Kaeser ein, der Abschluss des Zuliefervertrags sei ein Fehler gewesen. „Das hätten wir nie machen dürfen“, sagte der Vorstandsvorsitzende, Unternehmen müssten „der Gesellschaft dienen“. Die australische Mine würde zwar auch ohne deutsche Signaltechnik laufen, doch die Reputation seines Unternehmens habe gelitten. Wir haben „die Lektion gelernt“, sagte Kaeser. Die getroffene Vereinbarung könne er aber aus Gründen der Vertragstreue und der Glaubwürdigkeit nicht kündigen.
„Siemens hat offenbar kein Warnsystem“, meint Buckley, „das die Konzernführung von Geschäftsabschlüssen abhält, die nicht mehr in die Zeit passen.“ Unternehmen mit einer Marktposition wie Siemens sollten vor Vertragsabschlüssen wissenschaftliche Expertise einholen, um Klima- und Umweltschäden einschätzen zu können, die von Projekten wie der Carmichael-Mine ausgehen. Ganz offenbar hat das Geschäft mit Zugsignaltechnik in Australien das Potenzial, als einer der schlechtesten Deals in die deutsche Wirtschaftsgeschichte einzugehen. Zwar hat die Adani Mining Pty Ltd auch zahlreiche andere Vereinbarungen mit australischen Zulieferern geschlossen, die einseitig eigene Interessen berücksichtigen. Doch es bleibt die Frage, warum ein Schwergewicht wie Siemens mit Adani nicht annähernd auf Augenhöhe verhandeln konnte.
Das Great Barrier Reef – größter Friedhof der Weltmeere?
250.000 Quadratkilometer umfasst das australische Galilee-Becken, in dem – nicht nur Adani – in den kommenden Jahrzehnten Kohle abbauen will. Das weltweit letzte große Reservoir für die Kohleförderung ist gut sechs Mal so groß wie das Staatsgebiet der Niederlande. Die Mine Carmichael soll nach Plänen der australischen Regierung aber nur der Auftakt sein für eine neue Phase großräumiger Kohleförderung. Und das, obwohl Australien damit sowohl auf dem fünften Kontinent als auch weltweit zum GAU für den Klimaschutz wird. Das Great Barrier Reef mit seinen Korallen, die sich über mehrere Tausend Kilometer entlang der australischen Ostküste erstrecken, droht bei einer weiteren Erwärmung zum größten Friedhof der Weltmeere zu werden.
Australien, der im Weltvergleich größte Exporteur von Steinkohle, verfügt über rund 10 Prozent der globalen Vorkommen, bei gleichbleibendem Abbau werden diese erst im Jahr 2130 erschöpft sein. Mit der Kohle macht Australien derzeit jährlich rund 36 Milliarden Euro Umsatz. Addiert man Öl- und Gasexporte, verdoppelt sich dieser nahezu. Braunkohlevorkommen reichen nach Regierungsangaben noch für 540 Jahre, bis in das Jahr 2560. Derzeit verursacht der Inselkontinent rund 5 Prozent der globalen Emissionen des Klimagases Kohlendioxid. Mit den Kohleplänen der Regierung heizt Down Under die Erderwärmung weiter an. Bis zum Jahr 2030, so hat es die Denkfabrik Climate Analytics errechnet, dürfte Australien für bis zu 20 Prozent der weltweiten Kohlendioxidemissionen verantwortlich sein.
In der umstrittenen Großmine Carmichael könnten bis zum Jahr 2080 insgesamt 2,3 Milliarden Tonnen Kohle gefördert werden. Adani will damit 1,4 Milliarden Menschen in Indien versorgen. Doch der frühere indische Energieminister E.A.S. Sarma mahnt, das funktioniere nicht, australische Kohle sei für die indische Bevölkerung unerschwinglich. Der Marktpreis für Kohle beträgt derzeit rund 75 Dollar pro Tonne. Um profitabel zu sein, müsste Adani jedoch mindestens 100 Dollar pro Tonne erzielen. Piyush Goyal, Sarmas Nachfolger als Energieminister, weist auf ein weiteres, kapitales Hindernis hin: Indien müsse und wolle keine Kohle importieren – weder aus Australien noch aus irgendeinem anderen Land. Man habe ausreichend Kohlereserven, sagt Goyal.
