Weltspiegel

28. Aug. 2023

Aufstieg und Fall des hybriden Krieges

Verallgemeinerungen und Unschärfen, Emotionen und Vorurteile, Alarmismus und die falschen Fragen: Wie ein Begriff die Sicherheitspolitik in die Irre führte.

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Bild: Übung für einen Cyberangriff
Bei einer Übung für einen großangelegten Cyberangriff trainieren im estnischen Tallinn im April 2023 insgesamt 3000 Teilnehmer aus 35 Nationen.
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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat viele der liebgewonnenen Themen der „strategic community“ aus der Debatte verschwinden lassen – von der abnehmenden Bedeutung nuklearer Abschreckung bis zu neuen Ansätzen in der Rüstungskontrolle. Stattdessen versuchen sich zahlreiche sicherheitspolitische Forschungsinstitute inzwischen an dem für sie bislang eher fremden Thema der klassischen militärischen Lageanalyse. Dass dies vielen sichtlich Mühe bereitet, überrascht nicht. Die westliche Strategiedebatte hat sich viel zu lange mit Themen beschäftigt, die zwar intellektuell anregend sein mochten, für die praktische Sicherheitspolitik jedoch kaum relevante Erkenntnisse boten. Eines dieser Themen ist der hybride Krieg.

Seit rund 20 Jahren, vor allem aber seit der Annexion der Krim durch Russland 2014, geistert dieser Begriff durch die westliche Strategiedebatte. Eine klar umrissene Definition von hybrider Kriegführung gab es nie. Die meisten Autoren beschrieben damit eine Kriegführung mit vornehmlich nichtmilitärischen Mitteln: Der hybride Krieg spiele sich unterhalb der Schwelle einer kinetischen Aggres­sion ab. Durch Cyberangriffe, Energieembargos oder Desinformationskampagnen versuche der Angreifer den Verteidiger zu destabilisieren, ohne dabei eine militärische Gegenreaktion auszulösen. Da sich viele hybride Handlungen zudem in einer militärischen wie rechtlichen Grauzone abspielten, sei selbst die öffentliche Benennung des Angreifers folgenlos.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die These, künftige Kriege spielten sich vor allem in der ambivalenten Grauzone unterhalb der kinetischen Schwelle ab, gründlich widerlegt. Russland und die Ukraine führen einen klassischen konventionellen Krieg, der überwiegend mit Panzern, Artillerie und Drohnen geführt wird. Zwar kommen auch nichtkinetische Mittel wie Cyberangriffe zum Einsatz und bedienen sich beide Seiten gezielter Falsch­informationen. Von den vormals so populären hybriden Szenarien ist jedoch kaum etwas zu sehen.

Warum hat der Westen 20 Jahre lang ein Konzept diskutiert, das von Anfang an analytisch fragwürdig war? Die Antwort liegt im Unwillen, den politischen Kontext von Konflikten zu verstehen und die Interessen des Gegners eingehend zu analysieren. Sie liegt aber auch in der Versuchung mancher politischer wie militärischer Analytiker, einem blinden Alarmismus anheim zu fallen, der hinter jedem unfreundlichen Akt bereits einen Krieg wittert. Kurzum, die Debatte über den hybriden Krieg ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein Teil der strategic community sich selbst und die westliche Sicherheitspolitik in die Irre geführt hat.

Der Ursprung des Begriffs des hybriden Krieges lässt sich nicht genau datieren; seine Popularität verdankte er aber einem 2007 erschienenen Aufsatz des amerikanischen Militärexperten Frank Hoffman. Bezugnehmend auf den Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah im Jahr 2006 postulierte der Verfasser ein künftiges Kriegsbild, in dem sich militärische und nichtmilitärische Mittel ebenso vermischten wie reguläre und irreguläre Streitkräfte. Zwar hielt Hoffman seine Thesen auch auf zwischenstaatliche Kriege für anwendbar, doch schon damals hätte man erkennen können, dass seine Argumentation eher dazu diente, die rigide Aufteilung in konventionelle und irreguläre Kriegführung aufzubrechen, wie sie in den US-Streitkräften vorherrschte.

