Zwischen Ratlosigkeit und Indifferenz
Internationale Presse USA
Die amerikanische Debatte über den Kampf gegen den „Islamischen Staat“
Der Fall von Ramadi war für viele in Washington ein Schock. Nur Obamas Sprecher Josh Earnest wiegelte ab. Ob man denn jedesmal „seine Haare in Brand“ setzen solle, wenn es einen Rückschlag im Kampf gegen den IS gebe? Eine rhetorische Frage. Ihre Botschaft: Regt Euch ab, der Präsident hat gesagt, dass dies ein langer Kampf wird, die Eroberung von Ramadi durch den IS ist lediglich eine Episode. Vielleicht ist das so – und dass der Kampf gegen den IS wohl länger dauern wird, ist jedem klar, der regelmäßig Zeitung liest. Doch viele erinnerte die Stellungnahme aus dem Weißen Haus an das, was Obama Anfang 2014 in einem Interview gesagt hatte: Der IS sei ein Team von Amateuren, darüber könne auch die Großspurigkeit der islamischen Extremisten nicht hinwegtäuschen.
Mehr und mehr erscheint es vielen jedoch so, als sei es Obama, der sich getäuscht hat. Kein außen- und sicherheitspolitisches Thema wird in den USA derzeit so intensiv diskutiert wie die Bekämpfung des IS – und bei keinem anderen Thema zieht die Außenpolitik Obamas ähnlich viel Kritik auf sich.
Mossul ist immer noch in der Hand des „Islamischen Staates“. Er beherrscht ein Gebiet von der Größe Großbritanniens, finanziert sich weiterhin aus Öleinnahmen und trotzt amerikanischen Luftangriffen. Die irakische Armee löst sich auf, wo immer sie auf die koordinierten militärischen Kampagnen des IS trifft. Lediglich die Kurden halten unter großen Opfern und mit kleiner Unterstützung Deutschlands stand.
David Ignatius, prominenter außenpolitischer Kommentator der Washington Post, stellte nach dem Fall Ramadis fest, dass eine Säule der US-Strategie im Irak immer noch nicht stehe: die Bewaffnung der sunnitischen Stämme im Irak (19.5.2015). Insgesamt rät Ignatius der Obama-Regierung dazu, an der derzeitigen Strategie festzuhalten. Obama müsse Druck auf den irakischen Premier Haider al-Abadi ausüben, dass die Bewaffnung der sunnitischen Stämme trotz aller Bedenken der schiitischen Mehrheit im Parlament voran gehen müsse – sonst drohe dem Irak eine dauerhafte Spaltung.
Das Interesse am IS und der Frage seiner Bekämpfung schlägt sich in mehreren neuen Büchern und einer Vielzahl von Zeitschriftenartikeln nieder. Graeme Wood, ein Journalist des Magazins The Atlantic, hat sich darangemacht, die Essenz des Phänomens IS zu beschreiben (März 2015). Um den IS zu verstehen, müsse man die „intellektuelle Genealogie“ dieser extremistischen Bewegung nachvollziehen. Anders als Al-Kaida sei der IS eine unmittelbar apokalyptische Sekte, die die Umsetzung der Forderungen und Maßgaben des Propheten Mohammed als unmittelbaren Auftrag begreife. Deshalb stehe beim IS auch nicht der Kampf gegen die USA im Vordergrund, sondern in direkter Nachfolge Mohammeds die Etablierung eines territorialen Kalifats, eines staatsähnlichen Gebildes. Dort sollen Muslime dem wahren Glauben huldigen können. Grenzen werden nicht anerkannt, die Scharia wird mit Gewalt verbreitet. Anders ausgerichtete oder nicht unterwürfige Muslime werden vernichtet. Mit einer Rückkehr in die Rechtswelt des 7. Jahrhunderts würde dann früher oder später die Apokalypse herbeigeführt, die Endschlacht zwischen Gut und Böse.
