Amerikas Ängste
Chinas Macht wächst schnell. Aber von Kooperation statt Konfrontation profitieren beide Seiten - und die ganze Welt
Im Verhältnis zwischen den USA und China steigt das gegenseitigeMisstrauen. Die USA bezweifeln etwa, dass China seine Ambitionen gegenüber Taiwan allein mit nichtmilitärischen Mitteln verfolgen wird,wenn sein weltpolitischer Einfluss zunimmt. Peking wiederum befürchtet,die USA könnten Chinas Aufstieg zu blockieren versuchen. In dieser Situation sind vertrauensbildende Maßnahmen jeglicher Art das Gebot der Stunde. Ein neuer „Kalter Krieg“ würde niemandem nutzen.
In der ersten Amtszeit von US-Präsident George W. Bush bezeichnete der damalige Außenminister Colin Powell die sino-amerikanischen Beziehungen als die besten seit über 30 Jahren. Weniger als ein Jahr nach Beginn von Bushs zweiter Amtszeit stehen die US-chinesischen Beziehungen in den USA jedoch im Kreuzfeuer der Kritik. Der Kongress und amerikanische Lobbygruppen werfen China vor, amerikanische Arbeitsplätze zu gefährden und seine Währung zugunsten steigender Exporte zu manipulieren, wodurch ein gewaltiger Handelsüberschuss gegenüber den Vereinigten Staaten entstehe. Das Pentagon wirft China in seinem Jahresbericht nicht nur die Entwicklung eines für Taiwan bedrohlichen Militärpotenzials vor, sondern auch die Aufstockung seines Raketen- und Marschflugkörperarsenals, von U-Booten und hoch entwickelten Kampfflugzeugen, die eine potenzielle Gefahr für Chinas Nachbarn und die in der Region stationierten amerikanischen Truppen darstellten. Die Kooperation zwischen Washington und Peking im Kampf gegen den Terrorismus scheint brüchig zu werden, weil China eine Erklärung der Shanghai Cooperation Organization (SCO) unterstützt, in der die Festlegung eines Zeitplans für den Abzug ausländischer Truppen von Stützpunkten in Zentralasien gefordert wird. Haben sich die US-amerikanischen Beziehungen zu China in so kurzer Zeit so grundlegend verändert?
Eine knappe Antwort müsste „Nein“ lauten. Aber dennoch nehmen die Schwierigkeiten im sino-amerikanischen Verhältnis zu, das Misstrauen wächst. Zudem hat sich die Stimmung in Washington verändert. Die erneute amerikanische Besorgnis über China, die Anfang 2001 kurz aufschien – bevor sie nach 9/11 von den Erfordernissen im Kampf gegen den Terror verdrängt wurde –, sollte niemanden überraschen. Der Antiterrorkampf hat zwar immer noch Priorität, bindet aber nicht mehr sämtliche Kräfte, so dass auch andere Inhalte wieder diskutiert werden. Republikanische Kongressmitglieder, die in Bushs erster Amtszeit eine Konfrontation mit dem Präsidenten vermeiden wollten, kritisieren nun nicht nur Bushs schwerfällige Reaktion bei der Hilfe für die Opfer des Hurrikans Katrina, sein Bekenntnis zur unbegrenzten Stationierung amerikanischer Truppen im Irak und die übermäßigen Staatsausgaben, sondern auch seine Haltung zu China.
Natürlich wurde China teilweise zum Sündenbock für Amerikas wirtschaftliche Bedrängnis gemacht. Doch selbst eine erhebliche Aufwertung der chinesischen Währung, die von einigen Mitgliedern des Kongresses und der Bush-Regierung gefordert wird, würde das Handelsdefizit der USA gegenüber China nicht wesentlich verringern. Auch auf die Arbeitsplätze in der Industrie würde dies keinen spürbaren Effekt haben, wie US-Notenbankchef Alan Greenspan betonte. Trotzdem ist das bilaterale Handelsdefizit von inzwischen mehr als 200 Milliarden Dollar jährlich den politischen Kreisen nicht mehr zu vermitteln. Viele Amerikaner befürchten, dass China technologisch weiter aufholt und am oberen Ende der Wertschöpfungskette in den Wettbewerb einsteigt. Der ausbleibende Fortschritt beim Urheberrechtsschutz für geistiges Eigentum gießt Wasser auf die Mühlen. Besorgnis erregend ist auch Pekings weltweiter Drang, sich neue Energiequellen exklusiv zu sichern, vor allem da viele seiner neuen Geschäftspartner Länder sind, die wegen zweifelhafter Praktiken von Washington mit Sanktionen belegt sind.
