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01. Juni 2009

Zynismus und doppelte Standards

Osteuropa fühlt sich vom Westen im Stich gelassen

Eine wertegeleitete Außenpolitik gilt dem Westen als Ideal. In der Realität dominieren Geschäftsinteressen und die strategische Kooperation mit Russland – im Zweifel auf Kosten der osteuropäischen Selbstbestimmung. Schon immer, schreibt der Autor in seinem provokanten Essay, war der Westen hin- und hergerissen zwischen Moral- und Realpolitik.

Nichts veranschaulicht den tiefen Riss, der zwischen Ost- und Westeuropa klafft, deutlicher als der Umgang mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. In Westeuropa wird er als historische Tatsache verstanden; er ist Gegenstand der Geschichtsforschung, erregt jedoch in der breiten Öffentlichkeit weder großes Interesse, noch reizt er zu künstlerischer Aufarbeitung oder kollektiver Gewissensprüfung. In Osteuropa dagegen ist der Pakt in erster Linie ein Symbol für die eigene Verwundbarkeit, die Unbarmherzigkeit der Geschichte und den Zynismus der Großmächte.

Vor allem aber wird der Nichtangriffspakt in Osteuropa als Verrat durch den Westen empfunden, ebenso wie zum Beispiel die Teilung Polens im späten 18. Jahrhundert, die ukrainische Unabhängigkeit, die 1918/19 per Entente zugunsten Russlands und Polens geopfert wurde, und zuletzt die Tatenlosigkeit des Westens, als Russland im Sommer 2008 georgisches Staatsgebiet besetzte. Manche Vorwürfe muten übertrieben an, beruhen jedoch auf historischen Traumen, die von westlichen Partnern ernst genommen werden sollten. Doch der Westen kann die scheinbar irrationalen Ängste der Polen, Ukrainer und Balten vor russischer Aggression nicht nachvollziehen, ebenso wenig wie die in Osteuropa verbreitete „blasphemische“ Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus. Während Westeuropa den Kommunismus hauptsächlich aus der Theorie kennt, die anziehender wirkt als die hässliche rassistische Ideologie der Nazis, kennt Osteuropa beide Regime primär aus der Praxis – und die unterscheidet sich kaum in ihren Methoden und im Ergebnis.

Warum also schauen die Osteuropäer immer noch so erwartungsvoll nach Westen, trotz der zahlreichen Enttäuschungen und trotz des tatsächlichen oder gefühlten Verrats? Warum glauben sie, dass der Westen sie schützen und seine Eigeninteressen zugunsten seiner östlichen Nachbarn zurückstellen sollte?

Die erste Frage ist leicht zu beantworten. Die kleinen osteuropäischen Nationen waren eingezwängt zwischen westlichen und östlichen Großmächten, so dass ihnen nur die Wahl zwischen dem kleineren und dem größeren Übel blieb. In gewisser Hinsicht „verwestlichten“ die Osteuropäer aus Notwendigkeit und aus Mangel an Alternativen. Sie mussten sich selbst als europäisch akzeptieren und nach außen zeigen, dass sie politisch, kulturell und in ihrer gesamten Lebensweise immer schon Europäer waren. Die sowjetische Fremdherrschaft verstärkte diese Tendenz und führte dazu, dass jeder Aspekt der nationalen und politischen Befreiung mit „Europäisierung“ und jede „Rückkehr zur Norm“ mit einer „Rückkehr nach Europa“ gleichgesetzt wurde. Es handelte sich natürlich um einen Mythos, um eine „erfundene Tradition“; doch diese erfundene europäische Identität ist inzwischen tief im Selbstverständnis der Osteuropäer verankert und ermöglichte letztlich den Zusammenbruch des Kommunismus und die spätere Integration vieler ehemaliger Sowjetstaaten in die westeuropäischen Institutionen.

Die zweite Frage ist komplizierter. Der Westen erkannte Osteuropa nicht als gleichberechtigten Partner an, sah sich jedoch aus geostrategischen Gründen in der Verantwortung. In einem gewissen Sinne waren die Westeuropäer „Osteuropäer aus Notwendigkeit“: Sie mussten die kleinen osteuropäischen Nationen unterstützen, um den viel größeren und stärkeren Rivalen im Osten einzudämmen. Doch nach dem Ende des Kalten Krieges verloren diese Sicherheitserwägungen ihre Grundlage. Russland wird nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen. Im Gegenteil: Russland gilt als wichtiger Verbündeter im Kampf gegen neue und gefährlichere Feinde – radikale Islamisten und internationale Terroristen. Wer Zweifel an der Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit dieser neuen Allianz äußert, wird als „Russophobiker“ oder blinder Nationalist abgestempelt.

