Anarchie im Weltraum
Wie die Großmächte Frieden und Nachhaltigkeit im Orbit aufs Spiel setzen – und wie Europa zum Gestalter einer neuen internationalen Ordnung werden kann.
Die bisherige internationale Ordnung im Weltraum löst sich auf. Dies erfordert vielfältiges konkretes Handeln, aber auch ein Nachdenken darüber, welche Rolle Europa im Weltraum und in der internationalen Weltraumpolitik einnehmen kann. Kurz gefasst: Welche Programme, welche Politik, welche Diplomatie brauchen wir jetzt? Die europäische Raumfahrtcommunity verbindet mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die Hoffnung, Diskussionsstränge, Policy-Entwicklungen und Antworten auf ein sich rasant veränderndes internationales Umfeld zusammenzuführen.
Space Force, Elon Musk und China auf dem Mond sind die aktuellen Ikonen der Raumfahrt. Sie stehen für ganz unterschiedliche Trends: Militarisierung, NewSpace und Explorationswettlauf. Zugleich verdeutlichen sie, dass es eine Grundkonstante gibt: Die Weltraumnutzung war in den vergangenen 60 Jahren nie konfliktfrei. Doch heute wird mühsam auf multilateralem Wege erreichtes regelgeleitetes Verhalten bewusst aufgegeben. Es droht Anarchie. Europa muss in dieser Situation konzeptionelle und diplomatische Führung für eine erneuerte Ordnung globaler, prinzipiengeleiteter Weltraumnutzung übernehmen.
Autonomie ist das aktuelle Zauberwort der Raumfahrtpolitik. Jeder große Akteur – ob die USA, Russland, China, Japan, Indien oder Europa – strebt nach Autonomie oder hat sie bereits verwirklicht. Zugang zum Weltraum durch Trägerraketen, alle wichtigen zivilen und militärischen Satellitenanwendungen für Telekommunikation, Wetter- und Erdbeobachtung, Navigation und Positionierung sowie Weltraumlage tragen zur Autonomie bei. Wissenschaftsmissionen und bemannte Raumfahrt sorgen zusätzlich für Prestige.
Die Aufzählung macht deutlich, dass es zwar immer mehr Länder mit kleinen Satelliten ins All schaffen (inzwischen sind es fast 70), dass das Ziel von Autonomie aber nur für wenige erreichbar ist. Europa verwirklicht seine Autonomie durch die Trägerraketen Ariane und Vega, durch die Satellitensysteme Meteosat, Copernicus und Galileo sowie eine im Aufbau befindliche Kapazität zur Weltraumlagebeobachtung. Die anderen Großmächte im Weltraum haben ihre jeweils eigenen Systeme. So hat China im Juni 2020 sein Navigationssatellitensystem Beidou komplettiert – mit einigem Vorsprung zur vollen operationellen Fähigkeit von Galileo.
Die USA geben am meisten für Raumfahrt aus (jeweils ca. 25 Milliarden Dollar pro Jahr für zivile und militärische Projekte). Die Raumfahrtausgaben Europas mit rund zehn Milliarden Euro erscheinen da eher gering; die Ausgaben Russlands, Chinas und Indiens sind intransparent oder wenig vergleichbar. Diese neue Multipolarität führt zu einer fragilen Balance of Power in einem anarchischen System.
Die Zündschnur zum Pulverfass der internationalen Raumfahrtpolitik bildet die weiter fortschreitende Militarisierung der Weltraumnutzung. Zwar war sie bereits von Anfang an als Dual-use-Kapazität praktisch aller Raumfahrtaktivitäten angelegt. Doch heute wird sie sogar durch Antisatellitentests (ASAT) und die Einführung von Space Forces inszeniert und zelebriert.
Noch bedeutender ist die Tatsache, dass die Weltraumnutzung immer mehr als Sicherheitsproblem wahrgenommen wird. Dies überlagert nahezu alle zivilen Anwendungen und zwingt ihnen eine sicherheitspolitische Handlungslogik auf. Dies erzeugt eine Spirale von Bedrohung und Gegenbedrohung, von Bewaffnung und Gegenbewaffnung. Sie spiegelt sich auch in einigen Doktrinen wider, zum Beispiel in der im Juni 2020 veröffentlichten amerikanischen Defense Space Strategy, die auf Überlegenheit (superiority) und Verweigerung (denial) aufbaut.
Kaum weniger aggressiv, nur nicht so transparent, sind die Strategien insbesondere von Russland und China, wobei Russland jüngst zwar keine ASATs wie China und Indien durchführt, aber inzwischen fast routinemäßig Satelliten auf „Inspektionstouren“ nahe an fremde Satelliten heran aussendet. Entsprechend ist für Europa eine Sicherheitspartnerschaft mit diesen Ländern weit schwächer ausgeprägt als traditionell mit den USA. Insgesamt wird die Lage dadurch angeheizt, dass vertrauens- und transparenzbildende Maßnahmen im Weltraum Fehlanzeige sind.
