Amerika führt
Eine amerikanische Selbsteinschätzung
Die Amerikaner, so der Direktor des Berliner Aspen Instituts, leben seit dem 11. September 2001in einer neuen Welt. Der Kampf gegen den Terror werde die Beziehungen der USA zu Russland, zur arabischen Welt und zu den europäischen Verbündeten tief greifend verändern. Dies verlange vor allem von den Europäern eine Neuorientierung.
Sergej Jastrschembskij,hochrangiger Berater des russischen Präsidenten, Wladimir Putin, verkündete als Erster Russlands Interesse an „Präventivschlägen“ gegen Terroristenlager in Afghanistan. Erbegründete dies damit, dass Afghanistan zu einer „Brutstätte des internationalen Terrorismus“ geworden sei und damit zu einem Problem, das, so räumte er ein, die russischen Interessen dahingehend beeinflusst habe, eine gemeinsame Front mit den Amerikanern zu bilden. Erstaunlich war der Zeitpunkt seiner Äußerungen: Jastrschembskijhatte diese Fragen auf einer Pressekonferenz in Moskau im Mai 2000 angesprochen, über ein Jahr vor den Anschlägen der Al-Khaïda-Terroristen auf die USA!1
Erstaunlicherweise näherten sich die amerikanischen und russischen Interessen seit Herbst 2001 rasch an. Seither ist auch die Außenpolitik der Regierung von George W. Bush klarer definiert. Mehr Menschen waren von den Selbstmordattentätern in New York und in Washington getötet worden als Soldaten in Pearl Harbor. „Amerika befindet sich im Krieg“, stellte Senator Richard Lugar Ende 2001 fest.2
Die verheerenden Anschläge vom 11. September auf das World Trade Center und das Pentagon veränderten auf einen Schlag die nationale Sicherheitsdebatte in den Vereinigten Staaten. Für die Amerikaner ist die Welt nach Ende des Kalten Krieges endgültig Vergangenheit; der Terrorismus ist zur neuen großen Gefahr geworden. Das bedeutet natürlich nicht, dass die USA beabsichtigen, andere wichtige Themen zu vernachlässigen. Im Februar gab Bush seine alternativen Vorschläge zum Kyoto-Protokoll zur Eindämmung der Treibhausgase bekannt. Washíngton blieb mit Moskau in Rüstungskontrollverhandlungen über Start III und wird voraussichtlich im Mai ein Abkommen unterzeichnen. Weiterhin reiste der Präsident im Februar nach Asien und besuchte Japan, China und Südkorea. Anschließend stattete Bush einigen Staaten Südamerikas einen Besuch ab.
Der Kampf gegen den Terrorismus wird aber wahrscheinlich das außenpolitische Hauptanliegen der Bush-Regierung bleiben. Die Kampagne wird – vielleicht sogar tief greifend – die amerikanischen Beziehungen zu Russland, der arabischen Welt und zu den engsten traditionellen Verbündeten in Europa verändern. Durch eine seltsame Laune des Schicksals bot sich George W. Bush die Chance, das zu gestalten, was sein Vater versucht hat: eine neue Weltordnung. Die Herausforderung wird enorm sein.
Arabische Welt
Die amerikanischen Beziehungen zu moderaten arabischen Ländern und zu engen Verbündeten wie Saudi-Arabien haben sich in den letzten Jahren verschlechtert. Diese Beziehungen zu verbessern oder nur zu pflegen, wird wahrscheinlich am schwierigsten sein. In vielerlei Hinsicht hängen sie jedoch eng mit Amerikas Problem mit dem Terrorismus zusammen.
Seit dem 11. September ist die Diskussion über die Ursachen von Terrorismus (erneut) entfacht. Es gab unzählige Kommentare über Amerikas eigene indirekte Verantwortung für die Anschläge auf New York und Washington. Moderate arabische Politiker, wie Ägyptens Präsident Hosni Mubarak, sowie führende europäische Zeitungen äußerten sich in diesem Sinne: „Wenn Amerika Sicherheit will“, so ein Leitartikel der Süddeutschen Zeitung, „muss es die Sorgen der Menschen in der Region ansprechen… und den Palästinakonflikt lösen helfen.“3
Die Vereinigten Staaten machen Fehler, auch in der Nahost-Politik. Es war nicht klug von der Bush-Regierung, zunächst zu glauben, dass Washingtons Rückzug aus dem Friedensprozess zu mehr Stabilität und einem Abbau der Gewalt in der Region führen würde. Grundsätzlich kann man den USA nachsagen, zu gewissen Zeiten arrogant gewesen zu sein, die Dinge falsch eingeschätzt und ein engstirniges und unaufgeklärtes Eigeninteresse verfolgt zu haben. All das mag richtig sein.