Festung Westen

Der Westen hat den Osten in seine privilegierten Clubs – EU und NATO – aufgenommen. Doch kaum geschehen, gewann in Berlin und Paris, aber auch Wien, Rom, Madrid und natürlich Brüssel wieder nüchterne Realpolitik die Oberhand. Der Westen hat schließlich nicht über Jahrzehnte seine Festung ausgebaut, um sie am Ende widerspruchslos aufzugeben. In den vergangenen fünf Jahrhunderten errichtete er ein Weltwirtschaftssystem, das die Herrschaft des Zentrums über die Peripherie sicherte. Alles, was der Rest der Welt heute vom Westen erwarten kann, ist mehr Zuckerbrot und weniger Peitsche, mehr Einbindung statt Eindämmung, mehr „privilegierte Partnerschaft“ statt Ausgrenzung. Grundsätzlich aber ist das System zu solide, um es zu ändern oder in Frage zu stellen – zumindest nicht ohne seinen völligen Zusammenbruch zu riskieren.

Paradoxerweise ist der Schwachpunkt des Systems seine eigene liberale Ideologie. Eben jene leuchtenden Ideale und Prinzipien, die den Westen so flexibel, dynamisch und attraktiv gemacht haben, widersprechen oft  seinen profanen Interessen und werden in der Praxis nicht konsequent angewandt. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn die vier Eckpfeiler des ökonomischen Liberalismus – freie Zirkulation von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften – tatsächlich umfassend implementiert würden. Die Abschaffung selektiver Einfuhrzölle und Subventionen würde den Wohlstand der Bevölkerung in der Ersten Welt drastisch verringern. Mit der Freizügigkeit von Arbeitskräften entstünde nicht nur echter Wettbewerb, sondern zerfiele auch ein hochgradig protektionistisches und diskriminierendes Wohlfahrtssystem.

Geschäftsinteressen statt Werte

Während sich der Westen im Inneren weitgehend von liberalen Prinzipien leiten lässt, überwiegt nach außen Interessenpolitik. Das schafft eine tiefe Diskrepanz zwischen liberalen Werten und illiberaler Praxis, weswegen man dem Westen zu Recht Zynismus und doppelte Standards vorwirft. Doch gleichzeitig macht Interessenpolitik den Westen empfänglich für Kompromisse; sie zwingt ihn, Zugeständnisse zu machen. Wenn es den Osteuropäern gelingt, gewisse Standards zu erfüllen und ihr undemokratisches Image abzustreifen, werden sie mit Nachdruck Gleichbehandlung und die vollständige Anwendung liberaler Prinzipien fordern können.

Die westliche Welt mit ihren vielfältigen Institutionen wird häufig als „Wertegemeinschaft“ bezeichnet. Gemeint sind damit die Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, demokratische Institutionen, soziale Wohlfahrt, friedliche Konfliktlösung etc. – aber auch der Anspruch, als universell geltende Werte zu verbreiten und weltweit zu schützen. Heutzutage bestehen kaum noch Zweifel an den Werten an sich, sondern an ihrer Anwendbarkeit. Denn aus pragmatischer Perspektive sind Werte nicht ohne Weiteres übertragbar; vielmehr müssten lokale Besonderheiten ebenso berücksichtigt werden wie die institutionellen und operativen Kapazitäten der westlichen Förderer. Und das ist der Moment, in dem Realpolitik ins Spiel kommt und Grauzonen entstehen; denn „Kapazitäten“ und „lokale Besonderheiten“ lassen sich weder exakt definieren noch können Kosten und Nutzen präzise berechnet werden. Das schafft Raum für Spekulation und faule Ausreden. Realpolitik wird so zu einem Werkzeug, mit dem sich vermeintlich universelle Werte den jeweiligen politischen oder Wirtschaftsinteressen unterordnen lassen.

