Aufgepeppte Wirklichkeit
„Augmented Reality“ reichert den Alltag mit Zusatzinformationen an. Forscher prophezeien enorme Veränderungen
Auf der Terrasse des Pariser Arc de Triomphe steht neuerdings ein Teleskop, mit dem man die Sehenswürdigkeiten der Stadt neu ins Auge fassen kann. Der Tourist bekommt, sobald er ein Baudenkmal anvisiert, auch gleich die passende Portion Bildung verabreicht: Name, Baujahr und sonstige Details. Später, prophezeien die Programmierer, wird man durch das Guckrohr in die Vergangenheit blicken, etwa die Skyline zu Napoleons Zeiten studieren. Oder gar in die Zukunft schauen. An den Rändern der Wirklichkeit tut sich viel.
„Augmented Reality“ nennt sich der Zauber, oder schlicht AR, zu Deutsch: Erweiterte Realität. Die Anwendungen sind höchst vielfältig. Vom Navigationssystem, das den Weg zum gewünschten Ziel direkt auf die Windschutzscheibe malt, bis zur Kontaktlinse, die kleine praktische Zusatzinfos liefert. Ingenieure der Universität Washington haben gerade erste Prototypen gebastelt. Später sollen solche Linsen Informationen ins Blickfeld einblenden – eine Art Teleprompter für den Alltag. Sie schütteln die Hand des Herrn Müller, wissen aber partout nicht mehr, dass dieser Herr da Müller heißt? Kein Problem, wenn das Äuglein es links oben lesen kann: „Regierungsdirektor Alfons Müller, 43, Abteilung ZIV/6, zuständig für die Förderung von forstwirtschaftlichen Kleinstbetrieben, Ehefrau: Amalia, zwei Söhne. Letzter Kontakt: Herbst 2005. Hobby: Münzen. Trinkt gerne Trollinger.“
Das Prinzip: Die Realität mit Zusatzinformationen aufpeppen. Das Zeitalter des „ubiquitous computing“ zieht herauf, eine Ära allgegenwärtiger Rechner, die uns bald auf Schritt und Tritt folgen werden. AR wird die Zukunft von Arbeit und Freizeit verändern. Spieleentwickler träumen von noch lebensechteren Games, einer Art Second Life, das sich auch abseits des Computers über unseren mausgrauen Alltag senkt. Chirurgen testen Spezialbrillen, die das Computertomogramm des Patienten während der OP passgenau in ihr Blickfeld projizieren. Der klassische Bildschirm, die Tastatur und auch die Maus stoßen hier schnell an Grenzen. Neue Schnittstellen müssen her; Geräte, die in der Lage sind, Standort und Blickrichtung des Betrachters auszumachen, seine Kommandos zu registrieren und Informationen sichtbar zu machen. Was vom Computer kommt, sagt Didier Stricker, Chef der Abteilung „Virtuelle und Erweiterte Realität“ am Fraunhofer-Institut Graphische Datenverarbeitung in Darmstadt, soll „direkt eingebettet sein in die reale Umgebung“. So vermengt sich unsere echte Welt immer mehr mit einer blitzschnell und kunstvoll errechneten Zusatzwelt. Das Bild tritt aus dem Rechner.
Wozu das? „Weil alles immer komplexer wird“, erklärt Stricker. „Auch sein Auto kann man nicht mehr so reparieren wie früher den VW Käfer.“ Der Forscher hat das Projekt ARVIKA koordiniert, einen Zusammenschluss vieler Firmen von Airbus bis Zeiss, die sehr neugierig waren, was AR ihnen bieten kann. Eine Fragestellung: Wie kommt man weg von den immer schwereren Handbüchern, den anschwellenden pdf-Dateien, die keiner mehr lesen kann und mag – hin zur Visualisierung vor Ort? Das berührt etwa deutsche Maschinenbauer, deren topmoderne Geräte um die halbe Welt geliefert werden – aber wegen eines winzigen Details manchmal nicht laufen. „Da fliegt dann ein Support-Techniker los“, sagt Stricker, „dreht an zwei Schrauben und fliegt zurück.“ Mit AR jedoch könnte man den Nutzern vor Ort schnell und anschaulich die richtigen Schritte zeigen.
Augmented Reality füttert unsere Sinne mit zusätzlichen Informationen – Bildern, Tönen, Zahlen, in Echtzeit. Endlos scheint die Liste der Anwendungsmöglichkeiten. In Zukunft sollen der Architekt und sein Auftraggeber das neue Gebäude schon in der Planungsphase in seiner realen Umgebung bewundern, der Maurer die Wand, die er erst erschaffen soll, schon vorab millimetergenau im Raum erblicken können. Vielleicht wird später ein Handwerker, der den Bohrer an diese Wand ansetzt, dank seiner Datenbrille erkennen, wo genau die Strom-, Wasser-, Gas- und Datenleitungen verlaufen. Wissenschaftler können Kollegen, Geschäftsleute ihre Kunden virtuell treffen, per 3D-Projektion, vertreten durch einen Avatar, ein Kunstwesen im Raum. Das spart viel Zeit und Kerosin.
Die Tücke liegt wie so oft im Detail. Ein gutes AR-System muss die Position und Blickrichtung des Menschen sehr genau erfassen und verfolgen und sich permanent anpassen. Nur so kann es gelingen, auf eine reale Untertasse das 3D-Bild einer passenden Teetasse zu projizieren. Und diese virtuelle Tasse auch dort verweilen zu lassen – während sich der Betrachter im Raum bewegt. Nicht zufällig schwenkt die AR-Branche gern den Zauberstab, benutzt oft Wörter wie Magic und Voodoo. In Darmstadt etwa arbeiten die Forscher mit immer komplexeren Schatten- und Lichtsimulationen. Ihr Ehrgeiz: Ein virtuelles Sofa soll tatsächlich wie ein Sofa im Raum aussehen, nicht wie ein Bild. Sie haben ein System namens CAVE entwickelt, einen großen Würfel mit 2,4 Metern Kantenlänge, in dem Menschen in einem virtuellen Bild stehen und sich bewegen können, erzeugt von zehn Projektoren aus fünf Richtungen. Viel mehr als eine Spielerei: Die berühmte Höhlenanlage in der Nähe der chinesischen Stadt Dunhuang, zwischen 400 und 1400 von buddhistischen Mönchen geschaffen, wurde für mit der Restaurierung betraute Wissenschaftler durch diese Technik virtuell rekreiert.
TOM SCHIMMECK, geb. 1959, schreibt als freier Journalist über Politik und Wissenschaft für Zeitungen, Magazine und fürs Radio.
Internationale Politik 3, März 2008, S. 100 - 101