Reportage

01. Mai 2020

Ausgeblendet

Seit fünf Jahren leben Zehntausende Geflüchtete in prekären Zuständen auf den Ägäischen Inseln. Bei ihrer Versorgungsverantwortung hebelt die EU die selbst auferlegte Rechtsstaatlichkeit kontinuierlich aus. Die schwerwiegenden Folgen für die Geflüchteten, die lokale Bevölkerung und die humanitären Helfer sind nicht erst in Zeiten einer globalen Pandemie auf der Insel Lesbos zu beobachten.

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Bild: Flüchtlinge im Lager Moria auf Lesbos
Frisches Trinkwasser neben Müllbergen: Im und um das Flüchtlingscamp Moria herum leben vier Mal so viele Menschen wie ursprünglich geplant.
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In einen roten Schal gehüllt, lacht die kleine Frau aus ihrem Krankenhausbett. Hinter ihr grüßt die Heilige Maria von der Wand. Ihr gegenüber liegen drei ältere griechische Patientinnen. Es ist Ende Februar im Nicosia-Krankenhaus in Athen. In diesen Tagen gibt es noch keine Corona-Patientinnen. Trotzdem sind die Zimmer gut ausgelastet.



Seit sieben Tagen ist die 65-jährige Sirad Meygaog hier. Ein Jahr lang lebte sie in einem kleinen Zelt auf dem alten Militärgelände von Moria auf der Insel Lesbos. Mit schwerem Brustkrebs und einem wachsenden Tumor versuchte sie, im Hafenkrankenhaus behandelt zu werden. „Es gab entweder nicht die richtigen Geräte oder kein Personal“, sagt Meygaog, „ich hatte nur noch eine Chance.“ Zusammen mit ihrer Tochter stieg sie auf die Fähre und fuhr in den Hafen von Piräus, um sich von dort aus schnell selbst einzuweisen. Das Nicosia-Krankenhaus nahm sie auf. „Glück hatte ich“, sagt sie, „sonst würde ich jetzt auf dem Parkplatz leben oder noch immer in Moria.“ Meygaog hatte einen blauen Stempel im Ausweis, der es im Ausnahmefall ermöglicht, als Asylantragsteller auf den Ägäischen Inseln auf das Festland zu reisen. Heute, zwei Monate später, hätte Meygaog die Fähre nicht mehr besteigen können.



Amina Abdi Salah setzt sich neben ihre Mutter auf das Krankenhausbett. Sie ist zum dritten Mal innerhalb eines Jahres zu ihrer Mutter nach Griechenland geflogen, um sich um sie zu kümmern. Seit zehn Jahren lebt Salah in Dänemark. Nach einer schweren Explosionsverletzung floh sie selbst nach Europa. Ihre Mutter konnte sie nicht nachholen, der Familienzusammenführung wurde nie stattgegeben. „Die Frauen in Moria vermissen sie bestimmt schon“, sagt Salah, „meine Mutter fängt immer an zu singen oder hat einen Witz parat.“



Wie Sirad Meygaog ergeht es laut Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen mehr als 55 000 geflüchteten Menschen in Griechenland, die trotz chronischer oder schwerwiegender Erkrankungen ohne Behandlung auskommen müssen. Im vergangenen Sommer entzog die griechische Regierung Asylsuchenden sowie Personen ohne Papiere die Sozialversicherungsnummer und damit den Zugang zu öffentlicher Gesundheitsversorgung. Nur mehr absolute Notfälle konnten die Krankenhäuser seither annehmen. Das Recht auf Gesundheitsversorgung wurde im Zuge der Corona-Pandemie am 1. April wieder eingesetzt. Doch die Umsetzung der Behandlung bleibt weiterhin schwierig.