Trotzdem ging es beim islamischen Terrorismus nie um amerikanisches Handeln, Nichthandeln oder einzelne Fehler. Der 11. September hatte sicherlich wenig mit Israel und Amerikas Unterstützung für den israelischen Staat zu tun (Osama Bin Laden hat sich nie sonderlich um die palästinensische Sache gekümmert). Noch hat er etwas mit einer von Amerika ausgehenden Globalisierung zu tun oder mit Armut – einer weiteren, oft herangezogenen Ursache für terroristische Gewalt. Die Entführer vom 11.September und ihre Anführer waren nicht arm. Viele arme Gegenden wie Bangladesch oder die Mongolei bringen keinen Terrorismus hervor. Vielmehr kann das gänzliche Versagen arabischer Staaten, sich zu modernisieren und zu demokratisieren, im Grundsatz als Erklärung dafür dienen, warum es dem radikalen Islam gestattet wurde, so enorm zu wachsen und sich auszubreiten, und warum die Beziehungen so vieler muslimischer Länder zu den Vereinigten Staaten so schlecht geblieben sind.
Amerika hegt keinen Groll gegen Muslime. Die Vereinigten Staaten unterstützten ihre europäischen Verbündeten im Kampf zur Rettung unschuldiger slawischer Muslime in Bosnien in den frühen neunziger Jahren; und sie taten sechs Jahre später das Gleiche für die Kosovo-Albaner. Die USA schätzen ihre Beziehung zur Türkei. Sie führten eine internationale Koalition an, um Kuwait zu befreien. Die amerikanische Regierung war zusammen mit Japan der Hauptunterstützer der Minenräumungsarbeiten der Vereinten Nationen in Afghanistan seit 1979. Sie führen weiterhin Ägypten an erster Stelle auf der Liste der Empfängerstaaten von staatlicher Entwicklungshilfe.
Vor diesem Hintergrund ergriff die Bush-Regierung die Gelegenheit, die sich nach dem 11. September bot: Sie entschied sich, ihre Antiterrorkampagne nicht als einen Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam erscheinen zu lassen, im Gegenteil – und dies hat die Regierung wiederholt unterstrichen. Kurzfristig hat die Bush-Regierung eher versucht, die islamische Welt in zwei Lager zu teilen: in das Lager, das die Terroristen unterstützt, und in das, welches dies nicht tut; in diejenigen, die mit den Vereinigten Staaten kooperieren – die neue Bush-Doktrin enthält weiterhin starke Bezüge zur Realpolitik – und jene, die sich selbst als Feinde Amerikas bezeichnen und die amerikanischen Interessen sowie die ihrer Verbündeten bedrohen. Der schwierige Fall Saudi-Arabien – ein Hauptexporteur von Öl und Terrorismus – stellt nach wie vor ein ärgerliches Problem für amerikanische Politikstrategen dar.
Die Regierung hat die muslimische Bevölkerung in den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern aufgefordert, ihren Teil beizutragen. Wenn die Vereinigten Staaten und ihre Partner vermeiden, Terror mit Islam gleichzusetzen, dann – so haben es sich Bushs Politikberater gedacht – müssen die islamischen Führer das Gleiche tun und die Terroristen unmissverständlich verurteilen, sie isolieren und ihnen jede moralische Legitimation sowie jegliche finanzielle oder logistische Unterstützung entziehen. Gesetzes- und strafrechtliche Maßnahmen sind ein wichtiger Teil der Bush-Strategie. Dies ist in Europa nicht anders: „Religiösen Wohltätigkeitsorganisationen“ in Berlin, wie zum Beispiel Hamas oder Hisbollah, wird nicht mehr erlaubt, unter dem humanitären Deckmäntelchen im Ausland Geld für terroristische Gruppierungen zu sammeln.