Das Carmichael-Projekt: auch in Australien äußerst umstritten
Die Adani Group ist ein Mischkonzern, der außer im Rohstoffsektor auch in den Bereichen Landwirtschaft, Energie und Logistik Geschäfte macht. Adani-Gründer Gautam Adani wollte mit seinem vor 32 Jahren gegründeten Unternehmen mit Sitz in Ahmedabad eigentlich schon vor zehn Jahren mit der Kohleförderung im australischen Galilee-Becken beginnen. Doch erst nach zahlreichen Debatten und Prüfungen erhielt die geplante Großmine Mitte 2019 eine Betriebserlaubnis mit Umweltauflagen. Um die Erlaubnis zum Kohleabbau zu bekommen, investierte die Adani Group mehrere hundert Millionen Euro in den Verladehafen Abbot Point am Great Barrier Reef.
Doch Adani scheint – wie nun auch Siemens und dessen CEO Joe Kaeser – den weltweiten Widerstand gegen neue Kohleminen unterschätzt zu haben, der durch die massiven Buschbrände in Australien noch weiter zugenommen hat. „In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Vorstände australischer Unternehmen gegen neue Vorhaben der einflussreichen Kohleindustrie gestellt“, sagt der Buchautor Quentin Beresford. Adani wiederum habe australischen Banken „keinen einzigen solventen Abnehmer“ für seine Kohle präsentieren können, wie Energie-Fachmann Tim Buckley betont. Deshalb finanziere Adani die Mine Carmichael fast ausschließlich aus eigenen Mitteln und jongliere mit künftigen Erträgen. Im schlimmsten Fall droht die Insolvenz, sagt Buckley.
Auf wen also hat sich Siemens eingelassen? Analysten nennen den indischen Mischkonzern „ein undurchsichtiges Unternehmensgeflecht mit miserabler Bonität“. Die Finanzierung der Mine Carmichael stütze sich im Wesentlichen auf einen Milliardenkredit der indischen Staatsbank SBI. Die finanzwissenschaftliche Fakultät der University of Sydney hat indes errechnet, dass die Adani Mining Pty Ltd bei einem Anlagevermögen von 18 Millionen Euro Verbindlichkeiten von 1,1 Milliarden Euro aufweist. „Adani Mining ist in einer zerbrechlichen, wenn nicht gefährlichen Lage“, sagt die leitende Professorin Sandra van der Laan. „Die Kluft zwischen Anlagevermögen und den Verbindlichkeiten ist besorgniserregend.“ Der Konzern wachse seit einigen Jahren nur noch durch Übernahmen von Pleitefirmen, habe negative Erträge angehäuft und werde „viele Jahre keine nennenswerten Unternehmenssteuern in Australien bezahlen“, sagt die Finanzwissenschaftlerin und verweist auf den Kohlehafen Abbot Point, der seit der Übernahme 2011 nur marginale Steuerbeträge abgeführt habe. „Adani erwirtschaftet zu wenig Ertrag, um seine Schuldzinsen zu bezahlen, geschweige denn, um seine Schuldenlast zu vermindern“, fügt van der Laan hinzu.
Adani bestreitet alle Vorwürfe
In Indien wird seit Jahren gegen den Energiekonzern ermittelt. Rajesh Adani, Geschäftsführer von Adani Enterprises Ltd, wurde wegen Korruptionsverdachts schon mehrmals verhaftet und kam erst nach Kautionszahlungen wieder frei. „Solche Verdachtsmomente gegen den Geschäftsführer, also gegen einen operativen Arm des Konzerns, sind besonders relevant“, meint der australische Korruptionsexperte David Chaikin. „Ein Unternehmen wie Siemens sollte sie nicht ignorieren.“ Dem indischen Mischkonzern wird angelastet, Kohleimporte und Investitionsgüter überteuert und somit nicht korrekt abgerechnet zu haben. „Seit seiner Gründung wurden dem Adani-Konzern wiederholt Geldwäsche und Steuerhinterziehung vorgeworfen“, sagt Chaikin. Bestechungsgelder flossen offenbar an indische Beamte von Hafen- und Zollbehörden, an Polizeibeamte und Parlamentsabgeordnete. Adani bestreitet alle Vorwürfe.
In Australien ist der Ruf des Adani-Konzerns stark beschädigt. Zum einen sei absehbar, sagt Tim Buckley, „dass Adani niemals wirklich Steuern zahlen wird“. Darüber hinaus hat der indische Rohstoffförderer Investitionszulagen von 420 Millionen Euro beantragt, die noch nicht ausgezahlt wurden. Weil Adani nach Auffassung der Regierung des Bundesstaats Queensland teils irreführende Angaben gemacht hat, könnte die Zulassung der Carmichael-Mine jederzeit, auch kurzfristig, widerrufen werden. Und noch etwas kommt im properen Australien nicht gut an: Adanis Subunternehmen, das die Bahnstrecke zur Mine Carmichael baut, hat seinen Firmensitz auf den Cayman Islands, einer Steueroase. „Weder Banken noch Regierungen sollten Projekte finanzieren, die sich auf Unregelmäßigkeiten oder Gesetzesverstößen gründen“, meint Chaikin. Dem Konzern werden zudem zahlreiche Verstöße gegen Umweltschutzauflagen zur Last gelegt. Anfang des Jahres ist Adani von einem australischen Gericht deshalb zu einer Strafzahlung in Millionenhöhe verurteilt worden.
