„Auch die Muslimbrüder wollen eine freie Marktwirtschaft“
Interview mit Magda Kandil vom Egyptian Center for Economic Studies
Ägypten befindet sich in einer prekären Lage: Die Staatsausgaben galoppieren, Devisenreserven schwinden, die Währung steht unter Druck, die Inflationsgefahr wächst, für die Wirtschaft stehen kaum noch Kredite zur Verfügung. Die Regierung muss dringend das Wachstum ankurbeln, vor allem durch die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen
IP: Die Muslimbruderschaft und salafistische Parteien sind aus den jüngsten Wahlen als Sieger hervorgegangen. Welche Wirtschaftspolitik verfolgen diese Gruppierungen?
Magda Kandil: Ich habe alle ihre Wirtschaftsprogramme gelesen, insbesondere das der Muslimbrüder. Sie sind intellektuell und ökonomisch stichhaltig, setzen auf den Privatsektor, um das Wachstum anzukurbeln, und sind dem freien Markt verpflichtet. Sie wollen eine offene Marktwirtschaft schaffen. Allerdings wollen sie Regeln stärker durchsetzen und dem Staat eine Rolle zumessen, in der er die Gefahr von Ausbeutung reduziert und der Gier mancher, die wir vor der Revolution gesehen haben, Grenzen setzt.
Sie wollen ein „inklusives“ Wachstum: eines, das alle Teile der Gesellschaft einschließt, und sie wollen sich insbesondere auf diejenigen konzentrieren, an denen das Wachstum im alten Wirtschaftsmodell vorbeiging und die seit der Revolution in einer noch schwierigeren Lage sind. Diese „inklusive“ Agenda zielt auch auf kleine und mittlere Unternehmen: Sie sollen Zugang zu Krediten bekommen, und ihnen sollen keine Hürden in den Weg gelegt werden. Zudem will die Muslimbruderschaft die öffentlichen Finanzen reformieren und Verschwendung bei den Regierungsausgaben reduzieren, insbesondere bei den punktuellen Subventionen, und ein soziales Netz spannen – sei es durch religiöse, private oder Gemeinde-Netzwerke. Auch der Ausbau von „Islamic Banking“ gehört zu ihren Vorstellungen, wodurch nicht zuletzt mehr Kleinunternehmer Chancen auf eine Kreditvergabe erhalten sollen.
IP: Das klingt fast ein bisschen sozialdemokratisch …
Kandil: Nun, die Programme sind sozial in dem Sinne, dass den Parteien klar ist, dass man kein primär von der Privatwirtschaft getragenes Wachstum haben kann, ohne die Probleme anzugehen, unter denen wir vor der Revolution gelitten haben, und dafür zu sorgen, dass sie in der neuen Wirtschaftsordnung nicht wieder auftauchen. Die Rolle des Staates soll definiert werden, die soziale Agenda aber nicht ausschließlich in den Händen des Staates liegen, und sie soll auch nicht einfach aus noch mehr Subventionen bestehen, finanziert durch hohe Steuern. Vielmehr sollen sozial benachteiligte Gruppen mehr Chancen bekommen, an den Produktivprozessen teilzunehmen, damit sie ihren Lebensstandard selbst steigern können. Gleichzeitig könnten die privatwirtschaftlich organisierten sozialen Netzwerke mithelfen, ihre unmittelbare Not an Geld und Nahrungsmitteln zu lindern.
IP: Das Militär spielt in Ägyptens Wirtschaft eine wichtige Rolle. Wird diese heute kritisch gesehen?
Kandil: Alles in allem haben die Menschen kein Problem damit. Nur im politischen Kontext, als Misstrauen entstand, inwieweit das Militär seine Position in der nachrevolutionären Ära sichern wollte, wurde das ein Thema. Alles hängt vom politischen Prozess ab. Wenn das Militär Wort hält, die Macht übergibt und sich beim Entwurf der neuen Verfassung nicht zu sehr einmischt, dürfte seine wirtschaftliche Rolle nicht hinterfragt werden.
IP: Wie lautet Ihr Rezept? Welches Wirtschaftsmodell wäre das beste für das neue Ägypten?