Dass Hoffmans Begriff der hybriden Kriegführung dennoch ungemein populär wurde, war in erster Linie der russischen Annexion der Krim 2014 zu verdanken. Die russische Vorgehensweise, mit der die Halbinsel nahezu ohne Blutvergießen übernommen wurde, schien Hoff­mans These vom künftigen Kriegsbild als einer Mischung unterschiedlichster Instrumente zu bestätigen. Russland hatte die Ukraine bereits vor seiner Invasion im März 2014 mit dem Aussetzen von Gaslieferungen geschwächt. Zahlreiche öffentliche Einrichtungen der Ukraine wurden Opfer von Cyberangriffen, die russische Propaganda gegen die Ukraine lief auf Hochtouren. Als dann auch noch die „kleinen grünen Männchen“ (russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen) auf der Krim auftauchten, schien das hybride Szenario perfekt. Zahlreiche Publikationen folgten, in denen Russland zum Meister der hybriden Kriegführung erklärt und dem Westen nahegelegt wurde, schleunigst aufzuholen.



Schablone für ein neues Kriegsbild

Diese Interpretation war allerdings nur dann stimmig, wenn man wichtige Faktoren ausblendete. So waren die Ukraine und ihre politische und militärische Führung aufgrund der engen historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland für Moskau recht gut einzuschätzen. Das korrupte politische und wirtschaftliche System der Ukraine war mit russlandfreundlichen Persönlichkeiten durchsetzt, und ein Großteil der Bevölkerung auf der Krim orientierte sich sprachlich und kulturell an Russland.

Hinzu kam, dass Russland an den Grenzen zur Ukraine eine klassische militärische Drohkulisse errichtet hatte, die den Ukrainern die Aussichtslosigkeit einer Verteidigung signalisieren sollte. Anders gesagt: Die Krim-Annexion war eine relativ leicht zu bewerkstelligende Operation, die die Schwächen der Ukraine geschickt ausnutzte, aber recht wenig über die Wirksamkeit hybrider Kriegführung aussagte.

Derlei Einwände spielten im nun folgenden Siegeszug des Konzepts der hybriden Kriegführung jedoch keine Rolle mehr. Die Krim-Annexion wurde zur Schablone für ein neues Konfliktbild, das nicht zuletzt die westlichen Bündnisse wie NATO und EU herausforderte. Denn wenn ein Aggressor unterhalb der Schwelle eines klassischen militärischen Angriffs operierte, wären Allianzen, deren ­kollektive Beistandsverpflichtung erst bei einer „­armed attack“ greift, zur Passivität verurteilt. Entsprechende Szenarien, in denen ein Gegner nahezu ohne den Einsatz konventioneller Streitkräfte die NATO angriff und das Bündnis dennoch nicht reagierte, wurden vielfach kolportiert, waren jedoch völlig unrealistisch.

Mit Cyberangriffen lässt sich die Infrastruktur eines Landes schädigen, erobern lässt es sich damit nicht. Auch die Behauptung, hybride Angriffe gestatteten es dem Angreifer, in der Anonymität zu verharren, erwies sich schnell als übertrieben. So, wie man bei den „kleinen grünen Männchen“ auf der Krim sofort auf russische Soldaten geschlossen hatte, waren auch Cyberangriffe, Anschläge mit Nervengift und andere „hybride“ Aktivitäten ohne Mühe Moskau zuzuordnen.