Verschobene Machtbalance
Die Modernisierung des chinesischen Militärapparats verlief seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre sehr rasch, wobei bedeutende Fortschritte erzielt worden sind. Bislang konzentriert sich die Volksbefreiungsarmee auf die Verhinderung der Unabhängigkeit Taiwans, ohne Chinas Nachbarn zu bedrohen oder Machtambitionen gegenüber weiter entfernten Ländern zu zeigen. Da sich die militärische Balance zwischen China und Taiwan jedoch zugunsten Pekings verschiebt, wächst auf amerikanischer Seite die Angst vor einer möglichen Fehleinschätzung der Situation, die eskalieren und zu einem größeren Konflikt zwischen den USA und China führen könnte. Die Lage wird noch dadurch verschlimmert, dass Taiwan in den vergangenen zehn Jahren seine realen Verteidigungsausgaben immer weiter zurückgefahren und damit seine Fähigkeit verringert hat, eine chinesische Aggression so lange abzuwehren, bis amerikanische Truppen intervenieren können.
Neben diesen Bedenken besteht in Amerika große Unsicherheit über Chinas langfristige strategische Absichten. Trotz der Versicherungen aus Peking, den Aufschwung friedlich zu gestalten, bleiben die Vereinigten Staaten misstrauisch. Der Pentagon-Bericht von 2005 über Chinas militärische Stärke sieht das Land an einem „strategischen Scheideweg“ und fügt hinzu, dass weiterhin offen sei, „welche grundlegenden Entscheidungen die chinesische Führung treffen wird, angesichts zunehmender Macht und wachsenden Einflusses vor allem auf militärischem Gebiet“. In einer Rede im September sagte US-Vizeaußenminister Robert Zoellick zur amerikanischen Haltung gegenüber China: „Unsicherheiten darüber, wie China seine Macht einsetzen wird, machen die USA – und andere Länder ebenfalls – sehr vorsichtig in ihren Beziehungen zu China. Viele Länder hoffen auf einen ‚friedlichen Aufschwung‘ Chinas, aber keines möchte seine Zukunft darauf verwetten.“
Zu den Gründen für Bedenken in Washington zählt die Haltung Pekings zur amerikanischen Militärpräsenz in Nachbarländern Chinas und zur allgemeinen Rolle Amerikas in den regionalen Angelegenheiten Ostasiens. Die chinesische Führung beteuert, die aktive Teilnahme der USA an regionalen multilateralen Beziehungen zu begrüßen und behauptet, die Entsendung amerikanischer Truppen nach Übersee nur im Prinzip und nicht in der Praxis abzulehnen. Schon jetzt scheint die faktische Politik Pekings diese Worte Lügen zu strafen. China befürwortet nicht nur die Festlegung einer Abzugsfrist für in Zentralasien stationierte US-Truppen – aus Stützpunkten, die aus Sicht Washingtons für den Wiederaufbau Afghanistans unerlässlich sind –, sondern unterstützt ein geplantes Gipfeltreffen von 13 ostasiatischen Ländern in Malaysia im Dezember, von dem die USA ausgeschlossen sind. Zudem kursiert in Washington der Verdacht, dass China mit dem Abschluss von Energieabkommen mit Staaten, die von der Bush-Regierung als unfreundlich bis feindlich eingestuft werden, die Absicht verfolgt, kurzfristig das Gleichgewicht mit den USA zu seinen Gunsten zu verschieben und eine Basis für potenzielle antiamerikanische Koalitionen zu schaffen.
Peking ist mit dem sino-amerikanischen Verhältnis weit weniger unzufrieden als Washington. Die chinesische Führung konzentriert sich darauf, die ökonomische Entwicklung voranzutreiben und die sozialen Spannungen abzufedern, die durch das schnelle und ungleichmäßige Wachstum entstanden sind. Das 5. Plenum des 16. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober bekräftigte den Aufruf des chinesischen Präsidenten Hu Jintao, eine „harmonische Gesellschaft“ zu schaffen. Im Allgemeinen betrachtet China die Verbindungen mit den Vereinigten Staaten als konstruktiv, kooperativ und stabil. Aber natürlich findet sich auch Grund zur Klage: Zum Beispiel halten die USA an Lieferbeschränkungen für Hochtechnologie an China fest und sind nicht bereit, China als Marktwirtschaft anzuerkennen. Zudem hat die Bush-Regierung eindringlich gegen die Lockerung des EU-Waffenembargos gegen China protestiert.