Seit Herbst 2001 haben Präsident Bush und seine Spitzenberater versucht, eine Strategie zu entwerfen, die umfassend ist – sie schließt militärische Gewalt nicht aus. So ist der Präsident dazu übergegangen, nicht mehr primär über Terrornetzwerke zu sprechen, sondern sein Augenmerk auf die Regime zu lenken, die die Arbeit der Terroristen ermöglichen. Er hat sich auch dazu entschlossen, sich auf Regime zu konzentrieren, die Massenvernichtungswaffen herstellen und ein Motiv haben könnten, terroristischen Gruppierungen zu helfen und sie mit Waffen zu versorgen. Die Antiterrordoktrin der Bush-Regierung stellt sich als breit und vorwärts gerichtet zugleich heraus. Der Stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitzhat sogar von der „Beendigung“ solcher Staaten gesprochen.4
Hauptziel: Irak
Derzeit gibt es keinen geeigneteren Kandidaten, der ein Handeln der Bush-Regierung erforderlich macht, als das Regime von Saddam Hussein in Irak. Die Regierung ist zunehmend der Überzeugung, dass Maßnahmen, die darauf abzielen, Hussein von der Macht zu entfernen, dem internationalen Terrorismus einen entscheidenden Schlag versetzen würden. Irakische Überläufer und westliche Geheimdienste berichten schon seit einiger Zeit von Übungslagern für Terroristen in Irak.
Natürlich ist das nicht alles. Irak wurde es auch gestattet, sich seit Jahrzehnten als regionale Gefahr zu gerieren, bis hin zur Invasion Kuwaits und der Beschießung Israels. Ebenso kam im Laufe der Zeit Iraks Missachtung internationaler Standards und Normen immer mehr zum Vorschein. Saddam Hussein bedroht nicht nur seine Nachbarn, er terrorisiert auch sein eigenes Volk. Je tiefer die Irakis in Armut und Hoffnungslosigkeit versinken, desto mehr zweigt Hussein von den internationalen Hilfszahlungen ab, um riesige Summen in Paläste und Luxuskarossen für seine Familie und Spitzenberater zu stecken. Seit der Befreiung Kuwaits vor zehn Jahren hat die Welt zwar UN-Resolutionen verabschiedet, aber ansonsten die Augen verschlossen.
Bis heute bleibt das irakische Regime ein erbitterter Feind der Vereinigten Staaten, des gesamten Westens und der gemäßigten muslimischen Länder in der Region. Saddam wurde mit dem ersten Bombenanschlag auf das World Trade Center im Jahr 1993 in Verbindung gebracht. Vor fast vier Jahren hat sein Regime die Waffeninspektorengruppe der Vereinten Nationen (UNSCOM) davon abgehalten, ihrer Aufgabe in Irak nachzugehen. Seit dieser Zeit hat es keine Waffeninspektionen mehr gegeben. Und Saddam Hussein arbeitet gewissenhaft daran, sein Arsenal an konventionellen Waffen und Massenvernichtungswaffen wieder aufzubauen. Westlichen Geheimdiensten, einschließlich des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND), zufolge ist er dabei erfolgreich. Ein BND-Bericht sickerte Anfang dieses Jahres an die Presse durch. Darin wurde behauptet, dass Iraks Nuklearprogramm in gerade mal drei Jahren wieder auf ein gefährliches Niveau hochgefahren werden könnte. Außerdem gibt es Anhaltspunkte, dass auch die jüngsten Anschläge auf New York und Washington Husseins Fingerabdruck tragen. Genauso wenig scheint es weit hergeholt zu sein, wenn Richard Butler, der australische Diplomat, der die letzte UN-Waffeninspektionsgruppe leitete, behauptet, dass Saddam Selbstmordterroristen Giftgas zugänglich machen könnte, ohne dass die Vereinigten Staaten jemals Sicherheit über dessen Ursprung haben könnten.5
Amerikanische Besorgnis über die Gefahr, die von Saddam Hussein ausgeht, bestand bereits vor dem 11. September. Aber die Anschläge haben die Diskussion in fundamentaler Weise verändert. Im März 2002 machte sich der amerikanische Vizepräsident Dick Cheney auf den Weg in die Region mit auffälligen Zwischenaufenthalten in Großbritannien und in der Türkei. Als Verteidigungsminister hatte Cheney eine Schlüsselrolle beim Aufbau der Anti-Saddam-Koalition des ersten Golf-Kriegs gespielt. Im Frühjahr 2002 bestand reichlich Grund, anzunehmen, dass die Vorbereitungen für einen zweiten Golf-Krieg im Gange waren.