In Europa ist diese Diskussion nicht neu, im Gegenteil: Sie war von Anfang an integraler Bestandteil des europäischen, liberal-demokratischen Projekts. Europa war schon immer auf geradezu schizophrene Art hin- und hergerissen zwischen Inklusion und Exklusion, Werten und Interessen, Moral- und Realpolitik. Im Jahr 1933 zum Beispiel beschlossen Politiker des britischen Außenministeriums die schreckliche, von Stalin gezielt herbeigeführte Hungerkatastrophe in der Ukraine, die mindestens drei Millionen Bauern das Leben kostete, stillschweigend zu ignorieren, um ihre Beziehungen zum Kreml nicht zu belasten.1 Im gleichen Jahr nahmen die USA diplomatische Beziehungen zu Russland auf – obwohl sie, wie auch die Briten, über den Genozid Bescheid wussten. Geschäftsinteressen, nicht Werte, dominieren die Beziehungen des Westens mit Russland, China und anderen illiberalen Systemen.

In dieser Lesart war der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt keine Abweichung, keine überraschende Wendung im Lauf der Geschichte, sondern ein ebenso schrecklicher wie symptomatischer Ausdruck europäischer Realpolitik. Es überrascht daher auch nicht, dass der Pakt auf russischer Seite heruntergespielt und als Antwort auf die perfiden Intrigen des Westens gerechtfertigt wird. In der gleichen Logik vergleicht Moskau den russischen Einmarsch in Georgien mit dem Einsatz der NATO im ehemaligen Jugoslawien und die einseitige Anerkennung Südossetiens und Abchasiens mit der Anerkennung des Kosovo. Auf diese Weise führen autoritäre Staaten die Präzedenzfälle, die der Westen schafft, auf finstere Weise ad absurdum.

Nichtsdestotrotz hat sich die US-Regierung zu einer Neuauflage ihrer Beziehungen zum Kreml entschieden. Auch EU und NATO haben sich für „business as usual“ entschieden, obwohl die Russen georgisches Staatsgebiet besetzen. Der Westen glaubt offenbar, dass Russland im iranischen Atomstreit und in anderen Punkten mit ihm kooperieren und ihn nicht, wie so oft, austricksen wird. Die Tendenz in Westeuropa, das aggressive russische Vorgehen gegen souveräne Staaten als Kavaliersdelikt oder „Meinungsunterschied“ abzutun, ist besorgniserregend. Moskau könnte leicht auf den Gedanken kommen, dass seine Kooperation im Atomstreit oder im Nahen Osten das Einzige sei, was zählt. Mit solch einer politischen Trumpfkarte kann Moskau den Westen nach Belieben erpressen.

Grenzen des politisch Denkbaren

Die Hoffnung, in einer Nomenklatur ehemaliger KGB-Agenten deren „wahrhaft demokratische Seele“ zu erkennen, ist eine Obsession des Westens. Doch die fragwürdige westliche Politik der „Kooperation trotz Meinungsverschiedenheiten“ könnte ernsthafte Konsequenzen haben. Die politische Elite im Kreml ist zutiefst opportunistisch und weiß genau um ihre Grenzen; sie würde aus Furcht vor Vergeltung niemals in Berlin, Wien oder Helsinki einmarschieren. Doch ein Überfall auf die Ukraine liegt ganz sicher nicht jenseits des Denkbaren, und dann, wer weiß, vielleicht auf Lettland und Estland, um die dort ansässigen russischen Minderheiten „zu schützen“, und danach könnten die Russen vielleicht sogar Polen „eine Lektion erteilen“.

All diese Szenarien mögen zum jetzigen Zeitpunkt unwahrscheinlich anmuten, doch bisher ist es dem Kreml mit viel Geschick gelungen, die Grenzen des politisch Denkbaren auszuloten und zu verschieben, während der Westen zaudert. Die Ängste der Osteuropäer mögen übertrieben scheinen, doch sie gründen auf Erfahrungen aus der Vergangenheit mit einem aggressiven, imperialistischen und hypernationalistischen Russland und einem unentschlossenen und schwachen Westen. Besonders die Ukrainer, die bei der letzten großen EU- und NATO-Erweiterungsrunde im Regen stehengelassen wurden, fühlen sich angesichts des Muskelspiels aus Moskau und angesichts der westlichen Beschwichtigungspolitik unwohl. Sie haben guten Grund, sich nicht von der freundlichen Empfangsdiplomatie westlicher Staatsoberhäupter blenden zu lassen, sondern auf ehrlichere Stimmen zu hören, die die Auffassung vertreten, Russlands Unterstützung im Kampf gegen die Verbreitung von Kernwaffen und gegen den Terrorismus im Nahen Osten sei für den Westen ungleich wichtiger als die fragwürdige nationale Selbstbestimmung der Ukraine. Diesen Stimmen zufolge sollte der Westen so tun, als habe die orangene Revolution nicht stattgefunden, um sich russische Unterstützung im iranischen Atomstreit und in der Energiepolitik zu sichern. Im Gegenzug dürfe Russland mit Verständnis für seine Interessen in der osteuropäischen Nachbarschaft rechnen.