Schon lange keine Behandlungen

Im Hafenkrankenhaus von Mytilini ist das Personal für die 86 000 Inselbewohner und die knapp 21 000 Geflüchteten auf der Insel zuständig. Noch immer sind die Folgen der schweren Krise im griechischen Gesundheitssystem zu spüren. Es fehlt an Behandlungsmöglichkeiten, an Personal und an Übersetzern. Dabei werden die Camp-Bewohner selbst zu Mitarbeitern. Die 23-jährige Astur Amburo*, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will, vermittelt zwischen somalischen Patienten, den lokalen Krankenschwestern und Ärzten. Die beiden Frauen lernten sich im Camp kennen. „Ohne Amburo’s Hilfe wäre ich jetzt nicht hier“, sagt Meygaog, „es gibt kaum Ansprechpartner im Camp.“ Immer wieder rief Amburo ein Taxi und fuhr mit Meygaog ins Camp.  



Amburo ist ausgebildete Krankenschwester. Zwei Jahre lang ging sie im somalischen Mogadischu in die Krankenpflegeschule. Bis die somalische extremislamistische Bewegung Al-Shabaab zwei ihrer Klassenkameradinnen auf dem Heimweg erschoss und wenig später auch ihren Vater ermordete. Vor knapp einem Jahr kam die 23-Jährige, zusammen mit ihrer Mutter, ihren drei Schwestern und ihrer Nichte mit einem Schlauchboot auf der Insel an. Damals lebten 7800 Geflüchtete in Moria. Heute sind es mit knapp 19 000 fast drei Mal so viele Menschen.



Schon am Tag ihrer Ankunft in Moria wird Amburo zur Vermittlerin zwischen den griechischen Behörden und den Geflüchteten, die vier Jahre nach dem EU-Türkei-Abkommen weiterhin in menschenunwürdigen Bedingungen im ehemaligen Transitcamp festsitzen. Sie begleitet andere Camp-Bewohner mit schlechteren Englischkenntnissen zu Behördengängen, zur Bank, hilft beim SIM-Kartenkauf oder beim Übersetzen im Krankenhaus.



„Einen solchen Ort hatte ich zuvor noch nie gesehen“, erinnert sich Salah, die ihre Mutter auch zweimal auf Lesbos besucht hat, „die Menschen leben im Müll.“ Den Geruch kann sie nicht mehr vergessen. „Ich leide unter traumatischen Rückfällen, seit ich bei einer Explosion in Somalia ein Bein verloren habe“, sagt Salah. „Die Besuche im Zelt meiner Mutter traumatisierten mich noch einmal.“ Beim Sprechen wippt ein Knie wie ein schneller Flügelschlag. „Es gab keine Möglichkeit, sie nach Dänemark zu holen.“



Das Recht auf Asyl wird ausgesetzt

Noch immer stehen die Zelte in Moria so eng, dass sich sogar Kleinkinder seitlich durch die Zeltwände schieben müssen. Von oben betrachtet, sieht die rauchende Zeltstadt wie eine ausgeschüttete Legokiste aus. Die Zelte stehen bis zu den obersten Felsen der Olivenhaine hinauf. Dixie-Toiletten reihen sich den Stacheldrahtzaun entlang die Olivenhaine hinauf. Laut Ärzte ohne Grenzen müssen sich 1300 Menschen an einem Hahn den Zugang zu Wasser teilen. Seife und Desinfektionsmittel gibt es kaum.



Noch vor dem EU-Türkei-Abkommen als Registrierungslager für 2800 Menschen geplant, wurden in Moria die Ankommenden nur registriert und weitergeschickt. Wartezeit: höchstens 30 Tage.



Doch seit März 2016 stecken die Menschen Monate oder sogar Jahre auf der Insel fest. Denn solange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, kann niemand auf das griechische Festland weiterreisen, und die EU-Grenzen bleiben für die Weiterreise geschlossen. In den Jahren nach dem Abkommen fehlt der politische Wille, die Situation zu verbessern.



Als die Europäische Union im März 2016 mit der türkischen Regierung ein Abkommen schloss, war es das erklärte Ziel, dass weniger Geflüchtete die EU erreichen. Die Türkei kontrolliert die Grenzen zu Griechenland, dafür überweist die EU der Türkei sechs Milliarden Euro. Die griechischen Behörden sind trotz Milliardenzahlungen aus Brüssel notorisch überlastet. Asylverfahren ziehen sich über Jahre hinweg, und jene, die ankommen, bleiben auf den Inseln stecken. In Brüssel fühlte sich für all das schon lange niemand mehr verantwortlich, und Ankara droht immer wieder damit, die Grenzen nach Europa zu öffnen. Es ist ein rhetorischer Hebel, um die EU zu erpressen. Und es funktioniert. Dabei werden auch die Camp-Bewohner immer wieder zum geopolitischen Spielball.