Russland
Die amerikanisch-russischen Beziehungen langfristig zu transformieren, wird nicht einfach sein. Sich aber die russische Kooperation bei Fragen wie Irak zu sichern, wird eine enorme Herausforderung darstellen. Seit dem Ende des Kalten Krieges litten die Beziehungen zwischen Washington und Moskau an einem scheinbar unüberwindlichen Problem: dem überwältigenden Ungleichgewicht dessen, was die eine Seite der anderen an Vorteilen bieten kann. Aus der Sicht Washingtons hatten die Russen den Vereinigten Staaten wenig zu bieten. Amerikanische (und westliche) Interessen waren großenteils darauf beschränkt, negative Entwicklungen – wie wieder auflebender und bösartiger Nationalismus, wirtschaftlicher und sozialer Zerfall, „lose Kernwaffen“ – im Keim zu ersticken. Aus russischer Sicht wiederum schien nahezu jedes größere Projekt, das die USA in den letzten zehn Jahren verfolgt haben – NATO-Erweiterung, die Intervention in Kosovo, Raketenabwehr – darauf ausgerichtet zu sein, Russland zu demütigen und Moskaus Macht und Einfluss weiter zu schmälern.
Trotz Präsident Bushs Charmeoffensive dem russischen Präsidenten Putin gegenüber – begonnen auf dem Treffen im Frühjahr 2001 in Slowenien und fortgesetzt auf dem G-8-Gipfel in Italien im vergangenen Sommer – hat sich nicht viel im amerikanisch-russischen Verhältnis verändert. Letztes Jahr rügten hohe amerikanische Regierungsbeamte Moskau, dass es Schurkenstaaten wie Iran mit Raketentechnologie versorge. Dem stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz zufolge müsste Russland vor die Wahl gestellt werden: „Moskau kann nicht erwarten … mit den Vereinigten Staaten und seinen Verbündeten milliardenschwere Geschäfte zu tätigen und ebensolche Hilfe zu erhalten,“ sagte Wolfowitz, während es gleichzeitig „widerwärtige Dinge verkauft, die unser Volk und unsere Piloten und unsere Matrosen gefährden.“6
Der 11. September scheint das Klima der amerikanisch-russischen Beziehungen ziemlich dramatisch verändert zu haben. Nach den Anschlägen auf die Vereinigten Staaten unternahm Russland den seltenen Schritt, gemeinsam mit der NATO eine Erklärung abzugeben, in der es „die gesamte internationale Gemeinschaft aufruft, sich im Kampf gegen den Terrorismus zusammenzutun“.7 Moskau hat dabei rasch den Vorschlag zurückgewiesen, die Vereinigten Staaten sollten das Gebiet der zentralasiatischen Staaten für ihre Militäroperationen nutzen. Aber derlei Einwände sind bald verschwunden.
Weitaus wichtiger war, dass Russland, neben generellen Sympathiebekundungen, wirklich etwas Nützliches eingebracht hatte. Moskau und Washington haben beim Austausch von geheimdienstlichen Informationen in Bezug auf Terrorismus und die Taliban eng zusammengearbeitet. Während viele unserer engsten Verbündeten ein amerikanisches Scheitern auf dem heimtückischen Terrain Afghanistans vorhersagten, waren russische Entscheidungsträger anderer Meinung. Ein führender russischer General, Boris Agapow, der in Afghanistan gedient hatte, argumentierte anders: Mit umfangreicheren finanziellen Mitteln, überlegener Technologie und Ausrüstung sowie den Erfahrungen der Russen würden die Amerikaner gewinnen, behauptete Agapow. Er hat Recht behalten.
Wenn die Vereinigten Staaten über Afghanistan zu einer Annäherung mit Russland gelangen konnten, müsste es Wege geben, diese Zusammenarbeit auch in anderen Bereichen zu vertiefen. An verschiedenen Fronten sind bereits Fortschritte zu verzeichnen. Präsident Bush hat seine Absicht kundgetan, den ABM-Vertrag zu kündigen. Der vorhergesagte Sturm der Entrüstung aus Moskau ist ausgeblieben. Die Vereinigten Staaten und Moskau arbeiten bei Rüstungsfragen nach wie vor eng zusammen.
