Aus dem Ruder gelaufen
Neuerscheinungen zur Integrationsdebatte in Deutschland und Europa
Die Debatte über Zuwanderung und Integration, über Toleranz und ihre Grenzen ist nicht neu. Nach 9/11 hat sie noch an Schärfe gewonnen. Wer den medialen Diskurs verfolgt, mag Zweifel an der These bekommen, dass die Diskussion an sich schon weiterhelfe. Sie kann Vertrauen zerstören, wenn sich die durchsetzen, die am lautesten schreien.
„Wenn ich einen Vogel sehe“, schrieb einst der amerikanische Dichter James Whitcomb Riley, „der wie eine Ente läuft, wie eine Ente schwimmt und wie eine Ente schnattert, dann nenne ich diesen Vogel eine Ente.“ Vergleichbares ließe sich über das Einwanderungsland Deutschland sagen. Allein 2,7 Millionen türkeistämmige Migranten leben in Deutschland, etwa 1,1 Millionen besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Rund 5 Prozent der Bevölkerung sind muslimisch. Und doch verweigerten sich die politischen Eliten jahrzehntelang dieser sozialen Realität, bis sie nicht mehr zu leugnen war.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends bewegte sich dann etwas. Man wollte nicht mehr nur über die Muslime sprechen, sondern mit ihnen. Der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble eröffnete 2006 die Islamkonferenz und prägte einen Satz, der später noch für Wirbel sorgen sollte: „Der Islam ist ein Teil von Deutschland.“ Die Debatte um das Zusammenleben von Nichtmuslimen und Muslimen schien an Fahrt aufzunehmen.
Und heute? Der Optimismus der Menschen sinkt, dass dieses Zusammenleben gelingen kann. Je nach Erhebung äußern bis zu 80 Prozent der Deutschen islamskeptische Einstellungen. Eine Mehrheit will keine muslimischen Nachbarn, das Misstrauen wächst, auch der Hass. Man kann sich die Sarrazin-Debatte ins Gedächtnis rufen. Man kann das im Netz erleben. Man kann das auch in Talkshows beobachten. Und so verheißt die Lektüre der Neuerscheinungen zum Thema Einwanderungsgesellschaft denn auch nicht allzu viel Hoffnungsvolles für das künftige Zusammenleben von Muslimen mit einer immer stärker islamskeptischen Mehrheitsgesellschaft.
Mit der Abwanderung einer wachsenden Zahl türkeistämmiger Hochqualifizierter beschäftigt sich der Hamburger Sozialwissenschaftler Yas¸ar Aydın. Entgegen der verbreiteten Auffassung sieht er darin aber kein Zeichen von „gescheiterter Integration“. Die Entscheidung für einen Neuanfang im Land der Mütter und Väter bedeutet nicht, dass diese türkeistämmigen Akademiker in Deutschland nicht Fuß fassen konnten. Meist spielen ganz pragmatische Motive eine Rolle: bessere Jobchancen, der Wirtschaftsboom in der Türkei, Selbstverwirklichung, der Wunsch, die kulturellen Wurzeln zu erkunden. Diskriminierungserfahrungen sind nur ein Aspekt unter vielen. Fast alle Gesprächspartner Aydıns betonen ihr grundsätzlich positives Deutschland-Bild, alle sind gut integriert. Sie wandern nicht aus, weil sie Deutschland für immer den Rücken kehren wollen, sondern weil sie sich zwei Heimatländern zugehörig fühlen und ihr Glück nun in dem anderen suchen wollen. Rückkehr nicht ausgeschlossen.
Sarrazin als Menetekel
Einen deutlich umfassenderen Ansatz verfolgt der Historiker Wolfgang Benz, der sich mit der „Angst vor den Muslimen“ befasst. Benz leitete bis 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin und untersucht Islamfeindlichkeit aus dem Blickwinkel der Vorurteilsforschung. Vieles von dem, was er über das Wesen von Feindbildern schreibt, ist nicht überraschend: dass über stereotype Zuschreibungen Ängste geschürt werden, dass ein vorurteilsgeladener Geist nicht für rationale Argumente zugänglich ist.
Lesenswert ist der historische Exkurs, in dem Benz die europäische Skepsis gegenüber dem Islam vom Mittelalter bis heute nachzeichnet. Er beschreibt, wie Türken und Araber nach dem 11. September 2001 vor allem als „Muslime“ wahrgenommen wurden. Die Sarrazin-Debatte bezeichnet er als Menetekel, offenbarte sie doch, dass Islamfeindlichkeit nicht nur am rechten Rand sitzt, sondern bis in das gebildete Bürgertum verbreitet ist.
