Baltische Brückenfunktion?
Die Entscheidungen sind gefallen: die baltischen Länder werden in die NATO und in die EU aufgenommen. Peer Lange untersucht, mit welchen Hoffnungen die Balten in diese Organisationen gehen und welche Aufgaben sie dort an der Nahtstelle zu Russland wahrnehmen können.
Das allen drei Baltenstaaten gemeinsame höchste Ziel ist erreicht: durch Westintegration gesicherte Freiheit. Und nun? Ursprünglich ging es um Freiheit von und Sicherheit vor Russland – jetzt mutiert der vormals wichtigste Bedrohungsfaktor zum Eckpfeiler: Sicherheit nicht vor, sondern in Partnerschaft mit Russland. Deklaratorische baltische Verlautbarungen pflichten dem bei, doch werden periodische Ausbrüche innerer wie äußerer „Machtpolitik“ des Kreml in den verletzlicheren Kleinstaaten an der neuen Grenzlinie Europas skeptischer bewertet als nach westlicher strategischer Lesart – zumal der geschichtsbelasteten deutschen. Dies unterschiedlich ansetzende und begründete Sicherheitsempfinden wird in die baltische Mitgliedschaft in der EU hineingetragen werden – ist doch die mit Königsberg/Kaliningrad verbundene „Korridorfrage“ (zu Land, wie ohne Visumproblematik zur See) ebenso sicherheitspolitisch relevant wie etwa die Luftraumüberwachung durch BALTNET bis hinter Moskau. Sicherheitsgestaltung im baltischen Raum reflektiert stets die Gravitationsfelder zwischen Europa, Russland und vor allem den Vereinigten Staaten als transatlantischer Vor- und Schutzmacht insgesamt.
Die Vereinigten Staaten wurden im letzten Jahrzehnt bestimmend für den baltischen Zugang zur westlichen Integration – nicht nur zur NATO. Dass sie sich im Norden Europas nicht weniger als im Süden engagierten, verweist – vom europäischen Denken weitgehend vernachlässigt – auf eine vergleichbar gewichtige geostrategische Bewertung beider Flanken. In den baltischen Nationen bieten sich den USA im künftigen europäischen Konzert wohltemperierbare Stimmen ohne den Eigenwillen der Briten.
Ihr Status als Kleinstaaten wurde den baltischen Nationen von Anbeginn ihrer Selbstbefreiung an mannigfaltig bewusst gemacht, verbunden mit folgsamer Anpassung (vom Umgang mit der Minderheitenproblematik bis zum Verzicht auf eigene atomare Energiegewinnung). Erkennbar folgt hieraus das Bestreben, Eigeninteressen in einem „caucus“ der Kleinstaaten zu sichern – wie etwa in der Frage europäischer Strukturreformen – und es wird sich darin nicht erschöpfen. Ein vitales Nationalstaatsbewusstsein tritt hinzu – dem sich das Vakuum einer unerledigten nachhaltigen Stabilisierung der Erweiterung durch zielführende Vertiefung eröffnet. Der Aufbruch aber, den die befreiten baltischen Völker überwiegend aus eigener Kraft leisteten, bereichert Europa.
Die Europäische Union lockt neue Länder bisher durch wenig mehr als die Vorteile einer protegierend freien Handelszone mit vereinheitlichten Standards, aber unter erschwerten Rahmenbedingungen. Noch immer geht kein Ruck mitreißender Zielsetzungen durch Europa. Die deklamierte Modernisierung (Regierungskonferenz Brüssel 2000) als Standortbestimmung im Umfeld der Globalisierung blieb Wortlaut. Kein umfassendes, gesamteuropäisch integriertes, arbeitsteilig strukturiertes und identitätsstiftendes Militär- und Verteidigungsdispositiv reifte, das die divergierenden regionalen Positionen synergetisch umfasst und zugleich mehr Gefährdungen abdeckt als nur die aktuelle des extremistischen Terrors. Kein „Vaterland Europa“ vermag bisher die Priorität nationaler Interessen zu verdrängen.
Dem Acquis communautaire haben sich die baltischen Anwärter bestrebt angepasst. Aber den Beitrittsverhandlungen mangelte es an Initiativen zur „Vertiefung“ der EU. Allenfalls nach erfolgter Mitgliedschaft sind solche zu erwarten. Die einstige Vision herausgehobener Brückenfunktion zwischen der EU und dem ehemaligen sowjetischen Wirtschaftsraum ist eher von der deutschen Wirtschaft mit ihrer größeren Kapazität besetzt worden und baltischer Einnistung in Nischen des westlichen Marktes gewichen. Bisher budgettragende Transitleistungen (insbesondere der Häfen) stehen vor nachhaltiger Umstellung. Die industrielle Fähigkeit konnte nicht wieder an diejenige der Zwischenkriegszeit (soweit vorhanden) anknüpfen, erlaubte aber eine dynamische Schwerpunktverlagerung auf Dienstleistungen. Eine schwerlich konkurrenzfähige baltische Landwirtschaft bedeutet für die EU weniger ein wirtschaftliches als ein sozialpolitisches Problem – auch wenn in ihr nicht ein so großer Prozentsatz der Bevölkerung wie in Polen ohne Arbeitsalternative gebunden ist. Als Beschäftigungsbrache nach dem Kollaps sowjetisierter Industrie stellen sich die russischsprachigen Minderheiten ebenfalls eher als ein sozialpolitisches denn menschenrechtliches Problem dar, das schwerlich allein von den baltischen Ökonomien gelöst werden kann und nach Meinung baltischer Politiker ein Reservoir migrationsbefähigter „Eurorussen“ bildet.
Wirtschaftlich sind die baltischen Staaten als großes europäisches Problem zu klein, geostrategisch hingegen größer als sie scheinen – und als Spielbälle großer Mächte stets am gefährlichsten.
Internationale Politik 1, Januar 2003, S. 21 - 22