Im wirtschaftlichen Bereich sind die Vereinigten Staaten der größte ausländische Investor in Russland mit mehr als fünf Milliarden Dollar an Direktinvestitionen und einem zehn Milliarden Dollar umfassenden bilateralen Handel mit Gütern und Dienstleistungen. Da Russland in den letzten Jahren eine größere Verantwortung in Bezug auf seine internationalen Schuldendienste gezeigt hat und darüber hinaus ein gewisses Niveau an makroökonomischer Stabilität aufweist, gibt es gute Gründe für die Annahme, dass diese Beziehung sich weiter verbessern wird. Russlands Präsident Putin will Russland als einen Akteur auf der internationalen Bühne etablieren, aber offensichtlich nicht gegen die USA, sondern mit der Weltsupermacht. Sogar in den Beziehungen zwischen NATO und Russland scheint ein neues Kapitel aufgeschlagen worden zu sein. All dies hat die nationale Sicherheitsberaterin des Präsidenten, Condoleezza Rice, dazu bewogen, eine neue Ära der Kooperation zwischen Russland und den Vereinigten Staaten auszurufen.
Europa und das Ende der Antihegemonieschule?
Die wichtigste strategische Partnerschaft der Vereinigten Staaten ist und bleibt die mit Europa. In den letzten Jahren hat sich jedoch ein deutlicher Wandel in den transatlantischen Beziehungen vollzogen. Die europäische Integration hat den Charakter (West-) Europas verändert. Was ursprünglich vor einem halben Jahrhundert als ein groß angelegtes Unternehmen begann, um die deutsch-französische Annäherung zu fördern und die Geißel des bösartigen Nationalismus auszumerzen, wurde nach dem Ende des Kalten Krieges zu einem Projekt, das in erster Linie darauf ausgerichtet war, die Europäische Union als ein Machtzentrum in der Welt zu etablieren, das mit den Vereinigten Staaten konkurrieren kann. Leider hat sich Europas legitimer Wunsch nach Selbstständigkeit in den letzten Jahren oft mit Antiamerikanismus und Anzeichen für destruktive Rivalität vermischt. EU-Kommissar Pascal Lamy hat einmal gesagt, dass „der einfachste Weg, in Brüssel Beifall zu bekommen, darin liegt, im Europäischen Parlament aufzustehen und Amerika anzuprangern.“8
Die am meisten vorherrschenden Ansichten sind bekannt: dass Amerika moralisch und sozial rückständig sei (Todesstrafe und Manchester-Kapitalismus), dass die Vereinigten Staaten in ihrer Politik gegenüber der Welt auf gefährliche Art und Weise primitiv seien (Sanktionen und „Schurkenregime“). In Frankreich kann ein Bauer zum nationalen Helden avancieren, wenn er eine McDonald’s-Filiale plündert und Amerika als den Schuldigen für die Globalisierung hinstellt.
Die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon dagegen lösten eine erstaunliche Welle an proamerikanischen Gefühlen in ganz Europa aus. Dennoch, von alten Gewohnheiten trennt man sich nicht gerne. Noch bevor sich Rauch und Ruß verzogen hatten, meinte Klaus Theweleit im Berliner Tagesspiegel, dass „amerikanische Arroganz“ die Wurzel des Übels sei.9 Ein bekannter deutscher Fernsehmann behauptete sogar, der amerikanische Präsident und Osama Bin Laden hätten ähnliche Denkmuster.10
Um nicht missverstanden zu werden: Amerikas Hybris hat ihren Teil zu den Problemen im transatlantischen Verhältnis beigetragen. Es war nachvollziehbarerweise nicht einfach für die Europäer, Präsident Bill Clintons unerträgliche Prahlerei über die Herrlichkeit der amerikanischen Wirtschaft auf dem G-8-Gipfel in Denver vor einigen Jahren zu schlucken; oder Außenministerin Madeleine Albrights Schwärmerei von Amerika als der „unverzichtbaren Nation“. Die Bush-Regierung setzte mit ihrem eigenen Ungeschick noch eins drauf: Präsident Bush lagen zwingende Kritikpunkte am Kyoto-Protokoll vor. Stattdessen zog er überaus engstirnige „America-First“-Argumente vor, um einen Prozess abzulehnen, in dem sich unsere engsten Verbündeten sehr engagiert hatten.