Westliche Politiker stützen sich dabei auf eine Reihe wissenschaftlicher Fachpublikationen, die eine „natürliche Affinität“ zwischen Ukrainern und Russen unterstellen. „Jede Definition des Westens, die Russland aufgrund seiner abweichenden Werte ausschließt, muss zwangsläufig auch die Ukraine ausschließen, deren Kultur und Werte untrennbar mit den russischen verwoben sind“, schreibt ein amerikanischer Experte. Darum, heißt es weiter, sollten die Ukrainer „aufhören, diese Jahrhunderte alte religiöse und kulturelle Affinität zu leugnen“ und vielmehr mit Russland „zusammenarbeiten“, da dies „der einzige Weg ist, das Projekt der europäischen Integration auf eine solide Grundlage zu stellen“.2 In dieser Argumentation stecken eine Menge Schwachstellen, die auf unkritisch übernommenen historischen Mythen beruhen.

Tatsächlich wurde ein Großteil der Ukraine erst Ende des 18. Jahrhunderts in das russische Zarenreich eingebunden. Bis dahin entwickelte sich das Land innerhalb des kulturellen und politischen Rahmens des polnisch-litauischen Staates, der keine „naturgegebene Affinität“ mit dem mittelalterlichen Russland aufwies, das aus der Herrschaft der despotischen Goldenen Horde entstanden war. Man braucht im Übrigen kein Historiker oder Osteuropa-Experte zu sein, um zu sehen, dass es zwischen dem schmerzhaften Demokratisierungsprozess der Ukraine und dem zunehmenden Autoritarismus Russlands einen Unterschied gibt.3 In der Ukraine werden keine ethnischen Säuberungen durchgeführt wie in Tschetschenien; niemand schickt mit Polonium bewaffnete Spione ins Ausland, niemand ermordet oppositionelle Journalisten und Bürgerrechtler, niemand zerschlägt Demonstrationen mit Polizeigewalt und schließt unabhängige Medien. Wahlen in der Ukraine sind frei und fair, der politische Wettbewerb ist echt, das Parlament ist nicht bloß eine Attrappe, die Medienlandschaft ist lebendig. Es ist kein Zufall, dass russische Journalisten und Bürgerrechtler in der Ukraine Zuflucht suchen.

Wenn irgendeine mythische „Affinität“ wichtiger ist als die Werte, die sich die Ukraine nach der orangenen Revolution mühsam erarbeitet hat, dann zeigt das, dass inzwischen „Realpolitik“ – oder richtiger: Zynismus – in den westlichen Hauptstädten vorherrscht. Zum Glück gibt es noch ein paar nüchterne Stimmen, die daran erinnern, dass die Unterordnung von Werten auf Dauer selbstzerstörerisch ist und der Glaubwürdigkeit des Westens schadet. Der Westen sollte die Ukraine endlich als europäische Nation behandeln und die moderaten Modernisierer in Kiew unterstützen.

Für Moskau wird das sicherlich schwer zu akzeptieren sein. Doch die Ukraine als EU- und NATO-Vollmitglied könnte für Russland sogar eine Chance darstellen, als zukünftiger Partner des Westens aufzutreten anstatt für Spannungen und Rivalität in der euro-atlantischen Gemeinschaft zu sorgen.

MYKOLA RIABCHUK ist Senior Research Fellow am Ukrainian Center for Cultural Studies in Kiew.

  • 1Vgl. Marco Carynnyk, Lubomyr Y. Luciuk und Bohdan S. Kordan (Hrsg.): The Foreign Office and the Famine: British Documents on Ukraine and the Great Famine of 1932–1933, Kingston 1988, S. 397.
  • 2Vgl. Nicolai Petro: Recasting Ukraine’s identity?, Open Democracy, 30.1.2009; http://www.open-democracy.net.
  • 3Vgl. Alexander Motyl: Russland: Volk, Staat und Führer. Elemente eines faschistischen Systems, Osteuropa, Nr. 1/2009.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2009, S. 83 - 89.

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