Benz hält Islamfeindlichkeit für eine Gefahr für die Demokratie und zieht Parallelen zum Antisemitismus des 19. Jahrhunderts. Er weist darauf hin, dass es zwischen den Feindbildern strukturelle Gemeinsamkeiten gibt, wie die Angst vor der Unterwanderung oder Eroberung Europas. Den Vorwurf, er relativiere die Geschichte des Holocausts, weist er von sich. Vielmehr will er verhindern, dass zwei Ressentiments gegeneinander ausgespielt werden oder in „Opferkonkurrenz“ zueinander treten.
Einen großen Teil seines Buches widmet Benz der heterogenen Gruppe der Islamkritiker, die bei der Verfestigung von islamfeindlichen Vorurteilen eine tragende Rolle spielen, vor allem, wenn sie als seriöse Experten oder authentische „Zeugen“ in Talkshows oder als Buchautoren in Erscheinung treten. Zu ihnen zählt er Thilo Sarrazin, den früheren FAZ-Redakteur Udo Ulfkotte und den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders, aber auch die Publizisten Necla Kelek, Alice Schwarzer und Henryk M. Broder.
Besonderes Augenmerk legt der Autor auf islamfeindliche Hetze im Netz. Im Zentrum steht die 2004 gegründete und mittlerweile unter Beobachtung des Bayerischen Verfassungsschutzes stehende Seite Politically Incorrect (PI), auf der sich Islamhasser austoben. Die Kommentarspalten sind das Herzstück von PI; hier ergießen sich Häme und ein unbändiger Hass nicht nur auf die Muslime, sondern auf das ganze, irgendwie „linksgrünrote“ Multikulti-Establishment, das Schuld trage an der ganzen Einwanderungsmisere. Und wer sich die Nutzerbeiträge nach dem Mord an der schwangeren Ägypterin Marwa
el-Sherbini im Dresdner Landgericht durchliest, der stößt auf offenen Rassismus und Gewaltverherrlichung.
Hochexplosives Gelände
Die Frage, wo die verbale Gewalt in die Tat umschlägt, treibt den Historiker Klaus J. Bade um. Bade, bis 2011 Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, verortet sich anders als Benz nicht in der Vorurteils-, sondern in der Migrations- und Integrationsforschung.
Sein Buch hat eine ähnliche Stoßrichtung wie das von Benz, ist aber zorniger im Ton. Die vergiftete Islamdiskussion in Deutschland hält Bade für eine Ersatzdebatte, die ein echtes Gespräch über die neue Zuwanderungsgesellschaft verhindere und als „negative Integration“ funktioniere: Selbstvergewisserung durch Ausgrenzung der muslimischen Minderheit. Das erfolgt vor allem über die so genannte „Islamkritik“ (ein Begriff, den Bade nur in Anführungszeichen verwendet), die an ihren Rändern fließend in rechtsextreme und neonationalsozialistische Positionen übergehe.
Bade richtet sich nicht an ein Expertenpublikum, sondern an eine breite Leserschaft. Er verspricht, sich um „eine erträgliche Verbindung von wissenschaftlicher Fundierung und menschenfreundlicher Prosa“ zu bemühen – ein Versprechen, das er nicht immer einhält, wie folgender Bindestrichexzess zeigt: „Sie verbanden sich in einem kollektiv-emotional hoch aufgeladenen, in vieler Hinsicht irrational-diffusen weltanschaulich-ideologischen Kreuzungsfeld zu antiislamisch-kulturrassistisch-völkischen Vorstellungen.“
Über viele Jahre hat Bade sich für eine aktive Einwanderungs- und Integrationspolitik eingesetzt. All das, was nach der Jahrtausendwende endlich zu fruchten schien, sieht er mit der Sarrazin-Debatte und einer aus dem Ruder gelaufenen „Islamkritik“ beschädigt. Seinen Frust darüber spürt man in jeder Zeile.