In entscheidenden Sicherheitsfragen dagegen sind die Chinesen, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, halbwegs einverstanden mit der US-Politik. Die Regierung von Bush sen. hat öffentlich den Anspruch Taiwans, ein unabhängiger souveräner Staat zu sein, bestritten und den taiwanesischen Präsidenten Chen Shui-bian ermahnt, nicht im Alleingang den Status quo zu ändern. Auf Drängen Pekings beschränkte sich Washington beim Bestreben, Nordkoreas Nuklearwaffen zu beseitigen, auf diplomatische Mittel. Beratungen zwischen den USA und China finden auf verschiedenen Ebenen und zu einer breiten Themenpalette statt; häufig telefonieren hochrangige Regierungsbeamte sowie die beiden Außenminister miteinander.
Strategischer Dialog
Auf Betreiben Pekings haben hochrangige amerikanische und chinesische Beamte ein halbjährliches Gespräch zu strategischen Fragen aufgenommen. US-Vizeaußenminister Robert Zoellick und sein chinesischer Amtskollege Dai Bingguo nutzen diesen Dialog für einen offenen Austausch über die Belange ihrer Länder. Die Gespräche sollen Missverständnisse ausräumen, Unstimmigkeiten beseitigen, Gemeinsamkeiten ausbauen und neue Kooperationsbereiche festlegen. Einzelheiten amerikanischer und chinesischer Politik, Perspektiven für bestimmte Regionen wie Lateinamerika und Afrika sowie Themengebiete wie Antiterrormaßnahmen und die Nichtverbreitung von Kernwaffen werden auf niedrigerer Ebene diskutiert.
Der Austausch auf militärischem Gebiet blieb hinter den politischen Beziehungen zurück und wird nun nach dem China-Besuch des amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, dem ersten seit seinem Amtsantritt, langsam ausgeweitet. Zur Debatte steht eine ständige Telefonverbindung zwischen den Verteidigungsministerien, so dass sich die führenden Militärbehörden im Falle einer Krise austauschen können. Nach seiner Teilnahme am APEC-Forum (Asia Pacific Economic Cooperation) im südkoreanischen Pusan besuchte Präsident Bush Mitte November auch China. Für das erste Halbjahr 2006 ist ein USA-Besuch Hu Jintaos geplant, der schon hätte stattfinden sollen, aber wegen des Hurrikans Katrina verschoben wurde.
Die größten chinesischen Bedenken bezüglich der amerikanischen ChinaPolitik betreffen die Zukunft nach der Bush-Regierung. Chinesische Beamte und Wissenschaftler sind skeptisch, ob die USA Chinas Aufstieg zur globalen Supermacht in einigen Jahrzehnten begrüßen werden, vor allem wenn dieser Aufstieg weiterhin auf der Grundlage eines Einparteiensystems erfolgt, das sich gegenüber den Bürgern nicht wirklich verantworten muss. Ihre Befürchtung ist, dass die Vereinigten Staaten stattdessen stärker als bisher auf einen Systemwechsel in China drängen und versuchen werden, Chinas Aufschwung zu blockieren oder zu bremsen, um die amerikanische Vorherrschaft zu sichern. Falls Washington mit dem Demokratieexport in den Nahen Osten erfolgreich ist, könnte das, so wird in China befürchtet, einen härteren Druck seitens der USA zur Folge haben, politische Freiheiten zuzulassen oder sogar die Legitimität der Kommunistischen Partei zu untergraben.
Die zukünftige Haltung der USA gegenüber Taiwan ist ein weiterer Grund zur Sorge. Die meisten Chinesen glauben, dass die mangelnde Unterstützung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbestrebungen durch Washington einfach nur eine Frage aktueller Prioritäten ist, da im Moment der Kampf gegen den Terror und die Stabilisierung des Iraks wichtiger sind. Es herrschen die Überzeugung, die USA werden eine Wiedereingliederung Taiwans niemals zulassen, und die Befürchtung, Washington werde in einer veränderten Weltlage Taipehs Wunsch nach offizieller und rechtlich abgesicherter Unabhängigkeit wohlwollender gegenüberstehen.
Kurzfristig können die sino-amerikanischen Beziehungen wahrscheinlich auf einem ausgeglichenen Niveau gehalten werden. Mehr als alles andere braucht China ein friedliches internationales Umfeld für den Fortgang seines wirtschaftlichen Wachstums. Die Vermeidung ernsthafter Streitigkeiten mit der einzig verbliebenen Supermacht ist überlebenswichtig. Offene Streitigkeiten zwischen den USA und China würden von den Bewohnern beider Länder teuer bezahlt werden. Der globale Wohlstand wäre gefährdet, und die Länder Europas und Asiens würden sich in der undankbaren Position wiederfinden, sich in einem neuen Kalten Krieg für eine Seite entscheiden zu müssen.