Darin sieht Wood einen grundlegenden Unterschied zu Al-Kaida. Das Terrorunternehmen Bin Ladens sei dezentral und darauf fixiert, den USA und dem Westen zu schaden. Das IS-Kalifat sei an ein Territorium gebunden, um Gleichgesinnten Zuflucht zu bieten, und es sei ideologisch noch weitaus rigoroser als Al Kaida. Das aber, so schlussfolgert der Autor, sei auch die Achillesferse des Islamischen Staates. Denn dieser sei an die territoriale Existenz gebunden und auf dauernde Expansion angelegt.
Doch der klaren ideologischen Analyse folgt eine eher vage Politikempfehlung. Eine Möglichkeit, den IS zu vernichten, sei eine massive amerikanische Militärinvasion in Syrien und im Irak. Offensichtlich glaubt daran auch der Autor nicht. Weder gebe es dazu den politischen Willen der Obama-Regierung noch nähre die letzte große Irak-Invasion die Hoffnung, dass eine solche Aktion diesmal erfolgreich verlaufen würde.
Wood empfiehlt mehr oder weniger das, was die Obama-Regierung ohnehin macht: eine Strategie des Durchwurstelns. Man müsse den IS in einem dauernden Zermürbungskrieg mit Luftangriffen sowie der Lieferung von Waffen an seine Gegner und dessen Training ausbluten. Der IS werde von alleine zugrunde gehen, weil er nicht in der Lage sein werde, seine Heilsversprechen einzulösen. Doch auch Graeme erkennt an, dass dies nicht mehr als eine Hoffnung ist – und ebenso gut in einer Katastrophe enden kann, nämlich mit der Eroberung von Bagdad und Damaskus. Die humanitäre Katastrophe, die mit der IS-Herrschaft über derzeit acht Millionen Menschen einhergeht, kommt noch hinzu.
Der Autor spiegelt damit die Dilemmata der Obama-Regierung wider: der Unwille zu größerem militärischen Engagement, das Unbehagen am Erfolg des IS, das Schönreden der Situation am Boden, verbunden mit der vagen Hoffnung, dass sich irgendwann alles zuungunsten des IS wenden werde. Man erkennt eine außenpolitisch zur Passivität neigende Präsidentschaft, die sich dem Ende zuneigt.
Der ehemalige stellvertretende Sicherheitsberater unter Bush und ehemalige Botschafter im Irak unter Obama, James F. Jeffrey, repräsentiert diese Ambivalenz im außenpolitischen Establishment. Obama stelle nicht die nötigen Mittel zur Verfügung, um das strategische Ziel, die Zerstörung des IS, zu erreichen. Im Interview mit CNN verlangte Jeffrey zwar die Entsendung von Bodentruppen (10 000 Mann seien nötig), kurz zuvor hatte er jedoch in einem Artikel für Foreign Affairs (März/April) die dauerhafte Wirksamkeit von Guerillabekämpfung grundsätzlich infrage gestellt.
Militärisch könnten die USA Guerillakonflikte für sich entscheiden, aber der politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufbau müsse irgendwann in die Hände der lokalen Kräfte gelegt werden. Und dann passiere, so Jeffrey, was im Irak nach 2011 passiert sei: Die irakische Regierung sei zum bloßen Klientelinstrument der schiitischen Mehrheit verkommen, die Erfolge des amerikanischen Anti-Guerilla-Krieges nach 2007 seien verspielt worden.
Doch eine dauerhafte Unterstützung für derlei Interventionen gebe es nicht in der amerikanischen Öffentlichkeit. Was bleibe, sei eine Strategie der Eindämmung, der Schadensbegrenzung. Man solle zunächst die lokalen Kräfte unterstützen. Wenn dies nichts helfe und die Guerilla siege, dann müsse man den Konflikt eindämmen und die Alliierten in der Region stärken. Die Frage, was die dauerhafte Existenz eines solchen IS-Terrorstaats für die Stabilität der Region bedeuten würde, lässt Jeffrey allerdings unbeantwortet.
