Adieu, Sonderweg
Willkommen in der Normalität: Deutschland wird europäischer
Über Jahrzehnte konnte sich die Bundesrepublik militärische und geldpolitische Enthaltsamkeit leisten, weil die westlichen Verbündeten wegen des Ost-West-Konflikts Rücksicht nahmen. Nach den Bundeswehreinsätzen im Ausland folgt nun der Abgesang auf die alte Bundesbank-Philosophie: Ausgerechnet in seiner ökonomisch stärksten Phase gibt Berlin seine jahrzehntelange Sonderrolle auf.
Eine einzige Woche im September genügte, um Deutschlands Politik nachhaltig zu verändern. Erst verkündete der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, dass die Notenbank künftig gegen bestimmte Auflagen Staatsanleihen angeschlagener Euro-Staaten in unbegrenzter Höhe aufkaufen will. Drei Tage später gab Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür ihre Zustimmung. Und sechs Tage später bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit des dauerhaften Euro-Rettungsschirms ESM.
Egal, ob man diese Entwicklung nun als Mittel zur Bekämpfung der Schuldenkrise begrüßt oder ablehnt – sie bedeutet einen Bruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Denn in der einsetzenden Euphorie der Finanzmärkte und der Erleichterung der Regierungen weltweit geriet völlig in den Hintergrund, dass Deutschland eine zweite fundamentale Säule seiner Nachkriegsidentität aufgegeben hat.
Die erste Säule, nämlich die Selbstbeschränkung beim Einsatz der Bundeswehr zur reinen Landesverteidigung, war seit 1991 über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten mit der schrittweisen Ausweitung der Auslandseinsätze beseitigt worden. Diese Entwicklung nahm mit Einsätzen in Kambodscha und Somalia ihren Anfang. Das Bundesverfassungsgericht segnete in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 den Einsatz der Bundeswehr im Ausland schließlich ab, sofern eine Zustimmung des Bundestags vorliegt.
1999 folgte der erste Kriegseinsatz mit der Beteiligung am Kosovo-Krieg, der zudem ohne UN-Mandat stattfand. 2002 wurden deutsche Soldaten nach Afghanistan geschickt, wo sie nach und nach aus einer zunächst rein defensiven Rolle heraus Sicherheitsverantwortung für den Norden des Landes übernahmen und schließlich Kampfhandlungen außerhalb des NATO-Gebiets leiteten. Die Entwicklung beendete den Sonderweg einer demonstrativen militärischen Zurückhaltung, die nach 1945 ein Reflex auf die deutschen Kriegsschrecken der NS-Zeit war.
Die zweite Säule für den deutschen Sonderweg war die Pflege einer geldmarktpolitischen Orthodoxie, mit der sich die Bundesrepublik einer straffen Trennung von Geldmarktpolitik und Staatsfinanzierung verschrieben hatte. Hintergrund war vor allem die historische Erfahrung mit wertevernichtenden Inflationen, weshalb die „Bank deutscher Länder“ 1948 als politisch unabhängige Hüterin der Geldwertstabilität eingesetzt wurde. Den Deutschen sollte die Angst vor Inflation genommen werden. Über Jahrzehnte machte dieser Kurs die Bundesbank zu einem Unikum in der westlichen Welt. Der Aufgabe der D-Mark und der Einführung der europäischen Gemeinschaftswährung Euro stimmten die Deutschen nur zu, weil ihnen die Europäische Zentralbank (EZB) im Vertrag von Maastricht als große Kopie der Bundesbank mit dem vorrangigen Mandat zur Inflationsbekämpfung verkauft wurde, mit Sitz in Frankfurt.
Neue Rolle der Europäischen Zentralbank
Innerhalb von nur drei Jahren hat die Schuldenkrise zu einer massiv veränderten Rolle der EZB geführt. Zwar ist sie immer noch unabhängig. Aber die Notwendigkeit zur Stabilisierung der Euro-Zone mit allen Kräften hat zum einen auch in Berlin zu einem intensiven Dialog mit der Politik geführt. Die EZB ist mittlerweile offiziell in alle großen Rettungsaktionen in der Euro-Zone eingebunden. Sie ist Teil der internationalen Troika mit EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF), der die Reformauflagen für Länder definiert, die Hilfen aus den Rettungsschirmen erhalten wollen. Und sie flankiert die Stabilisierung dieser Staaten in der Euro-Zone. So kaufte die EZB in den vergangenen Monaten für mehr als 200 Milliarden Euro Staatsanleihen von angeschlagenen Euro-Ländern auf.