Suche nach gemeinsamen Interessen
Obwohl es verfrüht wäre, eine strategische Konfrontation für unausweichlich zu halten, muss man die tatsächlichen Gefahren klar benennen und die notwendigen Schritte einleiten, um eine Bedrohung der weltweiten Sicherheit zu verhindern. Um eine strategische Katastrophe zu vermeiden, sollten Washington und Peking jetzt das gegenseitige Vertrauen ausbauen. Die Gelegenheit zur Einflussnahme besteht auch dann, wenn die strategischen Absichten der anderen Seite noch nicht genau beurteilt werden können und die richtige Taktik noch nicht klar ist. Persönliche Gespräche zwischen Spitzenpolitikern sind einzigartige Gelegenheiten, Bedenken zu äußern und darzulegen, was man sich von den bilateralen Beziehungen jeweils verspricht. Gipfeltreffen bieten beiden Seiten die Möglichkeit, einander in entscheidenden Fragen gegenseitige strategische Zusicherungen zu geben. Amerikanische und chinesische Politiker könnten einen strategischen Handel eingehen: Chinas Präsident Hu Jintao könnte versprechen, dass China nicht versuchen wird, amerikanische Truppen zu vertreiben oder den amerikanischen Einfluss in Asien zurückzudrängen, solange die USA nicht Chinas zentrale Interessen bedrohen. Präsident Bush wiederum könnte die Zusage machen, ein einflussreicheres und mächtigeres China zu unterstützen, vorausgesetzt, dass die chinesische Politik die grundlegenden Interessen der Vereinigten Staaten nicht untergräbt.
Der halbjährliche Dialog zu strategischen Fragen auf der Führungsebene bietet ein Forum sowohl für die unverblümte Diskussion von Unstimmigkeiten als auch für die Besprechung von Themen, bei denen Amerika und China gemeinsame Interessen haben. Mit besonderer Aufmerksamkeit sollte nach Bereichen gesucht werden, in denen eine Kooperation möglich ist oder eine bestehende ausgebaut werden kann. Die erfolgreiche Zusammenarbeit in entscheidenden Sicherheitsfragen erinnert Politiker, Regierungen und Öffentlichkeit an den Wert bilateraler Beziehungen und gleicht die negative Wirkung aus, die andere Problembereiche erzeugen. Zu den Gebieten, in denen amerikanische und chinesische Interessen konvergieren, in denen aber noch keine Verständigung versucht wurde, zählen: Maßnahmen gegen den Terrorismus auf See, Stabilität im Nahen Osten, Energiesicherheit sowie globale Gesundheitsfragen.
Chinas Aufstieg, lange Zeit als vage Zukunftsmöglichkeit betrachtet, findet hier und jetzt statt, auch wenn das Land vor bedeutenden inneren Problemen steht. Obwohl einige Aspekte des Aufstiegs von China verständlicherweise Besorgnis erregen, interessiert die USA und den Rest der Welt ganz wesentlich, ob China erfolgreich den Großteil seiner 1,3 Milliarden Menschen aus der Armut holt oder nicht. Wenn China auf dem Weg zu marktwirtschaftlichen Reformen und wirtschaftlicher Globalisierung scheitern würde, wären die Auswirkungen weltweit zu spüren. Es liegt also im amerikanischen Interesse, Chinas Aufstieg aktiv zu unterstützen und den eigenen Einfluss dergestalt geltend zu machen, dass bestehende internationale Normen und Sicherheitsabkommen gestärkt werden und amerikanischen Interessen genutzt oder zumindest nicht geschadet wird.
Wenn China an der Erhaltung eines internationalen Umfelds gelegen ist, das dem weiteren Ausbau seiner nationalen Macht entgegenkommt, sollte es darauf achten, die zentralen Interessen anderer Länder nicht mit Füßen zu treten. Peking muss außerdem seine außenpolitischen und militärischen Pläne transparenter machen und offener mit seinen Vorstellungen über die zukünftige strategische Landschaft und die jeweiligen Rollen der USA und Chinas in Asien umgehen. Rein rhetorische Bekenntisse Chinas zu einem „friedlichen Aufstieg“ ohne jegliches Hegemoniestreben reichen nicht mehr aus, um andere Nationen zu beruhigen. Den Worten müssen Taten folgen, wie man in China zu sagen pflegt.
Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 31 - 35.