Strategische Zurückhaltung
Einen Weg zwischen Indifferenz und Resignation suchen drei Autoren in der Online-Ausgabe von Foreign Affairs (Robert A. Pape, Keven Ruby und Vincent Bauer: „Hammer and Anvil. How to Defeat ISIS, 2.1.2015). Die Autoren halten eine massive US-Boden-invasion für unrealistisch und kontraproduktiv, reine Luftschläge dagegen für ineffektiv und schlagen vier politische bzw. militärische Schritte vor. Zunächst müsse die militärische Ausweitung des IS eingedämmt werden – erst im Irak; in Syrien sei dies noch lange nicht in Sicht. Vor Erbil, vor Kobane und vor Bagdad sei es gelungen, den Vormarsch des IS mithilfe amerikanischer Luftschläge aufzuhalten. Deren Effektivität müsse jedoch mit Spezialkräften als Feuerleitbeobachtern erhöht werden, es bedürfe nur weniger 100 US-Truppen am Boden.
Dann müsse ein Autonomieabkommen der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad mit den sunnitischen Stämmen geschlossen werden, ähnlich dem Status der Kurden. Das wird nicht einfach, wäre aber mit Druck seitens der USA denkbar. Die regulären, schiitischen Truppen hätten hinlänglich gezeigt, dass sie nicht bereit seien, für die sunnitischen Gebiete zu kämpfen; deshalb müssten die Sunniten den Kampf übernehmen. Als nächster Schritt müssten die Luftschläge der US-geführten Koalition ausgedehnt werden, sodass eine strategische Verstärkung des IS im Irak immer schwieriger würde. Dann sei der Weg frei für die einzige Kraft in der Region, die einen Anreiz und die Legitimation habe, den IS zurückzuwerfen: die sunnitischen Stämme in den Provinzen Anbar und Niniveh.
Die Autoren sagen, ihr Plan sei nicht perfekt. Aber er sei eine pragmatische Herangehensweise an ein ansonst fast unlösbares Problem. Die Einnahme Ramadis durch den IS hat gezeigt, wie akut das Problem ist. Der Plan setzt allerdings voraus, dass die Obama-Administration auf Konfrontationskurs mit der schiitisch geführten Regierung in Bagdad geht. Doch das ist problematisch, denn die Obama-Administration will den Iran, die Schutzmacht der schiitischen Regierung in Bagdad, nicht verärgern. Die einzige wirkliche außenpolitische Priorität Obamas ist der Nukleardeal mit dem Iran. Und diese Eindimensionalität der Außenpolitik Obamas steht einem kraftvolleren Engagement der USA im Irak im Wege.
Aaron David Miller, Wissenschaftler am Woodrow Wilson International Center, erklärt die Not zur Tugend (foreignpolicy.com, 22.5.2015). Die Obama-Regierung mache genau das, was man in einer größtenteils dysfunktionalen Region machen könne: Man könne hier und da an kleineren Stellschrauben drehen, aber keine massive Veränderung der Lage bewirken. Die Debatte müsse über die Frage hinausgehen, ob der Irak-Krieg an sich oder der übereilte US-Abzug die Wurzel allen Übels sei. Miller stellt die rein rhetorische Frage, ob es eine Alternative zum Durchwursteln gebe. Die Elemente dieses Durchwurstelns sind klar: vereinzelte Anti-Terror-Kommandoaktionen (wie der geglückte Anschlag auf einen Stellvertreter des „Kalifen“ al-Bagdadi), Unterstützung lokaler Kräfte (wie der Kurden), Luftschläge sowie das Beharren auf politischen Reformen in einem Umfeld, das vom sunnitsch-schiitischen Schisma und dem Einfluss des Iran geprägt ist. Eine massive Invasion mit US-Bodentruppen sei nicht sinnvoll: „Diesen Film haben wir schon einmal gesehen.“ Millers These: „Wir können und wir werden das nicht reparieren.“ Die USA sollten sich darauf beschränken, die Verhältnisse zu managen, so gut es geht – die Suche nach stabilen Lösungen sei für die nächsten Jahre sinn- und erfolglos: „Think outcomes, not comprehensive solutions.“
Doch selbst wenn man Millers strategische Zurückhaltung als Leit-faden akzeptiert, wird amerikanisches Engagement in der Region vonnöten sein. Wie es aussieht, wenn sich die USA komplett heraushalten, kann man derzeit in Syrien beobachten.
Dr. Marcus Pindur ist USA-Korrespondent des Deutschlandradio.
Internationale Politik 4, Juli/August 2015, S. 126-129