Klarer Bruch des Völkerrechts

Mit den steigenden Ankunftszahlen im vergangenen Sommer müssen sich immer mehr Menschen in den umliegenden Olivenbaumfeldern einrichten. Platz in den regenfesten Containern im Camp-Inneren gibt es schon lange nicht mehr. Dabei wird nicht unterschieden, ob es sich um eine schwangere Frau, einen Minderjährigen oder einen Menschen im Rollstuhl handelt. Geschaufelt wurde mit Händen, Schuhen oder der alten Eisenschaufel eines Nachbarn. Doch es kam noch schlimmer.



Nachdem die Türkei am 29. Februar ankündigte, die Grenzen in Richtung Europa zu öffnen, hebelte die griechische Regierung für einen Monat das Asylrecht aus und ging mit aller Härte an den Grenzen vor. Wasserwerfer, Tränengas und Ventilatoren sollten die Menschen an der Landgrenze zurückdrängen. Die Schutzsuchenden, die über die Ägäis ankamen, wurden gar nicht mehr ins Registrierungszentrum von Moria gebracht. Sie mussten über Tage an den windigen Stränden, im Hafen oder vor geschlossenen Kapellen ausharren, bis sie auf das Festland in ein geschlossenes Abschiebegefängnis gebracht wurden. Ob die Menschen ein Recht auf Asyl haben, wurde nicht mehr geprüft.



Trotz dieses klaren Bruchs des Völkerrechts sicherte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der griechischen Regierung 700 Millionen Euro für das „Migrationsmanagement“ zu.



Zur gleichen Zeit gerät die Sicherheitssituation auf Lesbos vollkommen außer Kontrolle. Erst richtet sich die Wut der Inselbewohner gegen die griechische Regierung, die hier bis zum Sommer ein zweites Camp errichten wollte, um ankommende Geflüchtete schneller abschieben zu können. Dann werden die Geflüchteten selbst und die humanitären Helfer zum Ziel. Ärztinnen werden im Auto von einer mit Steinen und Holzstangen bewaffneten Gruppe angegriffen, Helferinnen werden aus ihren Wagen gezogen, kurz nach der Grenzöffnung steht das Transitlager des Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Flammen. Die meisten Operationen werden eingestellt. Seit Jahren fühlen sich die Menschen hier alleingelassen mit Problemen, für die niemand Verantwortung übernehmen will, nicht die Regierung in Athen und auch nicht die Mitgliedstaaten der EU.



Seit Anfang vergangener Woche sind auch die Zufahrtsstraßen in das Camp Moria weitgehend abgesperrt, nur lebensnotwendige Hilfen dürfen ins Camp – aus Angst vor der nahenden Katastrophe, die mit dem Corona-Virus auf das überfüllte Lager zusteuert. „Wir haben keine Möglichkeit, Seife und Desinfektionsmittel zu kaufen“, sagt Mohammad Akasis* am Telefon, „aus den Leitungen kommt nur alle paar Stunden Wasser.“ Der 38-Jährige wartet schon seit über einem Jahr in einer selbstgebauten Holzbaracke auf seinen Asylbescheid. „Was wird nun geschehen?“, fragt er. Im Zuge der neuen Pandemie-Regulierungen bleiben die Asylbüros bis auf Weiteres geschlossen. Offiziell können Asylsuchende bis Mitte April nicht befragt werden und bekommen keine Entscheidungen über ihren Asylstatus. Durch die Pandemie-Beschränkungen wird es wohl noch etwas länger dauern.