Ein Multikulti-Romantiker ist der emeritierte Geschichtsprofessor nicht; Probleme wie die schlechteren Ergebnisse von Migranten auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungsbereich redet er nicht klein. Er spricht sich aber gegen eine Ethnisierung von sozialen Problemen aus. Zwar sieht er die Migranten selbst in der Verantwortung, verweist aber darauf, dass ihre Lage schwierig war: „Wie auch hätte sich frühzeitig Einwanderungsbewusstsein in einem Aufnahmeland entwickeln sollen, das ständig von sich behauptete, ‚kein Einwanderungsland‘ zu sein?“
Über weite Strecken ist das Buch ein spannender, sehr persönlicher Einblick in die medialen Schlammschlachten der vergangenen Jahre. Bade selbst sprach auf Abendveranstaltungen zeitweise nur mit Personenschutz. Auf rechtsextremistischen Websites wird er als „führender Organisator der Integrationsindustrie“ geführt.
Ohne in simple Kausalitäten zu verfallen, beobachtet der Autor einen Zusammenhang zwischen populärer Islamkritik, virtueller Hetze und Verbrechen wie der NSU-Mordserie oder den Taten eines Anders Breivik. In einem Klima des Hasses wachse die Gefahr, dass einer zur Tat schreitet, zumal er ja eine breite Unterstützerfront hinter sich wähne. Bade fordert eine „ethische Verantwortung, der sich kein Publizist entziehen kann, der mit zündfähigen Argumenten in hochexplosivem Gelände hantiert“.
Gesellschaft und Islamophobie
Die Islamfeindlichkeit der europäischen Gesellschaften ist auch das Thema von Kai Hafez, der internationale Kommunikation in Erfurt lehrt. Hafez konstatiert eine wachsende Kluft zwischen Europas Rechtssystemen und Teilen des politischen Systems, die beide „eher zu einer liberalen Anerkennung des Islams fähig zu sein scheinen“, und den „nichtstaatlichen Sphären der Öffentlichkeit und der Gesellschaft“. Während der Staat in Sachen Gleichstellung einige Erfolge vorweisen könne, verfestige sich die Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft.
Hafez zufolge droht die ohnehin „paradoxe Verbindung aus ‚liberalen‘ Werten, die gleiche Rechte für jedes einzelne Individuum fordern, und der ‚Demokratie‘, die der Mehrheit die Macht zubilligt“, auseinanderzubrechen. So wird das Integrationsproblem zu einem Problem der Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft: „Wie lange kann ein politisches System bestehen, das nicht von der politischen Kultur und den Werten einer Gesellschaft insgesamt getragen wird? Wie krisenfest, wie anfällig ist es?“
In diesem Spannungsfeld entfaltet Hafez seine theoretisch fundierte, mit Fakten reich unterfütterte Argumentation. Er knöpft sich die zentralen gesellschaftlichen Subsysteme Macht und System, Handeln und Gesellschaft, Kommunikation und Medien, Wissen und Bildung sowie Transzendenz und religiöse Institutionen vor und klopft sie darauf ab, wie es um das Verhältnis von Minderheit und Mehrheit bestellt ist. Für eine rasche Querlektüre ist Hafez’ Buch eher nicht geeignet. Wer sich etwas mehr Zeit nimmt, wird mit demokratietheoretischen Überlegungen zur Einwanderungsgesellschaft belohnt, die weit über populärwissenschaftliche Kritik an der Islamkritik hinausgehen.
Der Autor schließt mit der etwas banal klingenden Feststellung, dass „die neue multikulturelle Gemeinschaft, derer es bedarf, um das System der liberalen Demokratie zu stützen und die Entwicklung Europas voranzutreiben“, letztlich eine „Diskursgemeinschaft“ sei. In besonders verfahrenen Situationen hälfen auch schon mal „emotionale und symbolpolitische Zeichen“. Ganz ähnlich klingt das bei Bade, der die Antrittsrede des Bundespräsidenten Joachim Gauck vom März 2012 zitiert. Darin lässt Gauck die „rechtsextremen Verächter unserer Demokratie“ wissen: „Euer Hass ist unser Ansporn.“
Yasar Aydın: „Transnational“ statt „nicht integriert“. Abwanderung türkeistämmiger Hochqualifizierter aus Deutschland. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2013, 136 Seiten, 19,99 €.
Wolfgang Benz: Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor den Muslimen unsere Demokratie gefährdet. München: C.H. Beck (Beck’sche Reihe) 2012, 220 Seiten, 12,95 €.
Klaus J. Bade: Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, „Islamkritik“ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach/ Taunus: Wochenschau-Verlag 2013, 398 Seiten, 26,80 €.
Kai Hafez: Freiheit, Gleichheit und Intoleranz. Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas. Bielefeld: Transcript 2013, 376 Seiten, 29,80 €.
Luisa Seeling lebt als freie Journalistin in Berlin und schreibt u.a. für die ZEIT.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2013, S. 134-137