Ungeachtet solcher Einwände stieg die Zahl der Publikationen zum Thema dramatisch an. Zugleich wurde das Konzept bis zur Unkenntlichkeit verallgemeinert. Jede Form unerwünschten Verhaltens war nun Teil eines hybriden Krieges gegen den Westen, der vielen Autoren zufolge bereits in vollem Gange war: von der plumpen Propaganda des russischen Staatsfernsehens bis zum Kauf westlicher Firmen durch ausländische Investoren. Die vielleicht wichtigste Frage, nämlich die nach dem politischen Ziel des hybriden Krieges Russlands gegen den Westen, wurde dabei nur selten beantwortet. Russland, so schien es, war nun einmal ein bösartiger Akteur (malign actor) mit ­unbegrenzter krimineller Energie, dem – zumindest unterhalb der Schwelle einer kinetischen Auseinandersetzung – alles zuzutrauen sei. Auch die Frage, ob die von Russland eingesetzten hybriden Mittel eigentlich irgendeinen Erfolg zeitigten, ließen fast alle Autoren unbeantwortet. Sie hätten sonst einräumen müssen, dass die russischen Cyberangriffe gegen den deutschen Bundestag oder die Versuche, durch Medienkampagnen russische Minderheiten im Baltikum aufzuwiegeln, keinerlei messbare Wirkung entfalteten. Stattdessen bot man zumeist eine bloße Aufzählung russischer Machenschaften – als sei deren Existenz bereits der Beleg für ihren Erfolg.

Die Konzentration auf die Instrumente verdrängte das Politische aus dem Diskurs. Hybride Kriegführung wurde zum Selbstzweck: Bei der russischen Politik gegenüber dem Westen ging es scheinbar nicht mehr um die Auseinandersetzung über große politische Fragen, etwa den Fortbestand russischer Einflusssphären, sondern einzig darum, möglichst viele hybride Mittel zum Einsatz zu bringen.

Noch fahrlässiger wurde die Debatte, als es um die Frage ging, welche Antwort der Westen auf Russlands hybride Herausforderung entwickeln sollte. Auch hier erwies sich der Terminus hybrid als wenig hilfreich. Da es sich um einen Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Instrumente handelte, verbot sich eine gesamtheitliche hybride Strategie von selbst. Es ging vielmehr darum, auf jede Form hybrider Aggression eine spezifische Antwort zu finden.

Dies war in erster Linie Aufgabe der Nationalstaaten, so bei der Verbesserung der Cyberabwehr und der Gesetzgebung zur Einschränkung russischer Propaganda oder Wahlbeeinflussung. Aber auch kollektiv hatte der Westen Optionen, um die Wirkung hybrider Angriffe abzu­schwächen. Die EU konnte Sanktionen beschließen, die NATO stellte Expertenteams zusammen, um einem Bündnismitglied im Notfall auch unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs zu Hilfe zu eilen. Der Westen hatte auch kein Problem mit der Benennung Russlands als Täter des Giftanschlags auf einen britischen Ex-Agenten, einschließlich der Ausweisung zahlreicher russischer Diplomaten aus EU- und NATO-Mitgliedsländern.



Zu schlichte Konzepte

Doch diese nüchterne, auf Einzelmaßnahmen konzentrierte Debatte war nicht jedermanns Sache. Ganz im Sinne traditioneller sicherheitspolitischer Vorstellungen suchte man nach einer Strategie, um hy­bride Angriffe schon im Ansatz zu verhindern – durch Abschreckung. Das Ergebnis war allerdings wenig überzeugend. Viele Beobachter begnügten sich mit der Forderung, die NATO möge ihre militärischen Fähigkeiten verstärken und zugleich die Schwelle für deren Einsatz senken, um dem Gegner keine hybriden Schlupflöcher für seine Aggression zu bieten. Das geflügelte Wort des während der Krim-Annexion amtierenden NATO-Oberbefehlshabers General Breedlove, die beste Verteidigung gegen „little green men“ bestehe in „big green men“, fasste dieses Credo in bestechender Schlichtheit zusammen: Militärische Stärke würde den hybriden Angreifer in die Schranken weisen.