Kandil: Das Wichtigste ist, dass wir schnell den Kredit des Internationalen Währungsfonds erhalten. Dies würde die Wirtschaft stabilisieren, ihr gewissermaßen eine Art Gütesiegel aufdrücken und hoffentlich mehr internationale Kapitalströme und Hilfen nach Ägypten lenken. Und dann müssen wir uns mit den Dingen befassen, die uns überhaupt erst in diese Lage gebracht haben: Ganz oben steht die Reform der öffentlichen Finanzen, denn was die Regierung in den vergangenen zwölf Monaten gemacht hat, ist aus ökonomischer Sicht sehr kostspielig gewesen und hat nichts bewirkt, was die Bedürfnisse und Forderungen der Menschen im nachrevolutionären Ägypten angeht. Es gibt keinen Spielraum, mehr Stellen im öffentlichen Dienst zu schaffen. Deshalb sollte sich die Regierung lieber auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren: die Wirtschaft anzukurbeln – nicht durch Jobprogramme, sondern durch Hilfe für den Privatsektor, insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen.
Darüber hinaus brauchen wir meines Erachtens einen zweigleisigen Ansatz: Kurzfristig müssen wir uns auf die Wiederbelebung der Wirtschaft konzentrieren, insbesondere auf die kleinen und mittleren Unternehmen, denn ich denke, große Investoren kann man in diesem Klima noch nicht wieder anziehen. Man muss den Unternehmen stärker entgegenkommen, vor allem den kleinen und mittleren Unternehmen, die sich derzeit in einer trostlosen Lage befinden; sie müssen so viel Unterstützung wie möglich erfahren, damit sie wieder aktiv werden können.
Längerfristig muss man die größeren Strukturen überdenken und genau überlegen, in welche Bereiche die Regierung investieren sollte – sei es Geld, das von den internationalen Kapitalmärkten geliehen ist oder in Form von „Public Private Partnerships“. Dies wird sich natürlich erst mittelfristig auswirken, aber es ist von entscheidender Bedeutung, die ägyptische Volkswirtschaft auf eine Schiene zu hieven, auf der schnelleres Wachstum möglich ist, wenn wir erst einmal das aktuelle Nadelöhr durchschritten haben. Wir müssen strukturelle Hürden abbauen, Missverhältnisse im Arbeitsmarkt beheben und Arbeitsplätze schaffen, insbesondere für die Jugend.
Es gibt Chancen auf Wachstum jenseits des traditionellen Modells. Wir können neue Dimensionen bei der Urbanisierung, bei der Industrialisierung und selbst bei landwirtschaftlichen Investitionen erschließen, um beispielsweise Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten und Arbeitsplätze mit Mehrwert zu schaffen, gerade in den ländlichen Gebieten, wo große Armut herrscht.
IP: Und Sie sind optimistisch, dass Ägypten auch unter einem Präsidenten aus den Reihen der Muslimbruderschaft „open for business“ bleibt?
Kandil: Nach allem, was ich gesehen und gehört habe, mache ich mir da keine Sorgen. Ich bin mir sicher, dass sich diese Parteien viele Gedanken gemacht haben. Sie sind sich der wirtschaftlichen Zwänge bewusst, und sie setzen sich keine Ziele, die diesen zuwiderliefen. Sie werden keine neuen Vorschriften oder sozialen Normen einführen, die das Wirtschaftspotenzial im Namen religiöser Überzeugungen beschneiden würden. Ich denke, sie werden sich da heraushalten. Natürlich steckt der Teufel im Detail. Aber lassen Sie uns hoffen, dass sie für die Herausforderung bereit sind, dass sie ihre Versprechungen einhalten und dass sie sich auf die wirtschaftlichen Prioritäten konzentrieren. Sie wollen vor allem den 40 Prozent der Bevölkerung helfen, die unterhalb oder an der Armutsgrenze leben – das ist ihr oberstes Anliegen, und sie werden ihre wirtschaftliche Agenda darauf ausrichten. Und die Philosophie, die ihr Denken prägt, lautet: von der Privatwirtschaft getragenes Wachstum, Liberalisierung und freie Marktwirtschaft.
Die Fragen stellte Henning Hoff
Internationale Politik, Online Exklusiv