In 80 Phrasen um die Welt: „Weckruf“
Nach dem erneuten Sieg Donald Trumps bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl kommentierte die Wirtschaftswoche: „Trumps Wahl ist ein Weckruf für Deutschland.“ Das Manager Magazin variierte das Bild in Form einer rhetorischen Frage: „Ist Donald Trumps Rückkehr ein Weckruf für den alten Kontinent?“ Der ehemalige französische EU-Kommissar Pierre Moscovici spitzte in einem TV-Interview zu, es handele sich um einen „existenziellen Weckruf“ für Europa. Es ließen sich zahlreiche weitere Belege zitieren, wie etwa die Äußerung des europäischen Außenbeauftragten Josep Borrell, Trumps Wiederkehr sei ein „Weckruf für Europa, seine eigene Sicherheit zu stärken“.
Am Tag der Abstimmung hatte Tom Nuttall, der Berliner Büroleiter des britischen Economist, sich einen Spaß auf der Plattform X gemacht. Nuttall twitterte am 5. November: „Was auch immer das Ergebnis der heutigen Wahl sein wird: es sollte ein Weckruf für Berlin sein, und für Europa.“ Der Sarkasmus fiel niemandem auf, viele Kommentare gingen ernsthaft und zustimmend auf den Tweet ein: Gut gesagt! Wie viele Weckrufe braucht es denn noch! Europa steht an einer Wegscheide!
Der Weckruf ist das bei Journalisten, Experten und Politikern beliebteste Klischee nach einem schockhaften Ereignis, das nach einer außenpolitischen Neuorientierung verlangt. So war es schon nach der Brexit-Entscheidung, nach Trumps erstem Wahlsieg und auch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Das Bild impliziert, dass die Adressaten des Weckrufs schlafen, während die Geschichte voranmarschiert. Angela Merkel hat in ihrer Amtszeit gelegentlich nach einer Peking-Reise in drohendem Ton gesagt, die Chinesen schliefen nicht – ein Weckruf an das eigene Volk ex negativo.
Das eigentliche Problem mit dem Weckruf-Klischee ist, dass es die Lage beschönigt. Weder Deutschland noch Europa haben in den Jahren zwischen den Trump-Siegen „geschlafen“. Dass weder Deutschland noch Europa ihre eigene Sicherheit gewährleisten können, ist kein Unfall, der sich infolge einer politischen Bewusstlosigkeit ereignet hat.
Es handelt sich vielmehr um eine riskante Prioritätensetzung bei vollem Bewusstsein. Man spekuliere darauf, dass die USA die Lücken schon füllen würden, die man selbst ließ. So lange transatlantisch gesonnene Präsidenten an der Macht waren, ignorierte man deren Mahnungen, selbständiger zu werden: Man war ja sicher. Als Trump in seiner ersten Amtszeit begann, die NATO infrage zu stellen (Weckruf!), schrak man kurz auf. Doch es stellte sich heraus, dass man Trump mit demonstrativer Unterwürfigkeit und leichten Steigerungen im Verteidigungsbudget beruhigen konnte.
Dann kam Joe Biden, und die Wette schien aufzugehen: Die USA standen weiter zu Europa, der Trump-Spuk war vorbei, die Budgets flachten wieder ab. Ohne Putins Angriff auf die Ukraine (Weckruf!) wäre der vereinbarte NATO-Standard von 2 Prozent der Wirtschaftsleistung nie erreicht worden.
Es steht zu befürchten, dass Trump sich nun nicht noch einmal hinter die Fichte führen lässt. Wer seine Rückkehr als Weckruf bezeichnet, muss selbst zwischendurch heimlich auf die Snooze-Taste gedrückt haben.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S. 15
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