Die Meinung in der europäischen Öffentlichkeit und in den Eliten über die amerikanische Politik begann allmählich, irritierende Züge anzunehmen. Eine Umfrage der International Herald Tribune, des Pew Research Center und des Council on Foreign Relations im August 2001 brachte zutage, dass die Mehrheit der Europäer eine negative Meinung über die Bush-Regierung hatte. Die Umfrage ergab auch, dass die Mehrheit der Meinung war, die Vereinigten Staaten verfolgten ihre eigenen Interessen, ohne sich angemessen um die Interessen Anderer zu kümmern.
Es gab genug Gründe für die Amerikaner, auch in Bezug auf die Arbeit ihrer europäischen Freunde skeptisch zu sein. Letztes Jahr waren Amerikas engste Partner daran beteiligt, die USA aus der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen auszuschließen. Als ein amerikanisches Flugzeug auf einem legitimen Aufklärungseinsatz in internationalem Luftraum durch aggressives Verhalten eines chinesischen Piloten zum Absturz gebracht wurde, hörte man von Europa kaum mehr als ein beipflichtendes Flüstern. Was passierte, als Präsident Bush beschloss, in den ersten Monaten seiner Amtszeit die Politik gegenüber Korea einer Prüfung zu unterziehen? Die EU entsandte unüberlegt und unilateral eine Delegation in die Region.
Auf erstaunliche Weise schien der 11. September die Kluft zwischen Amerika und Europa verringert zu haben. Als aber der Präsident im Januar 2002 seine Rede zur Lage der Nation hielt, schien sie wieder breiter zu sein als je zuvor – vielleicht auf gefährlichere Weise. EU-Kommissar Chris Patten rügte die Regierung öffentlich. Der französische Außenminister, Hubert Védrine, warnte vor den Gefahren, die von Washingtons „vereinfachter“ Sichtweise der Welt ausgingen. Der deutsche Außenminister, Joschka Fischer, bestand darauf – vielleicht mit einem Auge auf die Bundestagswahlen im Herbst schielend –, dass Berlin kein bloßer „Satellit“ der Vereinigten Staaten sei.11
Es ist natürlich wahr: wenn die Regierung im großen Umfang aus der derzeitigen Situation Kapital schlagen will, muss Washington von einem undisziplinierten und unterschiedslosen Unilateralismus absehen. Im Erfolgsfall würden solche Schritte dazu beitragen, den Antiamerikanismus und das antihegemoniale Gegengewicht Anderer, einschließlich und insbesondere Europas, einzudämmen. Gleichzeitig würde Westeuropa einen Fehler machen, wenn es den Bogen überspannen würde. In Afghanistan haben die USA nicht allein gehandelt. Bei Irak wird es nicht anders sein. Die Bush-Regierung nimmt jede Gelegenheit wahr, zu zeigen, dass sie im Bündnis mit anderen zusammenarbeiten will. Aber mit wem? Die einzelnen EU-Mitgliedstaaten werden sich entscheiden müssen, ob und bis zu welchem Grad sie sich engagieren wollen.
Der 11. September 2001 hat sich in Amerika anders abgespielt als in Europa. Er hat die Amerikaner in Bezug auf ihre eigene Sicherheit wachgerüttelt. Die Amerikaner leben jetzt in einer neuen Welt. Die Europäer müssen sich letztlich entscheiden, was dies für sie bedeutet und ob auch sie die alte Welt der Selbstgefälligkeit hinter sich gelassen haben.
Anmerkungen
1 Moskau droht mit Anschlägen auf Afghanistan, Interfax, Russland, 22.5.2000.
2 Washington Post, 6.12.2001.
3 Wolfgang Koydl, Schuld und Chance, in: Süddeutsche Zeitung, 25.9.2001.
4 Vgl. Department of Defense, News Briefing, 9.11.2001.
5 Washington Post, 5.10.2001.
6 Sunday Telegraph, 18.3.2001.
7 Erklärung der NATO und Russlands zum Kampf gegen den Terrorismus vom 13.11.2001; über: <http://www.nato.int>.
8 The Economist, 7.7.2001.
9 Klaus Theweleit, USA und der Terror: Trauma-Arbeit, in: Der Tagesspiegel, 20.9.2001.
10Ulrich Wickert, Familiengeheimnis, in: Max, Nr. 21, 4.10.2001.
11 Vgl. hierzu die Dokumentation S. 79 ff.
Internationale Politik 4, April 2002, S. 3 - 10.