Verstoß gegen geltendes Recht
Die Rolle privater Akteure ist eine andere Art der Herausforderung, berührt aber gleichermaßen die sichere und geordnete Nutzung des Weltraums. Private Aktivitäten sind laut Weltraumvertrag von 1967 durch die Vertragsstaaten zu genehmigen und stehen unter der Verantwortung der betreffenden Staaten, die zudem dafür haften. Überdies verbietet der Weltraumvertrag die Aneignung des Weltraums – ob dies Ressourcen oder Orbitpositionen sind. Derzeit werden diese Bestimmungen allerdings ausgehebelt, indem zuerst die USA und dann Luxemburg den Besitz an Weltraumressourcen gesetzlich erlaubt haben. Dies ist ein eklatanter Verstoß gegen internationales Recht, der nicht nur zu Wettbewerb, sondern sogar zu Kämpfen um diese Ressourcen führen kann.
Zudem wird privaten Akteuren erlaubt, sogenannte Megakonstellationen mit Tausenden von Satelliten zu platzieren, die die Raumfahrtaktivitäten anderer extrem behindern werden. Von Staatsaufträgen gefütterte private Investoren und Milliardäre wie Elon Musk werden so zur Gefährdung der bislang bestehenden Weltraumfreiheit und der ungehinderten Nutzung. Dies hat nichts mit Start-ups oder kreativen neuen Raumfahrtaktivitäten und -unternehmungen zu tun, sondern zielt auf First-come-first-serve-Dominanz und Monopolismus.
Rivalitäten anstatt Partnerschaft
Zum weiteren Problemfall wird die Exploration. Noch kann die Internationale Raumstation ISS als Friedensprojekt gelten, weil es zumindest die USA und Russland gemeinsam bindet. Aber das neue Großprojekt Lunar Gateway/Artemis sieht keine internationale Partnerschaft auf Augenhöhe vor, sondern schließt Russland aus und hat eine US-dominierte Struktur mit klarer Juniorpartnerrolle Europas, Japans und Kanadas. Alle, die erwartet hatten, dass die Rückkehr zum Mond ein globales Gemeinschaftsprojekt auch mit China und Entwicklungsländern wäre, sehen sich nun getäuscht. Wohin die Akzeptanz der Juniorpartnerschaft noch führen kann, ist durch die erratische Programmplanung der NASA gekennzeichnet, die noch vor Unterzeichnung der Verträge entscheidende Missionsziele veränderte und nun nicht mehr via Gateway, sondern für die erste bemannte Rückkehrmission direkt zum Mond fliegen wird.
Die gemeinsame und verantwortungsvolle Raumfahrt liegt derzeit in Trümmern. Das optimistische und idealistische Prinzip des „province of all mankind“ aus dem Weltraumvertrag (vergleichbar mit dem „common heritage of mankind concept“ aus dem Seerecht) war zwischenzeitlich gar nicht so wirkungslos. Es hat unter anderem dazu geführt, dass durch die Aushandlung in der International Telecommunication Union Orbitpositionen im geostationären Orbit gleichberechtigt genutzt werden können und dass der UN-Weltraumausschuss Richtlinien zur Müllvermeidung verabschieden konnte.
Mit der neuen Anarchie zerfällt die Respektierung des Weltraums als staatsfreier Raum, als Global Common. Eine multilaterale Entwicklung der Regulierung im UN-Weltraumausschuss und in der UN-Abrüstungskonferenz wird vernachlässigt. Grundprinzipien wie die Nichtaneignung, freier Zugang und freie Nutzung oder die gegenseitige Rücksichtnahme werden missachtet. Sicherheit, Stabilität, Transparenz und Gleichberechtigung sind infrage gestellt und machen dem jeweiligen Gegenteil Platz.
Europa ist gefragt
Ist die neue Anarchie aufzuhalten? Können die Rivalitäten zwischen den USA und Russland sowie China, zwischen China und Indien und zahlreichen anderen Konstellationen gemindert werden? Dazu müsste sich Europa zu einem aktiven Spieler im Konzert der Weltraummächte entwickeln. Auch wenn Europa seine Autonomie und seine Kapazitäten der militärischen Weltraumnutzung ausweitet, ist dies eindeutig nicht aggressiv – denn es sucht weder Überlegenheit oder Verweigerungsfähigkeit noch Zweitschlagsfähigkeit, sondern eher defensive Resilienz und ist diplomatisch stets multilateral ausgerichtet. Dies macht Europa zur einzigen Institution, die glaubhaft vermitteln und ein neues akzeptables Netz zwischen den autonomen Akteuren knüpfen könnte. Es soll also keine „Festung Europa“ geben und Raumfahrtpolitik zudem nicht nur auf die EU bezogen sein, da Norwegen, die Schweiz und auch das Vereinigte Königreich seit einem halben Jahrhundert Teil von Europa im Weltraum sind.