Mit dem verkündeten neuen Programm hat sich die europäische Notenbank die Möglichkeit für unbegrenzte Ankäufe geschaffen – solange Euro-Staaten unter den Euro-Rettungsschirm schlüpfen und damit Reformauflagen der Partner akzeptieren. Die EZB, Regierung und Opposition betonen zwar immer wieder, dass die EZB damit eben nicht in die direkte Staatsfinanzierung einsteigt, weil sie den Regierungen keine Anleihen abkauft, sondern diese nur am Sekundärmarkt erwirbt. Dennoch wird die neue Dimension durchaus erkannt: SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier spricht von einer „Revolution“, CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder moniert, dass die EZB Gefahr laufe, ihre Unabhängigkeit zu verlieren, weil sie das Ankaufprogramm an die vorangehende politische Entscheidung knüpft, dass ein Staat Mittel aus dem ESM erhalten soll.
Zudem hat die EZB nunmehr die Option, mit ihren Ankäufen für eine billigere Refinanzierung von Euro-Staaten zu sorgen – auf Dauer. Denn die Risikoaufschläge von Neuemissionen richten sich eben auch nach den Kurswerten bereits gehandelter Staatsanleihen. De facto haben die Bonds-Käufe der vergangenen Monate Ländern wie Spanien oder Italien bereits ermöglicht, ihre Refinanzierungskosten zu senken, allerdings auf einem sehr hohen Niveau. Auf jeden Fall übernehmen die Euro-Staaten proportional zu ihrem EZB-Kapitalanteil das Risiko für diese Ankäufe, falls die Anleihen nicht zurückgezahlt werden oder drastisch an Wert verlieren.
Ob dies in der Ausnahmesituation der Schuldenkrise die richtige oder falsche Medizin ist, sei dahingestellt. Auf jeden Fall zeigt das Überstimmen von Bundesbank-Chef Jens Weidmann im EZB-Rat, dass die Zentralbank eben keine Kopie der Bundesbank ist. Die Währung Deutschlands und seiner engsten Partner – der Euro – wird heute von einer Notenbank verteidigt, die sich immer stärker wie andere Notenbanken der westlichen Welt verhält. Ende vergangenen Jahres versorgte sie europäische Banken mit einer neuen Kreditlinie von einer Billion Euro. Auch sie bekämpft also in der Not eine durch billiges Geld ausgelöste Krise zumindest vorübergehend mit billigem Geld – was ihr wegen der Wettbewerbsverzerrungen umgehend Kritik der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff eintrug.
Stärke als Schwäche
Paradox ist auf den ersten Blick, dass Deutschland seine Sonderwege immer just in dem Moment aufgibt, in denen es besonders stark wirkt. Die Debatte über die Ausweitung der Bundeswehreinsätze und eine größere bündnispolitische Verantwortung begann direkt nach der deutschen Einheit. Der Abgesang auf die geldpolitische Orthodoxie erfolgt genau in dem Moment, in dem Deutschland weltweit als wirtschaftliche und auch politische Führungsmacht der EU angesehen wird und von einem Gleichgewicht selbst mit Frankreich als zweitstärkster EU-Volkswirtschaft nicht mehr die Rede ist.
Dies hat zwei Gründe. Zum einen wird Deutschlands Stärke medial verzerrt und überbewertet. Die angebliche deutsche Führungsrolle in der Schuldenkrise war angesichts eines deutschen Anteils am EU-Brutto-Inlandsprodukt von knapp über 20 Prozent im Jahre 2011 ein vor allem im Ausland liebevoll gepflegter Mythos, mit dem sich trefflich Politik gegen Berlin machen ließ. Dabei hat Malta im EZB-Rat dasselbe Stimmengewicht wie Deutschland. Im EU-Rat kann ein einziges Land wie Großbritannien mit seinem Vetorecht nötige oder gewünschte Vertragsänderungen verhindern. Und im Europäischen Parlament ist Deutschland nicht einmal entsprechend seines Bevölkerungsanteils vertreten. Trotzdem wird die öffentliche Auseinandersetzung bewusst oder unbewusst so geführt, als könne Deutschland die Partner am Nasenring durch die europäische Arena führen. In Wahrheit ist die Regierung Merkel auf ständige Kompromisse angewiesen.