Corona würde eine weitere Katastrophe auslösen

Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe wurde noch kein Corona-Fall im Lager von Moria bestätigt. Trotzdem bereiten sich die verbliebenen Helfer auf der Insel auf den Katastrophenfall vor. Für die Camp-Bewohner würde ein Ausbruch der Pandemie eine absolute Katastrophe bedeuten. Bis jetzt sind die Zufahrtsstraßen zum alten Militärlager weitgehend abgesperrt. Es gibt auch keine Busfahrten mehr, um lebensnotwendige Besorgungen zu machen. Keiner darf auf das Festland übersetzen, auch nicht mehr, wer wie die 65-jährige Meygaog einen blauen Stempel im Ausweis hat. Die monatlichen Zahlungen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR von 90 Euro werden so lange ausgesetzt, bis Geldautomaten auf dem Gelände aufgestellt werden.



Das verbliebene medizinische Personal, Anwältinnen und Sozialarbeiter rüsten ihre Organisationen auf den Katastrophenfall um. Andrew Foley von der Organisation „Better Days“, die sich seit fünf Jahren um die Bildung und rechtliche Erfassung von unbegleiteten Minderjährigen kümmert, sagt: „Es ist sehr schwierig, sich auf eine Notfallsituation vorzubereiten, wenn man nicht weiß, wie die Regierung darauf reagieren wird. Natürlich sind wir keine Ärzte, aber wir können im Ernstfall für medizinisches Personal einkaufen gehen, einen Notfallplan aufstellen, die Versorgung mit Wasser unterstützen.“



Eine ehrenamtliche Gruppe von Lagerbewohnern und verbliebenen humanitären Helfern zeichnet unterdessen Schilder zur Aufklärung gegen Corona. Unter dem Motto „Standing Together against Corona“ näht die Gruppe auch Schutzmasken, verteilt einzelne Desinfektionsmittelflaschen und mahnt zum Händewaschen. „Trotzdem“, sagt Liza Papadimitrou, Advocacy Managerin bei Ärzte ohne Grenzen, „können die Menschen keinen Abstand halten. Oft fällt über mehrere Stunden das Wasser aus. Isolierung, Händewaschen und Quarantänemöglichkeiten, um den Virus einzudämmen, all das ist in Moria nicht möglich.“



Die Schutzbedürftigsten bleiben zurück

Von der Europäischen Union kommen immer wieder Ankündigungen, 1600 Kinder aus den ägäischen Lagern zu evakuieren. „Hier haben sich acht Mitgliedstaaten bereiterklärt, Kinder und Jugendliche aufzunehmen, mit den ersten könnte es schon bald losgehen“, erklärt EU-Innenkommissarin Ylva Johansson am 2. April.



Doch die Ankündigungen scheitern an der Realität. Zu lange wurden die Camp-Bewohner allein gelassen. Es gibt keine organisatorische Struktur, auf die man im Fall einer Evakuierung schnell zurückgreifen kann. Und auch wenn es ein paar Jugendliche in den nächsten Wochen in andere europäische Länder schaffen (bis zum Redaktionsschluss sollen 50 Kinder aus Lesbos transferiert worden sein), bleiben die Schutzbedürftigsten zurück, darunter ältere Menschen, Menschen mit Behinderung oder mit chronischen Krankheiten. Das Problem ist damit nicht gelöst.



Der Asylbewerber Mohammad Akasis dokumentiert das Leben in Moria weiter. Dabei scheint die Pandemie bis zum ersten bestätigten Corona-Fall noch immer die kleinste Sorge zu sein. Akasis macht Bilder bei einem Brand Ende März, bei dem ein Mädchen ums Leben kommt. Er erzählt von den frühen Morgenstunden, als Dutzende Bewohner versuchen, sich nach dem Regen in der Sonne zu trocknen. Er berichtet von überfüllten Essensausgaben und Wasserknappheit. „Es gab wieder eine riesige Schlägerei zwischen zwei Gruppen neben dem kleinen Supermarkt. Bis halb vier in der Nacht konnte niemand schlafen“, sagt er am Telefon. Erst nach Stunden sei die Polizei mit Tränengas eingeschritten. „Wenn wir die Polizei rufen, kommt keiner mehr“, erklärt Akasis, „sie sagen uns nur, wir sollen voneinander Abstand halten.“



Franziska Grillmeier ist freie Journalistin und lebt auf Lesbos.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2020, S. 66-70

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