Nicht zu unterschätzen ist dabei die Vorbildfunktion, die Europa mit seiner zwischenstaatlichen, gemeinschaftlichen Koordinierung und Kooperation in EU und ESA für Asien, Afrika und Lateinamerika hat. Wenn es allerdings in anderen Weltregionen, trotz diverser Versuche, nicht mit Agenturen nach dem Vorbild der ESA klappt, so hat das vor allem die Ursache, dass es dort Staaten gibt, die durch einen regionalen Zusammenschluss primär ihren eigenen Einfluss ausbauen und weitere autonome Player verhindern wollen.
Deutschland hatte das gesamte Spektrum der Raumfahrt im Blick – von nationalen über spezifisch europäische bis hin zu den dargestellten internationalen Trends –, als es seine Strategie für die EU-Ratspräsidentschaft im Bereich Raumfahrt ausarbeitete und seit Juli umsetzt.
Diese Strategie ruht auf zwei Säulen. Zum einen sollen zentrale EU-interne Faktoren zur Entscheidung kommen: das Raumfahrtbudget im Rahmen der Mittelfristigen Finanzplanung, eine Verordnung zur Governance des EU-Raumfahrtprogramms von 2016 sowie ein Abkommen zwischen EU und ESA zur Durchführung und zum Management von Programmen. Damit wird für die Jahre bis 2027 der Grundstein für Stabilität in der europäischen Raumfahrt gelegt und zudem ein Denkprozess angestoßen, wie die institutionelle Ordnung in Europa ab 2030 aussehen könnte und sollte. Ein wichtiges Bindeglied wird dabei die französische EU-Ratspräsidentschaft 2022 sein.
Die zweite Säule ist eine Initiative Deutschlands als „ehrlicher Makler“ europäischer Raumfahrtinteressen, um verschiedene Entwicklungstrends und Perspektiven der internationalen Zusammenarbeit aufzugreifen. Dabei sollen Kernprinzipien für die internationale Raumfahrtwirtschaft etabliert werden. Diese Initiative zielt, im Einklang mit übergeordneten deutschen Präsidentschaftsprioritäten, auf gleiche Wettbewerbsbedingungen. Dazu gehören die Reduzierung von Handelsbeschränkungen für Raumfahrtprodukte und -dienstleistungen, die Verbesserung der Finanzierung von Raumfahrtunternehmungen, die Durchsetzung von Rechten an geistigem Eigentum, Cyber Security für die Weltraumnutzung durch Incentives und Standardisierung sowie die multilaterale Weiterentwicklung internationaler Regulierung insbesondere für den Weltraumverkehr, das Space Traffic Management.
Diese beiden Säulen werden verbunden durch die Bearbeitung der Probleme für den Raumfahrtsektor aus der Corona-Krise sowie die Verknüpfung mit den großen Zielen der Kommission, wie dem Green Deal, der Digitalen Souveränität und einer Europäischen Verteidigungsunion.
Bei diesem Vorgehen werden alle Mitgliedstaaten von EU und ESA einbezogen; im November soll eine Tagung des europäischen Space Council zur Beschlussfassung europäischer Orientierungen stattfinden. Zugleich wird dieser Ansatz Impulse für eine Zähmung der Anarchie im All geben, indem wirtschaftliche Interdependenz gestärkt wird durch gesteigerte Handelsbeziehungen und regelgeleitetes Verhalten.
Der Weltraum als Global Common
Auf der eher normativen Ebene internationaler Politik können diese Impulse Rechtsstaatlichkeit und friedliche Nutzung stärken. Der Weltraum als Global Common wird als Konzept wiederbelebt, auch wenn es hier viel Spielraum gibt –wie die Operationalisierung beispielsweise durch Moratorien für die Ausbeutung von Bodenschätzen oder Obergrenzen beziehungsweise Gebühren zur Erzielung nachhaltiger Nutzung.
Europa ergreift also die Chance, ein Zeichen – und hoffentlich mehr als das – zur eigenen Positionierung im globalen Kontext und zur Reduzierung der Gefahren einer Anarchie im Weltraum zu setzen. Klare Linie, Selbstbewusstsein, angemessene diplomatische Ressourcen, keine Unterwerfung unter amerikanischen Bilateralismus und exterritorialer Anwendung nationalen Rechts sind dafür essentiell. So wäre eine Ausrichtung internationaler Raumfahrtanstrengungen auf die Ziele nachhaltiger Entwicklung der Vereinten Nationen (was auch das Management von Katastrophen und Pandemien umfasst) ein positives Zeichen, das glaubwürdig nur Europa setzen könnte.
Deutschland steht in der europäischen Raumfahrtpolitik für Abstimmung und Gemeinsamkeit, für die Vermeidung von Alleingängen oder die Dominanz größerer Akteure. Das wird auch auf die internationale Ebene übertragen. Ein realistisches Maß an Optimismus ist erlaubt, dass Europa nicht nur im Konzert der Großmächte im Weltraum mitspielt, sondern darüber hinaus die internationale Ordnung positiv gestaltet.
Prof. Dr. Kai-Uwe Schrogl ist derzeit von der European Space Agency an das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie zur Unterstützung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft abgeordnet. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2020, S. 74-78
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