Entsprechend dieser Logik verkündete die NATO nach 2014, dass auch Cyber- und hybride Angriffe künftig den Bündnisfall auslösen könnten. Eine nachweisbare Wirkung blieb jedoch aus. Wie ein britischer Diplomat später frustriert feststellte, zeigte die unverändert hohe Zahl von Cyberangriffen gegen NATO-Staaten, dass diese Form der Abschreckung offensichtlich nicht wie erhofft funktionierte.

Andere versuchten sich an komplexen neuen Abschreckungsdefinitionen (deterrence by entanglement), die jedoch jegliche Logik oder operative Handhabbarkeit vermissen ließen. Wieder andere produzierten detaillierte „Drehbücher“ (playbooks), in denen jeder hybriden Aktion entsprechende Gegenmaßnahmen zugeordnet wurden. Am Ende aber waren es kaum mehr als semantische Spielereien, denn die von den Autoren vorgesehene Koordination von Gegenmaßnahmen hätte sowohl Staaten als auch Bündnisse maßlos überfordert.

Der logische Schluss aus dieser Misere – man muss mit einem gewissen Maß an hybrider Aggression leben lernen – war jedoch zu fatalistisch, um ihn offen auszusprechen. Die aufgeregte Debatte über hybride Angreifer, zu denen auch China gezählt wurde, ging weiter, auch wenn die sinkende Zahl der Publikationen andeutete, dass das Thema seinen Zenit überschritten hatte. Der massive Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 war so nur die letzte Bestätigung für die Auffassung der Skeptiker: Wer glaubt, vitale Interessen verteidigen zu müssen, setzt zuerst und vor allem auf traditionelle militärische Macht.

Gab es auch positive Aspekte der Debatte um den hybriden Krieg? Soweit der Alarmismus zu einer Erhöhung der westlichen Verteidigungsausgaben beigetragen hat, ja. Ohnehin hatten NATO und EU schon früh erkannt, dass sich die Debatte dazu nutzen ließ, die Agenda beider Institutionen voranzubringen. Ohne sich auf die analytischen Exzesse der Diskussion einzulassen, nutzte man sie als Katalysator für engere NATO-EU-Beziehungen und für eine stärkere Betonung des Themas Resilienz.

Auch die Intensivierung der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit ist zum Teil der Diskussion um hybride Bedrohungen zu verdanken. Und schließlich dürfte auch die größere Aufmerksamkeit, die man heute Fragen wie dem Verkauf westlicher Schlüsselindustrien oder anderer Infrastruktur an fremde Mächte widmet, ein Ergebnis der Hybrid-Debatte sein.

Dennoch kann das abschließende Urteil nur negativ ausfallen. Ein erheblicher Teil der westlichen strategic community hat gezeigt, wie schnell Emotionen und Vorurteile die nüchterne Analyse verdrängen können. Wahrscheinlichkeiten wurden zu Gewissheiten, nichtexistenzielle Risiken wurden zu existenziellen Bedrohungen, strategische Konkurrenz wurde zum „Krieg“. Einzelfälle wurden über Gebühr verallgemeinert, die Frage nach den Motiven des hybriden Angreifers zumeist ausgeblendet. Russland wurde zum strategisch brillanten Akteur verklärt, der scheinbar mühelos auf einer Klaviatur hybrider Instrumente spielt und einen ahnungslosen Westen damit in die Defensive drängt.

Erst ein „richtiger“ Krieg hat verdeutlicht, dass Moskau weder politisch noch militärisch durch strategische Weitsicht glänzt und dass man mit Artillerie mehr erreicht als mit ein paar schwerfälligen Fake-News-Kampagnen. Die westliche strategic community wird sich eine neue Obsession suchen müssen. 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2023, S.87-91

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Mehr von den Autoren

Michael Rühle war über 30 Jahre im Internationalen Stab der NATO tätig, unter anderem als Leiter des Referats für hybride Herausforderungen und Energiesicherheit.

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