Das Geschäftsklima wird rauer
„Kohleförderung ist auch in Australien ein Auslaufmodell, die Tage des Kohleabbaus sind gezählt“, sagt Quentin Beresford, „obwohl die beiden großen Parteien australischen Wählern weiterhin erzählen, der Kohleabbau sichere Arbeitsplätze.“ Auch Tim Buckley rechnet mit dem Kohleausstieg seines Landes „in spätestens 20, 30 Jahren – wahrscheinlich früher“.
In den vergangenen Jahren scheiterte der Rohstoffriese Adani bereits mehrmals mit dem Versuch, Bankkredite für die Großmine Carmichael zu akquirieren. Viele der bislang 20 größten Finanziers von Kohleprojekten schlossen künftige Kredite kategorisch aus – darunter die Deutsche Bank, Barclays, BNP Paribas, Goldman Sachs, HSBC, JP Morgan Chase, Royal Bank of Scotland, Société Générale und Citigroup. Als der gesellschaftspolitische Druck zunahm, die als besonders klimaschädlich eingestufte Kohleförderung zu stoppen, zogen sich auch die großen australischen Geschäftsbanken Commonwealth Bank, NAB und Westpac aus der Finanzierung zurück. ANZ, lange Zeit Australiens größter Kreditgeber der Kohleindustrie, reduzierte seine Kreditvergabe kürzlich um fast 75 Prozent. Und auch auf finanzielle Hilfe aus Peking muss Adani verzichten: Bereits Ende 2017 zog sich die „China Machinery Engineering Corporation“ aus dem Projekt Carmichael zurück.
Auch lässt sich die Kohleförderung kaum noch versichern; Branchengrößen aus den USA wie Liberty und Chubb verweigern Adani jeglichen Versicherungsschutz. Hier schließt sich der Kreis: Wegen steigender Risiken infolge der Erderwärmung gelten Minen als nicht mehr versicherbar, da sie selbst Opfer häufigerer Extremwetterereignisse, von Überschwemmungen oder Wirbelstürmen, werden. Risiken für Unternehmen der Kohleindustrie steigen zudem deshalb, weil sich diese künftig zunehmend in Gerichtsverfahren verantworten werden müssen. Marktbeherrschenden Unternehmen wie Adani, meinen Analysten, wird deren Anteil am Klimawandel einfacher nachzuweisen sein.
Auch die australische Notenbank RBA gibt sich bezüglich der Zukunftschancen des Kohleabbaus keinen Illusionen mehr hin. „Der Ausblick für Preise und Nachfrage wird immer ungewisser“, heißt es in einer Erklärung. Die Botschaft der Banken ist eindeutig: Die Risiken für Investitionen in die Kohleverstromung sind zu groß geworden, da diese einen erheblichen Kapitaleinsatz und lange Laufzeiten voraussetzt, um überhaupt Erträge erzielen zu können.
Nach mehreren Absagen von Technologieanbietern ist Siemens seit Dezember 2019 Adanis letzte Hoffnung für die Fertigstellung der Bahnstrecke zum Kohlehafen Abbot Point. Der Tageszeitung Die Welt sagte Siemens-Chef Kaeser, eine Rückgabe des 18-Millionen-Euro-Auftrags könnte schlimmstenfalls die Existenz des von ihm geführten Unternehmens gefährden. Offenbar beinhaltet der Vertrag äußerst unvorteilhafte Konditionen für Siemens, etwa eine „nicht limitierte Schadensersatzpflicht bei einseitiger Kündigung“, wie Kaeser in einem Interview am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos gestand. Professor David Chaikin von der University of Sydney hält diese Aussage für „unklug“, sogar für „nahezu unglaublich“. Es stelle sich nun die Frage, wer bei Siemens aufräumen werde, meint Chaikin, angesichts des entstandenen Schadens, den der Ruf des Konzerns bei Vertragsabschlüssen erlitten habe.
Vor Kurzem gab Siemens bekannt, dass Vize Roland Busch Joe Kaeser an der Konzernspitze ablösen werde; laut Siemens erst im Februar 2021, nach Einschätzung von Insidern aber womöglich bereits in diesem Sommer.
Jörg Schmilewski berichtet seit 2007 als Korrespondent deutscher Medien aus Australien und Südostasien.
Internationale Politik, Online exklusiv, April 2020