Zum anderen erfordert die ausdrücklich angestrebte stärkere Integration von 27 EU-Staaten und 17 Euro-Staaten einen ständigen Ausgleich, bei dem nationale Besonderheiten teilweise abgeschliffen werden. Deutschland hat in der Vergangenheit auch schon andere „Sonderwege“ aufgegeben, etwa mit der Abschaffung der Diplome im Hochschulbereich, um die Freizügigkeit europäischer Studierender und die gegenseitige Anerkennung von Universitätsabschlüssen zu erleichtern. Auch die Vorschriften für Waffenexporte wurden schon mit Rücksicht auf die immer stärker multinationale Struktur der europäischen Rüstungsindustrie an die von Ländern wie Frankreich oder Großbritannien angeglichen.
Aber besonders die Schuldenkrise hat in der Euro-Zone den Druck erhöht, den Währungsraum rasch homogener zu machen. Vereinfacht ausgedrückt wurden die Euro-Staaten in den vergangenen drei Jahren tatsächlich etwas „deutscher“, weil immer neue Verabredungen getroffen wurden, um Volkswirtschaften durch Reformen, Aufsichten, Kontrollen und Sanktionen auf Wettbewerbsfähigkeit und solide Haushaltsführung zu trimmen.
Aber im Gegenzug ist Deutschland „europäischer“ geworden. Bundeskanzlerin Merkel hat die Zugeständnisse der Partner mit gewaltigen Kompromissen erreicht: Schritt für Schritt wich sie von früheren deutschen Positionen ab. Zunächst wurde ein vorübergehender Rettungsschirm (EFSF) akzeptiert, dann sogar ein dauerhafter (ESM) hingenommen. Die zuvor vehement abgelehnten Aufkäufe von Staatsanleihen auf dem Sekundär- und dem Primärmarkt wurden erlaubt. Beim Juni-Gipfel in Brüssel wurde dann eine neue straffe Bankenaufsicht in der Euro-Zone mit der früher verpönten Möglichkeit zur direkten Rekapitalisierung der Banken beim ESM erkauft. Und wie erwähnt akzeptierte die Bundesregierung, dass sich die EZB zu eben jener großen „Bazooka“ wandelt, die etwa Amerikaner und andere schon vor drei Jahren zur Stabilisierung der Euro-Zone gefordert hatten.
Vom Zuschauer zum Handelnden
Ein entscheidendes Moment für die veränderte deutsche Haltung ist dabei, dass Deutschland nach 1990 aus der Rolle eines Zuschauers der Weltpolitik wieder in die Rolle eines Handelnden wechselte. Über Jahrzehnte konnte sich die Bundesrepublik die militärische und geldpolitische Enthaltsamkeit leisten, weil die federführenden westlichen Verbündeten wegen des Ost-West-Konflikts Rücksicht nahmen. Aber seit der Einheit, dem Ende des Ost-West-Konflikts und der fortschreitenden EU-Integration haben sich die Rollen geändert. Niemand hat dies so deutlich gemacht wie Polens Außenminister Radoslaw Sikorski mit seinem im November 2011 geäußerten Satz: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“.
Anders ausgedrückt: Weil Deutschland vom Rand der internationalen Politik ins Zentrum gerückt ist, kann es sich aus Sicht seiner Partner die frühere Unschuld nicht mehr leisten.
Erkennbar ist allerdings auch, dass das Ende der deutschen „Sonderwege“ nicht die Aufgabe nationaler Eigenheiten bedeutet. Die deutsche Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zur Libyen-Intervention im Jahr 2011 zeigt, dass sich trotz der Auslandseinsätze an einer gewissen militärischen Zurückhaltung nichts geändert hat. Und die weiteren Debatten in der Schuldenkrise dürften zeigen, dass Deutschlands Rolle trotz der Akzeptanz der „Bazooka EZB“ und wohl unabhängig von wechselnden Regierungen weiter darin bestehen dürfte, bei Lösungen weniger auf immer neue Finanztransfers in den Süden zu setzen als vielmehr auf eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Länder zu drängen.
Dr. ANDREAS RINKE ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.
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